Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Immer habe ich nah bei Felix gestanden, aber der Fokus war stets auf ihn gerichtet”
“Ich habe mich so lange nicht gemeldet, dass Jakob sich nach mir erkundigt hat. Manchmal ist er wie eine Tante, die nur das Beste will, dabei antiquiert wirkt und fehl am Platze. Seine Sätze werden dann linkisch wie bei anderen Menschen die Bewegungen.” Diese Zeilen liest Jakob im Tagebuch seines Freundes Felix – und sie offenbaren ihm mehr, als er wissen sollte. Felix ist verschwunden, einfach so, ohne Ankündigung, ohne Erklärung, während des Biertrinkens in der Kneipe. Jakob ist verwirrt, verunsichert, kann das Fortgehen seines Freundes aus Kindertagen nicht akzeptieren. Er schleicht sich über Felix’ Exfreundin, die robuste, dicke Manja, in dessen Wohnung ein, stöbert in Felix’ privatestem Besitz, setzt sogar seine Beziehung zu Sara aufs Spiel, die seiner Obsession nichts abgewinnen kann – und verliert sich selbst völlig in seiner Suche nach Felix’ Spuren.

“Ich werde mich konzentrieren müssen, um die Kontrolle zu behalten, sie wiederzuerlangen, wenn ich sie schon verloren habe. Ich werde lesen, von Felix, und an einem Punkt werde ich vielleicht begreifen, dass es nichts zu verstehen gibt. Dann werde ich es hoffentlich gut sein lassen.” Zwei Ich-Erzähler gibt es in Hannes Köhlers melancholischem Buch In Spuren, zwei Freunde, die – bei genauerem Hinschauen – vielleicht gar keine waren. Felix, der sich aus dem Staub gemacht hat, ist nicht anwesend im Roman, seine Stimme hören wir aus seinem Tagebuch, ihn sehen wir durch die Augen von Jakob, der bei seinen Nachforschungen so viel Neues über Felix erfährt, dass er das Gefühl bekommt, ihn gar nicht gekannt zu haben. Weil er blind war für die wahre Persönlichkeit von Felix oder weil dieser sie ihm bewusst verheimlicht, sich ihm nie richtig gezeigt hat? Das ist die Basis dieses Buchs, eine Frage, die uns mit Sicherheit alle in so mancher rätselhaften Stunde verfolgt: Was wissen wir wirklich über die, die wir lieben? Und was geschähe, wenn wir alles erführen?

Zwei junge Männer sind Hannes Köhlers Protagonisten, entspannt, fröhlich, fertig mit dem Studium und halb im Arbeitsleben, befreundet und vermeintlich sorglos. Erst als Felix nicht mehr da ist, sieht Jakob ihn wirklich, liest von seinen Ängsten und Neurosen, seiner Gewalttätigkeit, seinen Gedanken an Flucht. Beklemmend authentisch beschreibt der junge deutsche Autor, wie Jakob sich einnistet in Felix’ Fehlen, wie ihm mit Felix’ Fortgang auch ein Stück von sich selbst abhandenkommt, er findet abgedrehte, ausdrucksstarte Worte für all das, was die Freunde einander nie gesagt haben. In Spuren ist ein fragmentarischer, lyrischer Roman über das Rätsel der Freundschaft, ein einziger Fluss ohne Kapitel, ein verschlingender Strom, in dem man versinken kann und muss. Die Klappentexterin hat mich aufmerksam gemacht auf dieses leuchtende, interessante Buch, das so vielseitig und stellenweise nebelverhangen ist wie die Stadt Berlin, in der es spielt. Sie hat auch ein lesenswertes Interview mit Hannes Köhler geführt, in dem er über das Wesen der Freundschaft spricht und über die Idee zu diesem kraftvollen Roman, den der kleine mairisch Verlag – IndieVerlag für junge Literatur lautet dessen Eigenbezeichnung – publiziert hat.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein helles, verschwommenes, fast schon in Luft aufgelöstes Cover, das mir erst den Eindruck vermittelt hat, der Roman spiele auf dem Land.
… fürs Hirn: die Frage, auf die wir die Antwort gar nicht unbedingt wissen wollen: Was denken unsere Freunde tatsächlich von uns?
… fürs Herz: der Gedanke, wie es hätte sein können, hätten die Freunde sich einander geöffnet, hätten sie wirklich hingeschaut.
… fürs Gedächtnis: die schockierenden Gewaltausbrüche zwischen Jakob und Manja.

In Spuren ist erschienen im mairisch Verlag (ISBN 978-3-938539-18-7, 17,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Mit dem Herz der anderen auf der Zunge
Ein kleiner Bissen mit großer Wirkung: Kurz vor ihrem neunten Geburtstag kostet Rose ein Stück Zitronenkuchen, den ihre Mutter gebacken hat. Und fällt fast vom Stuhl wegen der geballten Sehnsucht, die sie darin schmeckt. Nicht viel besser ergeht es ihr beim Abendessen mit dem “abwärtskreiselnden, sich in Sehnsucht verzehrenden Hühnchen”. Rose gerät in Panik und weiß sich keinen Rat: “Mein Gehirn fühlte sich an wie ein volles Glas Wasser, das ich vorsichtig durch den Flur balancieren musste.” Woher kommen all diese Gefühle im Essen? Warum kann Rose sie plötzlich schmecken? Und wie soll sie diese Begabung wieder loswerden? Ihre liebevolle, aber mit der Suche nach einer erfüllenden Tätigkeit beschäftigte Mutter ist Rose keine Hilfe, ebenso wenig wie der stets abwesend wirkende Vater oder ihr großer Bruder Joseph, ein Freak, der sich sämtlichen Formen menschlichen Miteinanders verweigert. Nur George, Josephs bester und einziger Freund, glaubt Rose, der “Essenshellseherin”, in ihn ist sie schon mit neun Jahren verliebt. Sie werden sich näher kommen, viele Jahre später, doch dem Schicksalsschlag, der dazu führt, zerbricht Roses Familie beinahe endgültig.

