„Es gibt kein Gesetz, das den Menschen verbietet, einander zu hassen“
Lawrence Newman fühlt sich sicher. Er hat ein ganz gutes Leben, er ist Personalchef in einer großen Firma und überwacht die Stenotypistinnen. Er ist kein empathischer Mensch, als nachts eine Frau vor seiner Wohnung attackiert wird, kümmert er sich nicht weiter darum und kommt gar nicht auf den Gedanken, ihr zu helfen. Doch mit dieser Sicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen, niemals in Gefahr geraten zu können, ist es plötzlich vorbei, als Lawrence immer stärkere Sehprobleme hat und deshalb eine Brille braucht. Mit dieser Brille sieht er nämlich auf einmal aus wie ein Jude. Zumindest empfinden das die Leute so, und Lawrence gerät aufgrund dieser vermeintlichen Kleinigkeit, aufgrund dieses Eindrucks, den er nun erweckt, mit einem Mal in größte Bedrängnis. Man begegnet ihm mit Abscheu und Verachtung, er verliert seine Stellung und sein Ansehen – und man trachtet ihm sogar nach dem Leben.
Nun gut, dachte er, ich könnte ihn überzeugen, dass ich kein Jude bin. Ich könnte sogar so weit gehen, ihm meinen Taufschein zu bringen. Nun gut. (…) Doch er wusste, dass er selber damals in seinem gläsernen Büro keinerlei Beweise, keinerlei Dokumente, keinerlei Worte als Argument gegen des Aussehen eines Gesichts akzeptiert hätte.
Antisemitismus in Amerika: Das ist für uns Europäer ein eher unbeschriebenes Blatt. Wir wissen Bescheid, wir sollten Bescheid wissen über den Zweiten Weltkrieg, über die Ausgangssituation in Österreich und Deutschland, und die Geschichten, die wir hören, enden meist, im Glücksfall, damit, dass jüdischen Menschen die Flucht in die USA gelungen ist. Doch was uns nicht klar ist: Diese Geschichten, die waren damit ja gar nicht zu Ende. Und: In Amerika wollte diese Menschen eigentlich auch niemand haben. Davon erzählt der Dramatiker Arthur Miller – einst Ehemann von Marilyn Monroe und 2005 verstorben – in diesem seinem einzigen Roman, der 1945 erschienen ist. Für sein Stück Tod eines Handlungsreisendenbekam er 1949 den Pulitzerpreis, auch Die Hexen von Salemstammt aus seiner Feder. In Fokussetzt er einen beliebigen Mann, einen 08/15-Protagonisten einer seltsamen Situation aus: Durch etwas so Banales wie eine Brille bekommt er ein vermeintlich jüdisches Aussehen, und dadurch kann der Schriftsteller bestens analysieren, was das macht mit einem Menschen, wie stark optisch geprägte Vorurteile sind, wie hilflos jemand ist, der sich diesen Vorurteilen ausgesetzt sieht, wie schnell er sämtliche Privilegien verliert und letztlich auch, wie stark ausgeprägt ebenjener Antisemitismus in Amerika war. Das zu lesen, ist erschütternd.
Sein Leben lang hatte er diese Abneigung gegen das Judentum mit sich herumgetragen, ohne sie allzu ernst zu nehmen. Es war nicht wichtiger als ein Widerwillen gegen gewisse Nahrungsmittel.
Das ist eine sehr bezeichnende Aussage, die auf den Punkt bringt, wie stark der Antisemitismus in den Menschen verankert ist – ohne dass sie dem jedoch Beachtung schenken. Lawrence Newman muss sich erst damit auseinandersetzen, als er sich persönlich damit konfrontiert sieht. Und genau darin liegt die Stärke des Romans: Einer wird vom Mitläufer zum Ziel, einer wird vom Teil der Masse zum Exponierten. „Heute fragt man sich unweigerlich, ob es je wieder zu einer Situation kommen könnte, wie sie im Roman beschrieben wird, und die Antwort kennt niemand“, heißt es im Vorwort. Und ich wünschte, sagen zu können, die Antwort lautet Nein, aber wir wissen alle, dass das leider eine Lüge wäre.
Fokus von Arthur Miller ist in dieser wunderschönen Ausgabe mit Holzschnitten von Franziska Neubert erschienen bei der Büchergilde.