“Mach nie die Tür auf, lass keinen rein …”
“… ist erst die Tür auf, dann ist’s zu spät” – das sang die EAV im Lied Ding Dong in den 1990er-Jahren, und ich habe es bei der Lektüre von Evelyn Grills Winterquartier im Ohr. Denn es trifft die Situation der 42-jährigen Änderungsschneiderin Roswitha, die jemanden in ihre Wohnung lässt – und nicht mehr loswird. Aufgrund einer Kinderlähmung ist Roswitha gehbehindert, und für ihre Eltern, die Schwester, das ganze Dorf und auch sie selbst war immer klar, dass Roswitha nie einen Mann finden würde. Doch dann steht auf einmal einer vor der Tür: Max, ein staubbedeckter Bauarbeiter mit schlechten Zähnen. Er gehört zum Bautrupp, der an Roswithas Haus die Fassade erneuert. Sie seien beide allein, sagt er, und was sie davon halte, ihn zu heiraten? Roswitha erbittet sich Bedenkzeit – und lässt Max schon am nächsten Tag bei sich einziehen. Von Hochzeit ist bald keine Rede mehr, Roswitha sieht sich zur Putzfrau und Köchin degradiert, Max ist respektlos und grob – und Hilfe ist von außen keine zu erwarten.
Ist ein schlechter Mann immer noch besser als gar keiner? Diese Frage stellt – und beantwortet auf seine Weise – der Roman Winterquartier der österreichischen Autorin Evelyn Grill. Roswitha ist ein gequältes Wesen mit einer von der Einsamkeit gepanzerten Seele. Das einzig Schöne an ihr, das sie selbst lieben kann, sind ihre eleganten Hände. Kaum wird Max als potenzieller Gatte bei ihr vorstellig, lässt Roswitha ihn in der Hoffnung auf ein bisschen Glück in ihr Leben – und wird erneut getreten. Max nimmt Roswithas Dienste in jeder Hinsicht in Anspruch, und die hat nie gelernt, für die eigenen Wünsche einzustehen: “Zwar fühlt sie, daß sie etwas ändern, sich widersetzen sollte, doch ist sie einerseits zu niedergeschlagen, um etwas zu tun, andererseits beruhigt sie sich mit dem Gedanken, daß alles ja nur ein Mißverständnis gewesen sei.” Und so steigt in klassischer Manier der Druck auf Roswitha so lange an, bis er irgendwohin entweichen muss …
Winterquartier ist ein unangenehmes Buch über einen schwachen Menschen, der stets ausgenutzt und verachtet wird. Eindrucksvoll zeigt Evelyn Grill, wie unsere Gesellschaft tickt, wie schnell jemand auf der Strecke bleibt, wie wenig Anteil Umstehende nehmen, wenn Türen sich schließen und man so einfach wegschauen kann. Dafür ist das österreichische Dorf, in dem die Handlung spielt, exemplarisch. In diesem schmalen Büchlein geht es um häusliche Gewalt, um verrohtes männliches Gebärden, um Opferhaltung. Roswitha ist ganz allein mit ihren Gefühlen, ihrem Kummer, ihren Sehnsüchten. Das Ende erscheint mir ein wenig hysterisch, ist aber die logische Schlussfolgerung der Ereignisse. Winterquartier ist ein gut geschriebenes Buch über eine niedergedrückte Frau, die den falschen Mann ins Haus lässt, und eine Studie einer gepeinigten Seele.
Lieblingszitat: Da wurde sie sich selbst zum Käfig, bis an die Stäbe vollgestopft mit Verlassenheit.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein wunderschönes Foto auf dem Cover, das mir insgesamt aber zu frauenbuchmäßig erscheint.
… fürs Hirn: die Hilflosigkeit derer, die ausgegrenzt werden, die Opfertypisierung.
… fürs Herz: das Mitleiden mit Roswitha, besonders nachts.
… fürs Gedächtnis: die dramatische Schlussszene.