Aimee Benders Roman Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen liegt ein originelles Konzept zugrunde: Ein Mädchen kann Stimmungen, Gefühle, Herkunftsorte im Essen erschmecken – und muss lernen, mit dieser unerwünschten Gabe zu leben. Die simple Nahrungsaufnahme wird für Rose plötzlich zur Qual, sie fühlt die Wut der Tomatenpflücker, die Traurigkeit ihrer Mutter, das Leid der geschlachteten Schweine. Sie muss sich von seelenlosem Fastfood ernähren, von maschinell hergestellten Snacks, um nicht ständig Informationen zu erhalten, um die sie nicht gebeten hat. Eine schräge, kauzige Familie hat Aimee Bender entworfen, vier Menschen, die zufällig in einem Haus leben, einander aber nach Möglichkeit ausweichen. Ein Familienleben oder Gespräche finden kaum statt. “Am besten kann ich Dad so beschreiben: Er war ein Mann, der genau wusste, was er wollte, er war intelligent, im Grunde seines Herzens aber ganz einfach und hatte ausgerechnet drei hochkomplizierte Menschen als Familienmitglieder abbekommen: eine Frau, deren Einsamkeit zum Himmel schrie, einen Sohn, dessen Blick so durchdringend war, dass man ihm eine Cornflakesschachtel vor die Nase stellen musste, damit er von einem abließ, und eine Tochter, die nach einem normalen Schulmittagessen eine Viertelstunde spazierengehen musste, um sich davon zu erholen.” Rose ist eine Ausnahmeerscheinung, sie gewinnt die Sympathie des Lesers, sie verleiht dem Buch ihre leicht verzweifelte, kindlich-resignierte Stimme, ihre Beobachtungen geben den Figuren Gestalt.

Merkwürdigerweise kommt Roses Talent im Buch nicht jene Gewichtung zu, die man erwarten würde. Vielmehr steht im Roman wie in Roses Leben ihr realitätsferner Bruder im Mittelpunkt, der vor allem durch verstörende Leblosigkeit glänzt – und ebenfalls eine geheimnisvolle Begabung zu haben scheint. Dies zu wissen, ist sicher gut, bevor man sich an die Lektüre macht, damit keine Enttäuschung aufkommen kann. Aber dass irgendetwas “normal” ist in Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen – das sollte man sich ohnehin nicht erwarten. Dafür aber einen erfrischend anderen Blick auf die menschliche Existenz, die sich bei Aimee Bender nicht an die Naturgesetze halten muss. Die Autorin aus Los Angeles hat einen zauberhaften, melancholischen Roman geschrieben über ein seltsames Mädchen und seine seltsame Familie, der weltweit unter den Kritikern für Furore sorgt. Überraschend, surreal, fantasievoll ist dieses Buch, voll ausbalancierter Formulierungen, geistreicher Einfälle, erfüllt von einer bedrückend-herzergreifenden Atmosphäre – und einer ganz besonderen Traurigkeit.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein gelungenes Cover, sehr schön finde ich den Schatten des Kuchens.
… fürs Hirn: die Überlegung, dass es in Roses – unserer? – Welt kaum Köche, also Menschen, mit guten Gefühlen gibt, frei von Wut und Traurigkeit.
… fürs Herz: der Kuss!
… fürs Gedächtnis: Mein Lieblingszitat: “George zu küssen, war ein bisschen so, wie in flüssigem Karamell zu baden, nachdem man jahrelang mit Reisnudeln überlebt hat.”

Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3827009869, 19,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Deutschlands wichtigste Tage in Comicform
Ein Hoch auf die Zeichenkünste von Isabel Kreitz: Mit Deutschland. Ein Bilderbuch gibt die preisgekrönte Comic-Künstlerin einen völlig neuen Blick frei auf altbekannte Ereignisse. Nicht nur, dass sie Menschen, Mienen, Städte aus ihrer Feder fließen lässt, nein, sie stattet die Bilder und die dazugehörigen Worte auch mit einer ganz besonderen, beißend klugen Ironie aus. 1949 beginnt diese originelle Betrachtung Deutschlands, der Supermarkt, die Heimkehr der Zehntausend, das Farbfernsehen werden ebenso thematisiert wie der Bau der Mauer, die gefälschten Hitler-Tagebücher und der Einzug der Grünen ins Parlament.

Dabei bildet Isabel Kreitz nicht einfach ab, was über diese Meilensteine in der deutschen Geschichte gedacht, gesagt und gewusst wird, sie findet vielmehr einen überraschenden Zugang, zeigt das Geschehnis aus der Sicht einer Nebenfigur, eines Kindes, eines Bundeswehrsoldaten. Das ist absolut genial und hochintelligent gemacht. Um die Pointe zu verstehen, muss man meist über ausreichend Information verfügen. Für mich als Österreicherin offenbaren sich viele interessante Details über mein Nachbarland, mit dem uns diese berühmte Hassliebe verbindet.

