„Ich spüre mich nicht. Ich spüre meine Grenzen nicht. Ich weiß nicht, wo ich aufhöre“
„Der frühe Morgen war die einsamste Tageszeit. Der ganz frühe Morgen, wenn es im Sommer gerade hell wurde und die ersten Vögel vereinzelt gegen den Schlaf aufzwitscherten, wenn im Winter noch alles still war und er aus seinem intensiven Traum erwachte.“
Das Träumen wird für Dave zum Thema, als er immer seltsamere und intensivere Träume hat, die ihn auch am Tag beschäftigen. Er, der als Musiker gescheitert ist und sich sein Geld als frustrierter Lehrer verdient, er, der drei Kinder hat, von denen das Älteste nur noch vor dem Computer hängt und die Schule schwänzt, er, dessen Frau Karriere gemacht hat als Ärztin – und der nicht so genau weiß, wie es weitergehen soll mit ihm. War das alles? Was kann, was will er noch erreichen? Und wie viel von seiner Antriebslosigkeit liegt an seinen depressiven Schüben? Das sind Fragen, die in Daves Leben auftauchen, aber es gibt auch konkretere: Wer ist die Frau in seinen Träumen, was hat das alles mit seinem Vater zu tun, zu dem er kein gutes Verhältnis hat, und was ist damals in New York geschehen?
„Ich hasse es, mich nicht an meine Träume zu erinnern, sagte Dave mit Verve, es ist schrecklich, einzuschlafen und in dieses Nichts zu fallen, das nach dem Aufwachen nicht mehr ist als ein Loch im Bewusstsein.“
Deshalb versucht Dave, seinen Träumen auf die Spur zu kommen – und der Geschichte seiner Familie.
Ruth Cerha ist einfach großartig. Ich verehre sie schon lange, weil sie so wunderbare Bücher wie Kopf aus den Wolken und Bora. Eine Geschichte vom Wind geschrieben hat, und seit ich sie persönlich kenne, verehre ich sie noch mehr. Letztes Jahr im November, als ich zur ersten Vertreterkonferenz meines Lebens geladen war, um meinen Roman vorzustellen, hat Ruth mich unter ihre Fittiche genommen, und als wir diesen März in Leipzig waren, hatten wir trotz sibirischer Kälte und Zugausfall „a Gaudi“, wie wir in Österreich sagen, unsere Bücher haben wir auch getauscht, deswegen hat meine Ausgabe von Traumrakete eine sehr schöne Widmung – und ich konnte gleich auf der Heimreise anfangen zu lesen.
Träume sind, finde ich, schwer zu beschreiben, wenn man selbst einen Traum erzählen möchte, merkt man gleich, dass man das nicht so rüberbringen kann, wie es war, und wenn man einen Traum erzählt bekommt, kann man meistens nicht folgen, es nicht nachempfinden. Umso mehr Respekt habe ich davor, dass Ruth sich ausgerechnet an dieses Thema herangetraut – und es mit Bravour gemeistert hat. Daves Träume, die einen Großteil des Buchs ausmachen, sind tatsächlich surreal und der Realität enthoben, dabei aber nie zu wirr oder unverständlich. Sie sind wichtige Anhaltspunkte bei der Suche, auf die man sich als Leser gemeinsam mit Dave macht, der Suche nach Antworten. Ruth Cerha bleibt dabei stets sehr nah dran an ihrem Protagonisten, durchleuchtet ihn vollständig, macht ihn sicht- und greifbar, lässt ihn nie aus den Augen. Besonders gelungen finde ich ihre Beobachtungen, über den Alltag als Familienvater, als Lehrer, der sich etwas anderes vorgestellt hat im Leben, als Ehemann, als Träumender. Sie sind treffsicher und am Punkt.
„Dave sah ihr nach mit diesem auszehrenden Bedauern in der Brust, das man nur seinen eigenen Kindern gegenüber empfindet, eine ganz spezifische Kombination aus bedingungsloser Liebe, nagenden Schuldgefühlen und äußerster Hilflosigkeit.“
Ich weiß, wie sehr Ruth New York liebt, und man merkt es auch im Buch an den detaillierten Beschreibungen, die die Stadt lebendig machen – und noch mehr zu einem Sehnsuchtsort, den ich endlich besuchen will. Ich weiß auch, dass immer dann, wenn ein Roman sich sehr leicht und flüssig liest, sehr viel Arbeit dahintersteckt – was man aber, und das ist die Kunst, nicht merkt. Ich freue mich schon, und das ist wohl das Beste, was ich sagen kann, auf Ruths nächstes Werk.
„Aber es war so ein wunderbares Gefühl, ohne Gewicht zu sein, sagte er schließlich. Diese Leichtigkeit.“
Traumrakete von Ruth Cerha ist erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt (ISBN 9783627002497, 480 Seiten, 24 Euro).
Da bin ich über Ihre Begeisterung und über die der meisten anderen Rezensionen, die ich gelesen habe, sehr erstaunt und frage mich, warum der Hype?
Wieder ein Buch über die Midlifekrise des frustrierten depressiven Manns aus der Mittelschicht.
Gut, das Interessante daran ist, daß es von einer Frau geschrieben wurde. Aber das hat auch schon Marion Poschmann https://literaturgefluester.wordpress.com/2017/09/30/die-kieferninseln/ so getan und ich war begeisterter.
Ich habe ja gerade bei Ihnen gelernt, daß ein Buch berühren und etwas Neues noch nie dagewesenes enthalten muß.
Aber über die frustrierten mittelalten Männern, die von Sex teräumen und im Leben gescheitert sind, habe ich beim letzten dBp mindestens fünf oder sechsmal gelesen und das Holocausthema die jüdischen Wurzeln sind ja auch nicht neu.
Gut, das Neue sind hier die Träume, denn eigentlich ist es ja ein Sachbuch über das luzide Träumen in Romanform und das habe ich, die ich vom Brotberuf Psychologin und Psychotherapeutin bin, eher langweilig, beziehungsweise verwirrend gefunden, daß es da seitenweise um Trauminhalte geht.
Genervt hat mich, daß das Buch passagenweise in Englisch geschrieben war und die Stelle, wo er im Traum einen Orgasmus hat und seine Frau erwischt ihn dabei, habe ich übertrieben und geschmacklos gefunden.
Da war mir dieser Dave, der kleine Loser, hat nicht auch kürzlich Hader mit “Wilde Maus” einen Film über einen ausgebrannten Musiklehrer gedreht, sehr unsympathisch.
Die berührendsten Stellen in dem Buch, die mich sehr beeindruckt haben, waren die über die Kinder, wo die zwei älteren erstaunlich logisch und viel vernüftiger, als ihre Eltern sind sind und dann die, wo er in der Musikstunde über New York erzählt und dann die Kinder dadurch begeistert, daß er sie in der U-Bahn filmen läßt.
Das war jetzt meine “Motzerei” über einen Hype, den ich nicht verstehe und jetzt geht es auf zu Ihrem Buch und da bin ich, wie schon beschrieben, sehr gespannt, wie es da mit meinem “berührt sein werden” bei mir ist?
https://literaturgefluester.wordpress.com/2018/06/03/traumrakete/#respond