Gut und sättigend: 3 Sterne

Daniel Woodrell: Winters Knochen

Nacktes Überleben
„Wolken schienen an den weit entfernten Bergen zu zerbrechen, dunkle rollende Massen, die von Gipfeln zerrissen wurden und den blauen Himmel grimmig befleckten. Frostiges Nass fiel, nicht als Schneeflocken oder Regen, sondern in winzigen weißen Knäueln, die beim Aufprall zu Tropfen zerstoben und in plötzlichem Glanz auf dem Schnee gefroren. Der Wind, der sie brachte, rüttelte am Wald, ließ die Äste gegeneinanderschlagen, und dieser wild klopfende Lärm trug weit. Ab und zu gab ein zitternder Ast nach, brach vom Stamm und fiel mit einem letzten Knurren zu Boden.“ Derart unwirtlich präsentiert sich die Welt dort, wo die 16-jährige Ree Dolly mit ihrer weggetretenen Mutter und ihren kleinen Brüdern lebt, im Hinterland von Missouri. Die Dollys sind bekannt für ihre Fähigkeiten als Meth-Köche und für ihre Gewalttätigkeit. Rees Vater Jessup ist ebenfalls Meth-Spezialist und ein Junkie, und er ist verschwunden. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, doch er hat das Haus der Familie für seine Kaution verpfändet, und wenn er seine Haftstrafe nicht antritt, steht Ree mit der geisteskranken Mutter und den Buben mitten im härtesten Winter vor dem Nichts. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als ihren Vater zu suchen – was dazu führt, dass die gewissenlosen Menschen der Gegend, statt ihr zu helfen, sie zum Schweigen bringen wollen …

Winters Knochen von Daniel Woodrell ist ein Buch der Extreme, trocken wie ein Bachbett, an dessen Ufer man verdurstet, und lieblos wie ein Schlag ins Gesicht. Davon steckt Ree auf ihrer Suche einige ein, denn in der abgefuckten Gegend, in der sie aufwächst, schreckt absolut niemand davor zurück, zuzuschlagen oder gar zu töten. Es herrscht Hunger, die Kälte ist unbesiegbar, Zukunftsperspektiven gibt es keine. Eilig zusammenverheiratete Teenager hausen mit ihrem ungewollten Nachwuchs im Wohnwagen. Ree kann nicht in die Schule gehen, weil sie sich um ihre Brüder und ihre unfähige Mutter kümmern muss, und ihr größter Traum, von dort fort und zur Armee zu gehen, wird sich wohl nie erfüllen. Der US-amerikanische Autor Daniel Woodrell erzählt von einem Ort, an dem es zugeht wie in der Dritten Welt, obwohl er sich mitten im wohlständigen Amerika befindet. Hier schert sich niemand um nichts, es geht ums nackte Überleben.

Protagonistin Ree kann es sich nicht leisten, eine 16-Jährige zu sein, die sich ihrem Alter entsprechend jugendlich-pubertär verhält. Auf ihren Schultern lastet all die Verantwortung, die die egoistischen Erwachsenen achtlos fallengelassen haben. Während ich mit ihr durch das verschneite, leblose Tal stapfe, kommt es mir vor, als sei ich an einem der Enden der Welt gelandet, wo Gerechtigkeit, Hoffnung und Schönheit niemals hinkommen. Das Leben hier ist Dreck. Sehr direkte, knallharte Worte findet Daniel Woodrell für die Geschichte rund um Verrat, Drogen, Aussichtslosigkeit und Verlust. Sein sparsamer, reduzierter, alltagssprachlicher Stil passt perfekt zum Inhalt. Es ist logisch, dass Winters Knochen mich deprimiert, denn es ist nichts Freudvolles an diesem Roman – weil es eben im Leben vieler Menschen keine Freude gibt, weil nicht einmal und schon gar nicht die Drogen sie glücklich machen können. Und es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass ich dieses trostlose, dunkle Elend am Ende des Buchs verlassen kann. Sehr beklemmend, inhaltlich mächtig, ein Buch der lauten Töne und Drohungen, in dem die leise Traurigkeit am meisten brüllt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist düster und passt gut, aber wo ist der Schnee?
… fürs Hirn: die Ausweglosigkeit mancher Orte, die so wirken, als führte keine Straße von ihnen weg, sondern maximal im Kreis herum.
… fürs Herz: Ree und ihre selbstlose Tapferkeit im Kampf gegen das beschissene Leben, um das sie nicht gebeten hat.
… fürs Gedächtnis: die Eindringlichkeit des Buchs.

0 Comments to “Daniel Woodrell: Winters Knochen”

  1. Trotz seiner Trostlosigkeit interessiert mich dieses Buch sehr. Man muss dafür natürlich den richtigen Augenblick finden, damit es einen nicht zu sehr deprimiert.
    Hast Du auch die Verfilmung gesehen?

    LG, Katarina 🙂

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