Auf plastische Weise – beispielsweise indem sie Kinoplakate, Zeitungsausschnitte und Briefe in ihre Comics einbaut – lässt Isabel Kreitz die letzten 60 Jahre Deutschlands aufleben. Jedem Thema ist eine Seite gewidmet – nicht zu viel und nicht zu wenig, denn die Botschaft wird in nur wenigen Bildern und Worten glasklar vermittelt. In jedem Fall gibt es immer etwas zu entdecken. Toll!

Deutschland. Ein Bilderbuch ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3832196219, 19,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Denn wer ein Herz aus Diamant hat, dessen Tränen sind warm und mächtig wie das Sonnenlicht”
“So kletterten sie alle über die Reling, einer nach dem anderen: der Fragende, der Antwortende, der Leuchtturmwärter, das Rosenmädchen, die kleine Königin mit Frau Margarete im Arm und zum Schluss die blinde weiße Katze. Sie gingen ein Stück in die Richtung, in der sie das Festland glaubten, nur ein kleines Stück, dann blieben sie unschlüssig stehen – ein elendes Häufchen in der dunkelgrün glänzenden Unendlichkeit.” Dies ist das Märchen, das Abel erzählt, ein poetisches, kraftvolles Märchen, in das er die Realität übersetzt. In dieser Realität ist Abel ein 17-jähriger Schüler, der sich ganz allein um seine sechsjährige Schwester Micha – die kleine Königin – kümmert. Im Nacken sitzen ihm das Sozialamt, das Abitur und Michas Vater, dem Neigungen nachgesagt werden, die gefährlich sind für kleine Mädchen. Das Rosenmädchen, das ist Anna, die eines Tages durch einen Zufall Kontakt zu Abel – dem drogenverkaufenden “polnischen Kurzwarenhändler” – aufnimmt. Anna, die aus gutem Hause mit ruhig-liebevollen Eltern kommt, Anna, die noch nie verliebt war und die ihr Herz an Abel verliert. “Kein Stein schien auf dem anderen zu bleiben, seit sie Abel kannte.” Denn Abel, der fantasievolle Märchenerzähler, ist umgeben von einer dunklen Aura, von einem düsteren Geheimnis, das Anna nicht ergründen kann. Er ist erfüllt von einer tiefen Liebe zu Micha, aber seine Welt ist voller Gewalt – und als zwei Morde geschehen, weiß Anna nicht, wem sie trauen kann.

Auf Antonia Michaelis’ Roman Der Märchenerzähler hat mich die Bibliophilin mit einer begeisterten Rezension im Zuge ihrer Entdecker-Challende für Jugendbücher aufmerksam gemacht. Der Oetinger Verlag publiziert wunderbare Kinder- und Jugendbücher, und mit Der Märchenerzähler ist ein besonderer Coup gelungen. Behutsam geht die Autorin mit ihren drei Figuren um, hüllt sie ein in helles Licht – und setzt sie dann in eine grausame, bitterkalte Wirklichkeit, an der sie zersplittern. Mit einem Märchen, mit Worten stemmen sich diese Kinder – Abel, Anna und Micha – gegen den eisigen Wind, der ihnen entgegenpfeift. Als Leser hofft man inständig, alles möge gut enden, und hat zugleich die finstere Ahnung, dass das nicht möglich sein wird. Der Märchenerzähler ist kein nettes, beschauliches Jugendbuch, sondern ein fesselndes, authentisches und sehr düsteres Drama mit starker Sogwirkung. Aufmerksamkeit verlangt Abels metaphorisches Märchen mit Guten und Bösen, mit rettenden Inseln und alles verschlingenden Wellen, mit dem ersehnten Festland, das in der Realität Abels 18. Geburtstag entspricht, der ihm das Sorgerecht für Micha sichern soll. Die brave, naive Anna wird hineingezogen in Abels Außenseiterleben, in seine Abgründe, und verhält sich auch für einen extrem verliebten Teenager arg leichtsinnig, gibt sich auf. Aber Antonia Michaelis hat sehr gut erfasst, wie das Leben schon für die 17-Jährigen ist: nicht im Entferntesten so, wie man es sich vorgestellt hat. Anna kämpft um Abel, kämpft um des Rätsels Lösung, sie wird verfolgt, verletzt, im Märchen hat sie als Rosenmädchen eine helfende Funktion, in Wahrheit ist sie die eigentliche Heldin.
“Was hast du denn auf dem Herzen?”, fragte er. “Nichts”, sagte sie. Er sah sie an. Sie zuckte die schmalen Schultern. Sie war viel schmaler als er, ein Ast im Wind. “Die Welt”, sagte sie.
Ein hervorragend erdachtes, mutiges Buch, voll Vertrauen in die Fähigkeiten lesender Jugendlicher geschrieben. Well done!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
ein wunderschönes Cover, geniale Farbe!
… fürs Hirn: die Auflösung am Ende, die dann doch überrascht – geschickt führt die Autorin den Leser in die Irre.
… fürs Herz: die kleine Micha, die sich an das Märchen klammert und darin in ihrer Kindlichkeit einen Ausweg sieht.
… fürs Gedächtnis: die furchtbare Szene in der dunklen Bootshalle, die man nicht mehr vergessen kann.

