Bücherwurmloch

Giuliano Musio: Wirbellos

„Ich müsste eine letzte Idee haben. Eine einzige geniale Idee, an die niemand zuvor gedacht hat“
Als Martin ein Kind ist, kann er nicht lügen. Das amüsiert seine Mitschüler und Eltern sehr, und sie nutzen es aus: Immer ist er derjenige, dem Fragen gestellt werden und der alles verrät. Seinen einzigen Freund Oskar trifft er jeden Tag, sie haben einen Geheimweg und vertrauen einander. Dann beschließt Oskar, Martin das Lügen beizubringen – doch dabei gehen die beiden Buben zu weit. Und noch als Erwachsener versucht Martin, auszugleichen, was damals geschehen ist. Dazu macht er sich an die wesentlich ältere Valerie heran, die er nicht einmal attraktiv oder interessant findet. Aber sie steht in Zusammenhang mit dem Geheimnis, das er mit sich herumträgt.

Giuliano Musio hat ein Gespür für das Seltsame. Er erzählt keine Geschichten, die jeder erzählt, ganz in Gegenteil: Bei seinen Romanen kann man sich nicht einmal annähernd vorstellen, was darin passieren könnte. Das macht sie so interessant und originell, führt aber auch dazu, dass man sie nicht ohne Stirnrunzeln lesen kann. In Wirbellos geht es also um einen, der sprichwörtlich wirbellos ist, weil er kein Rückgrat hat, es geht um Täuschung und um die Fähigkeit zu lügen, um ein vertuschtes Verbrechen und die Frage, wie man eine schwere Schuld begleichen kann. Und zudem liegt Bern in diesem Buch am Meer.

Der Schweizer Autor, der mit seinem Debüt Scheinwerfen einen herausragenden Roman vorgelegt hat, den ihr unbedingt lesen solltet, hat einen Protagonisten erschaffen, der ambivalent ist, und das macht ihn menschlich. Er hat etwas Schlimmes getan, er verhält sich wie ein Arsch, er ist berechnend und unnahbar und egozentrisch, zugleich aber versucht er so verzweifelt, alles wieder gut zu machen, dass man geneigt ist, letztlich doch mit ihm zu fühlen. Denn dieses Sühnen, nach dem er sich sehnt, diesen Ablasshandel, den er mit sich selbst eingeht, der funktioniert überhaupt nicht. Die Geschichte ist eine Herausforderung in jeder Hinsicht, und sie steigert sich im letzten Drittel zu einem fast schon amerikanisch-waghalsigen Finale. Die Sache ist aber: Ich habe nicht aufgehört zu lesen, und das liegt an Giuliano Musios Sprache. Er platziert alles dort, wo es sein muss, und das ist nicht so simpel, wie es klingt, es ist sehr schwer. Dies ist ein Roman, der den Leser auf jeden Fall aufwirbelt.

Wirbellos von Giuliano Musio ist erschienen bei Luftschacht (ISBN 978-3-903081-38-3, 464 Seiten, 26 Euro)

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