Der Traum vom Verschwinden und die Realität
“Der tote Bahndamm war das Beste, was es in Villeblevin gab. Während der Sommerferien glich ihm der ganze Ort. Alles war ausgestorben, öde und leer. Beamte und Bauern waren dageblieben, alle anderen aber verreist ans Meer. Es schien nur zwei Kinder in Villeblevin zu geben, Maurice und mich.” Kein Wunder, dass die beiden Jungen an der “Maschine des großen Verschwindens” bauen. Doch an dem Tag im Jahr 1960, an dem sie zum Einsatz kommt, geschieht ein schwerer Autounfall, bei dem der Literat und Nobelpreisträger Albert Camus ums Leben kommt. Nichts ist nach diesem Tag so wie zuvor – und jahrzehntelang haben die Schulfreunde keinen Kontakt. Nun ist Raymond alt und versucht gerade, sich von einer Herzerkrankung und dem Tod seiner geliebten Frau Veronique zu erholen, als ihm ein Brief von Maurice ins Haus flattert. Maurice, der “Junge, der mit Kopf und Kragen in Wunderdingen steckte und so stolz auf seine hellblauen Schuhe war”, Maurice, der Raymond verraten hat. In seinen Briefen, von denen weitere folgen, rekonstruiert er die Ereignisse des Unfalltages – und fordert Raymond heraus, sich endlich der Vergangenheit zu stellen.
Im Zusammenhang mit allem Französischem wird gern von Leichtigkeit und Esprit gesprochen – Mirko Bonnés Roman Wie wir verschwinden besitzt davon allerhand. Der preisgekrönte deutsche Autor schreibt in einem angenehmen, intelligenten Plauderton, er kreiert einen schrullig-freundlichen Protagonisten und führt geschickt die verschiedenen Handlungsstränge zusammen. In diesem Buch ist demnach alles ganz einfach so, wie es sein soll. Es geht darin um die Erinnerungen an eine Kinderfreundschaft, um Wehmut, Eifersucht und die Frage, ob man die Menschen in seinem Leben tatsächlich so gut kennen kann, wie man glaubt. Zudem verbindet Mirko Bonné die Ereignisse rund um Raymond und Maurice mit dem Unfalltod von Albert Camus, den er kapitelweise ganz nah, glaubhaft und detailreich, aber dennoch fiktiv nacherzählt.
38 Jahre nach dem Unglück liegt Maurice im Sterben – und auch wenn Raymond nichts mit ihm zu tun haben will, wühlt ihn die unerwartete Kontaktaufnahme sehr auf. Überhaupt macht es ihm das Schicksal im Alter nicht leicht: Veronique fehlt ihm, seine erwachsenen Töchter Penelope und Jeanne kämpfen mit der Suche nach dem Glück und Ehekrisen, seine Nachbarin geht ihm auf die Nerven. Aber Mirko Bonné hat bei allen Herausforderungen auch positive Überraschungen für seinen Helden parat und führt ihn einem versöhnlichen Ende entgegen. Sprachlich brilliert er mit einem ruhigen, steten Erzählfluss, inhaltlich mit Lebensklugheit und Witz. Wie wir verschwinden weckt die Sehnsucht nach der eigenen Kindheit und ihren Abenteuern und zeigt, dass einem gerade die zerbrochenen Freundschaften oft am längsten im Gedächtnis bleiben. Trotz Sentimentalität und der Thematisierung des Todes ist dieses Buch lebensfroh, weise, aber nicht angeberisch. Ein Highlight!
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein Cover, das das Verschwinden ganz bildlich umsetzt mit einem unendlich weiten Horizont.
… fürs Hirn: das fiktive Erleben von Albert Camus’ letzten Minuten.
… fürs Herz: die Trauer Raymonds um seine Frau, der er sein ganzes Leben lang treu war.
… fürs Gedächtnis: das Gefühl, wie es war, ein Kind zu sein und große Träume zu haben.