Der Märchenerzähler ist erschienen im Oetinger Verlag (ISBN 978-3-7891-4289-5, 16,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Wir lieben genauso wie wir reisen – für kurze Zeitspannen und auf vorgegebenen Wegen”
“Virgile war nicht immer die beste Gesellschaft für sich selbst, aber das Zusammenleben zwischen dem, was er zu sein glaubte oder zu sein wünschte, und dem, was er war, verlief ohne allzu große Auseinandersetzungen.” Bis zu dem Tag, an dem Clara Virgile verlässt – per Nachricht auf dem Anrufbeantworter. An sich schon schlimm genug – aber Virgile kennt gar keine Clara. Hat er sie einfach vergessen? Ist ihm vielleicht entfallen, dass er mit ihr eine Beziehung geführt hat? Leidet er womöglich an einer tödlichen Krankheit? Vorsorglich kündigt Virgile seinen Stromanschluss und lässt sich von seinen Freunden trösten, die auf merkwürdige Weise von seinem angeblichen Liebeskummer erfahren haben und ihm über den Verlust von Clara hinweghelfen wollen. Das genießt er so sehr, dass er die Wahrheit verschweigt. Doch allmählich fragt sich Virgile, wer nun eigentlich verrückt ist: er oder Clara? Seine Psychiaterin weiß keine Antwort. Also bleibt Virgile nur eine Möglichkeit: Clara zu finden.

Virgile ist ein Neurotiker, ein Hypochonder, ein fast schon zwanghafter Mensch, der nur zum Schein am gesellschaftlichen Leben teilnimmt und innerlich vereinsamt. Seine ganze Liebe gilt der Stadt Paris: “Als Virgile mit knapp achtzehn Jahren an der Gare de Montparnasse ankam, hatte er beschlossen, dass Paris das Objekt seiner Liebe sein würde, weil man schließlich seine Liebe irgendwo lassen musste.” Sein Brot verdient Virgile in einer Werbeagentur, und seine Wohnung liegt in einem Haus voller Prostituierter. Virgile hat viele weibliche Freundinnen, in die er einst unglücklich verliebt war. Sein Leben ist geregelt, starr, festgefahren – und dann kommt Claras Nachricht, die alles infrage stellt, ihn nicht mehr loslässt, ihn aufrüttelt. Zum ersten Mal steckt Virgile den Kopf aus seinem Panzer und beschnuppert die Welt. Oder wie er selbst es ausdrückt:
“Ich habe einen Unfall gehabt.” “Aha. Was für eine Art von Unfall?” “Einen Unfall mit der Wirklichkeit.”

Die besten Wochen meines Lebens begannen damit, dass eine Frau mich verließ, die ich gar nicht kannte ist ein feinsinniger, charmant-komödiantischer Roman, der auf einer brillianten Idee basiert: Ein Mann wird von einer Frau verlassen, die er … nun ja, der Titel sagt es schon. In bester Woody-Allen-Manier kämpft der Protagonist mit seinen Spleens und Marotten. Er hat sich eingenistet in seiner Seltsamkeit und der Einsamkeit des Großstadtlebens. Da braucht es schon einen genialen Einfall, um ihn daraus zu befreien. Martin Page ist ein international bekannter französischer Autor, das vorliegende Buch sein fünfter Roman. Es erinnert in Stil und Botschaft stark an Anna Gavalda und François Lelord, ihres Zeichens ebenfalls schwer erfolgreiche französische Schriftsteller. Wie das Buch ist auch der Thiele Verlag eine Entdeckung, der schöne, schlichte Bücher im Programm hat. Dieses hier ist wie ein buntes Cupcake, süß und nach Zitronen duftend, wie ein Sonnenstrahl an einem nebligen Tag.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein eher unauffälliges Cover. Ich wundere mich über die unförmige Tasche der Frau, mag aber das Logo des Verlags, das wie ein Band wirkt.
… fürs Hirn: die Botschaft: Lass dein Leben nicht an dir vorbeiziehen!
… fürs Herz: die Szene, in der Virgile allein in seiner dunklen Wohnung sitzt, auf dem Kopf einen Helm mit Stirnlampe.
… fürs Gedächtnis: Mein Lieblingszitat: “Die Frauen und ihre Kleidung faszinierten Virgile. Sie weckten bei ihm Gedanken an Chamäleons, die sich ihrer Umwelt immer neu farblich anpassen und so mit ihr verschmelzen. Durch diese ständige Suche nach einem neuen Aussehen entzogen sie sich jedem Zugriff.”

Die besten Wochen meines Lebens begannen damit, dass eine Frau mich verließ, die ich gar nicht kannte ist erschienen im Thiele Verlag (ISBN 978-3-85179-120-4, 16 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Skurrile Geschichten aus Serbien
“Herr Pohotni, Vertriebsleiter einer angesehenen hauptstädtischen Bank, hatte eine Begegnung mit Gott.” So beginnt Zoran Živkovićs Geschichte Der Zug. Und weiter: “In der ersten Klasse, versteht sich.” Herr Pohotni ist nicht der Einzige, der eine überraschende Begegnung erlebt – sechs Protagonisten sehen sich unter dem Hauptthema Unmögliche Begegnungen mit einem unerwarteten Zusammentreffen konfrontiert. Unglaubliches stößt auch den Figuren im Kapitel Zeitgeschenke zu: Sie erhalten Besuch von einer absonderlichen Gestalt, die ihnen eine Reise in die Vergangenheit oder Zukunft schenkt. Ist sie der Teufel? Und wenn ja – wer könnte ein solches Geschenk ablehnen? Durchtrieben ist Živkovićs Teufel und sehr gewitzt, schickt er doch zum Beispiel einen sündigen Pfarrer zur Strafe in den Himmel: “Jedes Mal, wenn ich eine gestrauchelte Seele aufnehme, erweise ich Gott nur einen Dienst. Ich befreie ihn von einem, der ihm nicht passt. Aber warum sollte ich das tun? Wir sind ja Gegner und keine Verbündeten, nicht wahr?” Der serbische Autor versteht sich blendend auf unterhaltsame, ironische Kurzgeschichten mit einem verblüffenden Ende.

In insgesamt 28 Short Stories auf 476 Seiten erzählt Zoran Živković von Zeitreisen und Träumen, von Unmöglichem und Skurrilem, von der Bedeutung einer Bibliothek und der Schönheit der Musik. Variantenreich und voller listiger Einfälle stecken diese Geschichten, die jeweils einem von fünf Kapiteln unterstellt sind (Zeitgeschenke, Unmögliche Begegnungen, Sieben Berührungen der Musik, Die Bibliothek, Schritte durch den Nebel) und die sich jederzeit schnell lesen lassen. Diese 28 fantasievollen Kurzgeschichten sind “stories to go”, sie haben genau die richtige Länge und sind perfekt in sich abgeschlossen, sodass man das Buch immer wieder zwischendurch kurz in die Hand nehmen kann, um eine, zwei, drei zu lesen – ohne wie bei einem Roman ständig das Gefühl zu haben, aus der Handlung zu fallen, den Faden zu verlieren. Angenehm ist dieser unmögliche Roman, amüsant, schlau und menschlich. Ich finde nicht alle Stories gelungen, manche lassen mich ein wenig ratlos zurück, der Großteil aber ist überzeugend und lesenswert. Fast jede Geschichte wartet mit einer guten Pointe auf.

Stilistisch wirken Živkovićs Sätze wie aus einem Lehrbuch, sie haben alle Hand und Fuß und bilden in soliden Beschreibungen die Wirklichkeit ab – eine Wirklichkeit, in der es Paralleluniversen, den personifizierten Tod und Zeitreisen gibt. Gut gezimmert sind die Formulierungen, nicht glänzend, aber durchaus zufriedenstellend: “Die Stille meines Ateliers fiel in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem plötzlich die Luft entweicht, als es an der Wohnungstür klingelte” heißt es zum Beispiel oder: “In einem Moment war die Welt da und wirklich, sichtbar, greifbar, doch nur einen Augenblick später verblich sie geheimnisvoll im feuchten Atem der Flussgeister”. Wie David Benioff mit Alles auf Anfang hat Zoran Živković mit Der unmögliche Roman dazu beigetragen, dass meine Abneigung gegen Kurzgeschichten langsam schwindet. Mit seinem plastischen Stil und dem surrealen Inhalt kann dieser Autor ausgezeichnet unterhalten. Ihn zu lesen, ist wie einen netten Kaffeeplausch zu halten. Seine Geschichten kommen harmlos daher – und entpuppen sich dann als erstaunlich vielschichtig. Gut!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein großartiges Cover!
… fürs Hirn: die fantasievollen Überlegungen zu Zeitreisen und Parallelexistenzen.
… fürs Herz: die große Sympathie, die der Autor seinen Figuren entgegenbringt – als wären sie liebe Verwandte.
… fürs Gedächtnis: die Geschichte Die virtuelle Bibliothek.

Der unmögliche Roman
ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3832196158, 24,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Musik, oh wundersame Musik
“Musik war für die Frau, wie für ein ganz junges Kind, das perfekte Medium, um ihrer Innenwelt Ausdruck zu verleihen.” Und in den Goldberg-Variationen von Bach findet die Frau, die sich zur Pianisten ausbilden ließ, eine Möglichkeit, die Finger zu beschäftigen, während sie ihre Gedanken der Tochter widmet, die auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Jede der Variationen ist eine Herauforderung am Klavier, ist mit einem Thema kombiniert und mit einer Erinnerung verbunden – an die Tochter als junges Mädchen, als Studentin, als erwachsene Frau. Die Mutter schreibt ihre Gefühle auf, wendet sich der Musik und zugleich der Sprache zu: “Die Worte waren ein Netz zum Einfangen der Tochter.” “Die Frau war noch nicht wirklich das, was man eine alte Frau nennen würde, aber ein gutes Stück dem Ende entgegengekommen war sie schon.” Und dass sie nun den Rest des Weges ohne ihre Tochter gehen muss, ist für die Frau unerträglich. Auch die Beschäftigung mit Bach und seiner goldenen Musik kann den Schmerz nicht lindern.

“Musik lehrt einen eigentümliche Dinge über die Zeit, dachte die Frau, als sie kurz mit den Händen im Schoß auf die nackten Noten starrte. Musik führte aus der Zeit heraus und schuf einen inneren Zustand, in dem von Zeit noch keine Rede war. Musik erfüllte so sehr, dass Uhren aufhörten zu ticken. Und doch gab kein anderes Medium das Verstreichen der Zeit so präzise an.” Es ist Anna Enquists hochgelobter Roman Kontrapunkt, der mich – nicht zum ersten Mal in meinem Leben – wünschen lässt, ich hätte Ahnung von Musik. Eine Leidenschaft für Musik habe ich nie entwickelt, zu groß war seit jeher die alles verzehrende Liebe zur Literatur. Aber Anna Enquist, selbst Pianistin, verknüpft in diesem Buch Musik ganz eng mit Sprache. Für Musikliebhaber muss Kontrapunkt ein wahrer Lesegenuss sein, ich dagegen kann die beschriebenen Melodien nicht erklingen lassen, kann sie nicht hören, manche Passagen über die Musik sind mir so unzugänglich, als wären sie in einer Kunstsprache geschrieben: “Die Frau spielte die tragische Variation und fühlte sich in die verschiedenen Stimmen ein. Die Mittelstimme mit ihren klagenden Sekundenschritten. Den Bass, der dabei mitmachte. Die zerbröckelte, aufs Äußerste gedehnte Melodie, die zum Schluss bei vollem Bewusstsein in die Tiefe stürzte. Die scheußliche Dissonanz im letzten Takt vor der Wiederholung des zweiten Teils: ein fis und ein g, knallhart, gleichzeitig, dicht beisammen, um eine Lösung ringend.” Wissen über Musik hätte sicher zu meinem Verständnis dieses Romans beigetragen, aber auch so kann ich die Schwingungen spüren, die Stimmungen erfühlen (und ich kann die Goldberg-Variationen über youtube kennenlernen). Und diese Stimmungen sind in erster Linie Trauer, Schmerz und Wut.

Der Verlust hat in die Frau hineingeschnitten wie ein blitzendes Skalpell, Fingerübungen, Noten, Klänge und das Schreiben sind der Verband, der die Blutung stoppen soll. Etwas merkwürdig finde ich, dass es stets nur “die Frau” und “die Tochter” heißt, das macht den Erzählton sehr distanziert und durchzieht ihn mit einer unangebrachten Kühle. Vermutlich aber soll dieser erzählerische Schachzug die Universalität der Geschichte verdeutlichen. Bestsellerautorin Anna Enquist hat mit Kontrapunkt ein würdevolles, gramerfülltes Klagelied vom Abschiednehmen verfasst und eine Melodie über das Muttersein komponiert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr ruhiges, dunkles Cover mit einer Hand, die sich auf einem Klavier spiegelt. Eventuell hätte man die ebenfalls gespiegelte Steckdose wegretuschieren können.
… fürs Hirn: viel Wissenswertes über das Klavierspielen und Bach.
… fürs Herz: Schmerz. Nie sollte eine Mutter ihr Kind begraben müssen.
… fürs Gedächtnis: die Notenzeilen am Beginn der Kapitel.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Alle guten Geschichten beginnen an einem Montag”
Lesen sollte man dieses Buch aber auch von Dienstag bis Sonntag. Es ist nämlich richtig gut. In der Geschichte “Der Teufel kommt nach Orechowo” steht der junge Soldat Leksi vor einer verflucht schwierigen Entscheidung: “Er war im Begriff, einer alten Frau einen Genickschuss zu geben, zuzuschauen, wie sie vornüber in den Schnee fiel, und sie dann zu begraben.” In “Merde bringt Glück” dagegen geht es um Homosexualität und Aids – eine berührende und traurige Story. Herausragend und lesenswert ist auch die Geschichte “Das Zwinkern des Löwen”. Mit dem Kurzgeschichtenband Alles auf Anfang beweist David Benioff seine Vielseitigkeit. Dieses Buch veröffentlichte er bereits 2004, vor seinem großen (und verdienten!) Erfolg Stadt der Diebe.

Es mag abgedroschen klingen, aber David Benioff schreibt mit Herz und Hirn. Er denkt sich ungemein originelle, amüsante, tragische Geschichten aus und gibt ihnen allen eine intelligente, ironische Spitze. Außer Zweifel steht zudem: David Benioff kann schreiben. Sehr gut sogar. “Die schlechten Tage kamen wie Churchills schwarze Hunde, sie lauerten im Flur vor meinem Zimmer, krallten sich im Teppich fest und nagten an den Rändern” ist ein Satz, der mir besonders gut gefällt, ebenso wie: “Wenn du in deiner Wohnung sitzt, spätabends, allein, seltsame Geräusche durch die Flure hallen, dich aufschrecken, und wenn du dann auf die andere Straßenseite blickst, durch das Fenster in die Wohnung eines Fremden, die nur vom Schein des Fernsehers erhellt wird, und dieses fremde Zimmer in ein kühles und gespenstisches Blau getaucht ist – genau diese Farbe hatten die Augen meines Vaters.” Es macht Spaß, diese wunderbaren Geschichten zu lesen – inhaltlich wie stilistisch. David Benioff überzeugt mich mit Witz und Charme (“Die Franzosen sind die Huren Europas, aber sie machen gute Weine”), mit ausgewogenen Formulierungen und fesselnden, tollen Ideen. Das Schräge daran: Ich mag ja eigentlich keine Kurzgeschichten. Aber ich mag diesen Autor. Ich würde eventuell wieder ein Buch von ihm lesen – das ist das größte Kompliment, das ich ihm machen kann.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Ja, unser Sieg ist das Staunen, das Schwärmen, das Leuchtenkönnen!”
“Ort des Geschehens ist ein inzwischen längst entlaufenes, verschwommenes Kabul, mythisch und von nur kurzweiliger Anmut, in der sich Überlieferung nebst Gegenwart einfindet, eh diese, vom Krieg zerschlagen, in ihren innersten Sinn letztlich nur noch nach dem Gedächtnis jenes bunten Momentes verlangen kann, dessen Farben mittlerweile unauffindbar und dessen Atem vielleicht schon vergeudet ist.” Es ist die moralische Verpflichtung, die den Deutschen Jakob Benta Ende der Fünfzigerjahre in dieses magische Kabul bringt: Ein Freund ist hier gestorben, und er erweist ihm die letzte Ehre. Zunächst tut er sich schwer mit all dieser Fremdheit Afghanistans: “Mit Blicken, deren schwarze Brauen sich wie gotische Bögen zusammenschoben, mit einem so zerrissenen Herzen, dass dieser Mensch und Europäer unheilbar schien, solang dieser Aufenthalt nicht beendet war.” Die Annäherung an die unbekannte Kultur erfolgt über den Aufenthalt im Hause Da’ud Hussainis, Meisterkalligraph und Freund des Königs. Er zeigt Jakob Benta die Kunst der Kalligraphie und die Bedeutsamkeit der persischen Dichtkunst. Doch das Gute ist nicht von Dauer: weder Jakob Bentas Verbleib in Kabul noch der Friede im Land. Für die Familie Hussaini beginnt mit der Machtübernahme der Kommunisten eine traurige und entbehrungsreiche Zeit.

Gott im Reiskorn ist eine Mischung aus Biografie und Fiktion: Mariam Kühsel-Hussaini, 1987 in Kabul geboren und in Deutschland aufgewachsen, erzählt darin die Geschichte ihrer Familie – angereichert mit echten Fotos einerseits und viel fantasievollem Fabulieren andererseits. Sie berichtet von der überragenden Begabung ihres Großvaters Da’ud Hussaini, von der Begeisterung ihres Vaters Rafat für die Dichtung: “Dieser eine große Dichter peinigte ihn auf solch herrliche Weise, dass er manchmal eines seiner Gedichte für Tage, ja Wochen von sich fernhalten musste, um es nicht wieder und immer wieder zu lesen und darüber zu zerfallen, denn ebendas taten sie mit ihm.” Geschickt benutzt die junge Autorin die Figur des Deutschen Jakob Benta als europäischen Gegenpart zu Da’ud Hussaini, um die Kulturen aufeinanderprallen zu lassen. Als er recht unvermittelt verschwindet, bleibt der Fokus in Afghanistan, bei Da’uds Söhnen und Enkeln und bei den Unruhen im Land.

Bemerkenswert an Gott im Reiskorn ist die opulente, blumige Sprache, von ungesehener Eleganz, so dicht und bleibend wie ein schweres Parfum. Mariam Kühsel-Hussaini schreckt nicht vor dem großzügigen Gebrauch einer nahezu verpönten Wortkategorie zurück: dem Eigenschaftswort. Ihr Stil ist so reich an Adjektiven wie der Orient an Gewürzen: “Der König, ein magisch leichtsinniger und unternehmungsfreudiger Mann mit einer auffällig tiefen und attraktiven Stimme, fruchtig dunklem Teint, einer reizenden Hakennase und von ursprünglichem und üppigem Bedürfnis nach stets vorzeitiger Festlichkeit (…)” Dies ist eine Sprache, in der man wie in einem duftenden Bad schweben, in der man ertrinken kann. Sie ist kunstvoll, elegisch, hochstilisiert: “Nach einem langen Winter schwoll bereits das Geäst der Gärten wieder knospig an und die trübe und stehende Eisluft erwachte in tauenden Lerchenhimmeln.” So zu schreiben, ist ebenso altertümlich wie mutig – und macht Gott im Reiskorn zu einem Leserausch voller sinnlicher Eindrücke. Dieses Buch ist ein Porträt der empfindsamen afghanischen Künstlerseele, ein Roman, selbst angelegt wie ein einziges langes persisches Gedicht: schwülstig, voller Doppelsinn und purer Freude am Formulieren. Mariam Kühsel-Hussaini bedient sich ohne Zurückhaltung am Repertoire der deutschen Sprache, entlockt ihr Farben, Gerüche und Gefühle, zeichnet mit Worten wie ein Maler mit dicken, fröhlichen Strichen – das ist genau das Gegenteil von minimalistisch. Fremd und süß schmeckt dieser Roman, der unbedingt und in jeder Hinsicht einzigartig ist – innen wie außen, denn auch das wunderschöne Cover soll nicht unerwähnt bleiben.

Lieblingszitat: “Es gibt nun einmal dieses eine Erschütternde in uns, dieses tiefste Geschehen in uns, das mit keinem anderen Wort beschrieben sein will als mit Liebe, weil Liebe allein ebendas, was wir mit Liebe meinen, sprengend zu erläutern weiß und womöglich das einzige Wort auf der Erde, welches kein Wort, sondern eine Regung, eine Entscheidung, eine süße Verzweiflung ist.”

Gott in Reiskorn ist erschienen bei Berlin University Press (ISBN 978-3-940432-88-9, 22,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Elf Jahre alt zu sein macht uns unsichtbar”
“Wir haben 1978, und die Realität ist schon erschöpft”: Die Roten Brigaden stürzen sich voller Wut auf Italiens Ordnung, im ganzen Land ist das Bild des toten Aldo Moro im Kofferraum präsent. Infiziert vom Fieber, etwas zu ändern, zu bewegen, schuldig zu sein, sind drei elfjährige Buben in Palermo. Sie geben sich die Kampfnamen Nimbus, Strahl und Flug und beginnen im Sommer 1978 mit einem ganz besonderen, unheilvollen Training: Sie stählen ihre Körper und ihren Geist, erfinden einen eigenen Kommunikationscode und bereiten sich auf Kampfaktionen vor. Gegen wen sie kämpfen sollen, das fragt sich auch Ich-Erzähler Nimbus: “Ich weiß nicht, wovon er redet. Wir sind immer im Kampf, sagt er. Aber ich verstehe nicht, gegen wen. Und wer kämpft gegen uns? Ebenso wie Flug verspüre ich das Bedürfnis, verfolgt zu werden, und ich wünsche mir einen beharrlichen und liebevollen – ja, liebevollen – Feind, der mich achtet, indem er mich verfolgt. Nur dass es diesen Feind nicht gibt.” Das jedoch hindert die drei nicht daran, ihre theoretischen Gedanken zu Revolution und Terror in die Tat umzusetzen: Sie werden gewalttätig, schuldig, zerstören fremdes Eigentum und schrecken nicht vor Grausamkeit gegen Menschen zurück. Während die Eltern und der kleine Bruder von Nimbus – er nennt sie Schnur, Stein und Lappen – keine Ahnung von seiner Brutalität haben und sich ihm somit nicht in den Weg stellen können, scheint es eine einzige Person zu geben, für die Nimbus etwas empfindet: das kreolische Mädchen. “Denn jedes Mal, wenn ich sie ansehe, wird mir ganz feierlich zumute, und ich verspüre das Bedürfnis nach Zärtlichkeit – genau jenes Bedürfnis, das der Kampf tagtäglich ausschließt.” Doch wer liebt, ist verwundbar, und für einen Kämpfer bedeutet das große Gefahr …

Mit Die Glasfresser hat der italienische Autor Giorgio Vasta, der selbst aus Palermo stammt, einen schockierenden Roman über Fanatismus, Gewalt und Gefühllosigkeit geschrieben. Die Sprache benutzt er dabei wie ein ungemein scharfes Schwert, seine Worte sind Rasierklingen – mit diesem Buch bekommt Sprachgewalt eine ganz neue, viel direktere Bedeutung. Der Grundgedanke der Brutalität ist in vielen Formulierungen versteckt, zeigt sich in der Wortwahl, schimmert immer wieder durch: “Während wir uns unter die Leute mischen, sehen wir nur vom Dialekt zerfleischte Gesichter – der Dialekt explodiert in den Mündern und zerfetzt die Gesichtszüge, er wird erzeugt im Dunkel der familiären Bindungen, im täglichen Zusammenstoß, eine Stirn gegen einen Jochbogen, der Mund gegen eine Schläfe.” Sehr körperlich ist diese Sprache, aber auch sehr intellektuell, punktiert mit Fremdwörtern, die nicht im täglichen Sprachgebrauch vorkommen: rachitisch zum Beispiel, Defätismus, effeminiert. Die Sätze sind ausufernd, sie klirren und schmerzen, sie schneiden den Leser mitten in die Brust – denn ihr Inhalt ist Hass.

Es ist heiß und trostlos in Palermo im Sommer 1978, als der Wahnsinn und die Gier, bedeutsam zu sein, drei Buben zum Äußersten treiben. Ich-Erzähler Nimbus wirkt hochintelligent, die Welt langweilt ihn: “Ich bin ein Gottloser und weiß alles, ich habe die Herrschaft: Das Leben ist die Frucht, und ich bin ihr Kern.” Wie seine Freunde Scarmiglia und Bocca, die Genossen Flug und Strahl, ist er abgeschnitten von Menschlichkeit und Mitgefühl, besessen von den grausamen Aktionen der Brigadisten, hungrig nach einem Kampf: “Elfjährige Zeitungsleser, Fernsehnachrichtenschauer. Beobachter des politischen Geschehens. Konzentriert und schonungslos. Kritisch, finster. Präadoleszente Außenseiter.” Diese drei, die eigentlich noch Kinder sind, wenden sich gegen Schwächere – nur weil sie es können. Nimbus’ liebstes Spielzeug ist ein Stück Stacheldraht, mit dem er Tiere quält. Wahnsinnig sind Giorgio Vastas Protagonisten, fanatisch und diszipliniert – und erst elf Jahre alt. Ich war mit elf nicht unbedingt stumpfsinnig, aber davon, eine solche Weltanschauung zu ersinnen und so zu reden, wie Die Glasfresser es tun, war ich kilometerweit entfernt. Dass Nimbus, Strahl und Flug so extrem jung sind, hebt die krasse Sinnlosigkeit ihrer Taten hervor – wirkt aber auf mich auch unglaubwürdig. Dreizehn vielleicht, vierzehn, aber elf? Zudem hatte ich mir erwartet, die Miniterroristen würden nachplappern und nachempfinden, was ihnen im Elternhaus vorgelebt wird. Doch das ist nicht der Fall, besteht doch zu den Eltern kaum eine Beziehung. Das Böse kommt vielmehr direkt aus ihren Herzen.

Beim Leser ruft Die Glasfresser eine Reihe von unangenehmen Gefühlen hervor: Entsetzen, Ekel, Verständnislosigkeit. Dies ist ein perverses, ein verstörendes Buch, das den Leser mit hinabreißt in den Abgrund, das Angst macht in seiner Unmenschlichkeit. In einem Lied von Gianna Nannini kommt ein Vergleich vor, der sehr schön und treffend ist: un gelato al veleno, ein Eis aus Gift. So ist dieser aufwühlende, provokante und mutige Roman: sprachlich kunstvoll, geschmackvoll, köstlich gar, inhaltlich bitter, verdorben, giftig. Wie Säure ätzt sich Die Glasfresser ins Gedächtnis – und ist gerade deshalb unglaublich wichtig und lesenswert.

Die Glasfresser ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04447-1, 19,99 Euro).