Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„So herzstechend schön ist das Glück erst, wenn man sich dessen Abwesenheit vorstellt“
„Wenn das Glück keine Ruhe gab, dachte Dimsch in diesem Augenblick, wenn es ihm auf der Nase herumtanzte und sich ihm aufdrängte, listig meist als Wunsch getarnt, wenn die Sehnsucht nach Glück also unvermeidbar schien, es selbst aber launenhaft und flüchtig, so würde er sich nicht länger narren lassen. Fortan würde er verhindern, dass sich das Glück entzog, kaum in Besitz geglaubt. Fortan, Dimsch beschloss es eisern, würde er das Glück in die Enge treiben, es sich zu eigen machen, bändigen gnadenlos.“ So beginnt Sebastian Dimschs Suche nach dem Glück, bei dem er – seinem Charakter als ordentlicher Versicherungsbüromann – sehr systematisch vorgeht. Dimsch will endlich wissen, was es ist, das Glück, und deckt sich mit Literatur zum Thema ein. Einen Haufen Bücher von Philosophen, Psychologen und unbekannten Weltverbesserern nimmt er mit in die Arbeit, wo er genug Zeit hat, sie in aller Ruhe zu studieren, denn Dimsch – offiziell Abteilungsleiter Marketing und Statistik einer großen Versicherung – wurde wie seine zwei Mitarbeiter in ein abgelegenes Kammerl versetzt, wo nie jemand nach ihm sucht. Was ihn anfangs ärgerte, kommt ihm jetzt ganz gelegen: Er beschäftigt sich mit Platon und Sokrates, Konfuzius und Kant, ohne dass ihn jemand stört. Statt Anzug trägt er nun Jeans und alte Pullis, und während Chefin Irene und Marketingleiter Rainer ihn als lahmarschig und entbehrlich abstempeln, finden Dimschs Kollegen zunehmend Gefallen an seinen hilfreichen und aufmunternden E-Mails, in denen er seine neu entdeckten Erkenntnisse über das Glücklichsein mit ihnen teilt. Doch dann will auch die Firma was von Dimschs profitablen Wissen haben: Er soll eine Glücksversicherung entwerfen und den Kunden für teures Geld individuelles Glück verkaufen. Notgedrungen nimmt er die Herausforderung an – aber glücklich macht sie ihn nicht …

Der österreichische Schriftsteller Thomas Sautner hat mit seinem Protagonisten, dem Glücksmacher Sebastian Dimsch, eine alltagsheldentaugliche Figur geschaffen, die mir auf Anhieb sympathisch ist. Dimsch trinkt gern Bier, findet seine Kinder anstrengend, liegt auf der Schlagfertigkeitsskala im Minusbereich, verknallt sich auf den ersten Blick in die Büronachbarin – und wird in der Versicherung zum Handlanger degradiert, wogegen er sich wehrt, indem er einfach auf die Arbeit pfeift. Statt jeden Tag sinnlos die Zeit im Büro abzusitzen, verbringt er sie lieber mit der Suche nach dem Glück. Worin besteht es, warum ist es so unbeständig? Bei den Philosophen findet er Antworten, die ihn nachdenklich machen. Und ich werde bei der Lektüre dieses Buchs zu dem kleinen Mäuschen in seinem Büro, schaue ihm beim Lesen über die Schulter, flitze auf geheimen Wegen zur cholerischen Chefin und belausche sie beim Pläneschmieden, beobachte Eva und Rainer beim Knutschen und Dimschs Mitarbeiter bei ihrem äußerst schrägen Zeitvertreib. Quietschvergnügt und bestens unterhalten bin ich, eine sehr glückliche Maus, denn ich fühle mich in Thomas Sautners österreichisch-verquerem Stil heimisch, ich mag die feine Ironie und genieße die gewitzten Sätze ebenso wie die originellen Einfälle. Einen kleinen Dämpfer bekommt mein Mäuseglück gegen Ende des Romans, weil ich mir von der Glücksversicherung etwas mehr – wie im Klappentext angekündigt – Überraschung erwartet habe. Wer das aber nicht tut, wird sich mit dem Glücksmacher sicher rundum amüsieren – und dabei etwas lernen. Denn auf lockere, heitere Weise serviert Thomas Sautner deftige Kost: Jeder darf sich angeregt fühlen, über das eigene Leben, die noch offenen Wünsche und das persönliche Glück nachzudenken. Nehmen wir den Alltag zu ernst und die Arbeit zu wichtig? Können wir das, was wir haben, genug schätzen? Sebastian Dimsch gibt feixend den Rat: Mach’s wie die Maus – sei entspannt und genügsam, freu dich über die kleinen schöne Dinge im Leben, und wenn dir was nicht in den Kram passt, dann scheiß drauf.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover finde ich eher langweilig.
… fürs Hirn: bin ich glücklich? Wie kann ich es werden? Ein lesenswerter Roman, der ganz nebenbei dazu einlädt, das Leben umzukrempeln.
… fürs Herz:Protagonist Dimsch mit seiner tollpatschig-klamaukigen Art.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: „Unser Glück dauert immer nur einen Moment, sofort danach zerstören wir es mit unseren Gedanken. Genial wäre eine Moment-Schutzmaschine. Ja, sobald ein Moment des Glücks auftaucht, müsste man ihn beschützen vor unseren Gedanken.“

Der Glücksmacher von Thomas Sautner ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03510-5, 256 Seiten, 19,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Selig sind die Verrückten
„Es war Zeit für einen Urlaub, deshalb fälschten Mr. und Mrs. Fang Papiere für die ganze Familie.“ Klingt schräg? Ist es nicht. Für Buster und Annie war es in ihrer Kindheit Alltag, sich als jemand anderes auszugeben und an den völlig verdrehten Happenings teilzunehmen, die ihre Eltern inszenierten. Für die komplett wahnsinnigen, international durchaus anerkannten Künstler muss Kunst lebendig sein, und sie lieben es, die Einzigen zu sein, die wissen, was vor sich geht. In Einkaufszentren und Flugzeugen, auf offener Straße und in Museen führten sie sich zusammen mit Kind A und Kind B auf wie Gestörte, um die Leute zu verwirren. Als Kinder mussten Buster und Annie singen, vor der Polizei wegrennen, heulen, schreien, vor einem brennenden Haus auf ihre Eltern warten, die sich drinnen befanden. Ihr bester Freund war die nie enden wollende Peinlichkeit. Inzwischen sind beide erwachsen, und obwohl sie großes Talent haben, will sich der Erfolg nicht so recht einstellen: Annie war schon für den Oscar nominiert und steht im Moment aufgrund von Nacktfotos im Aus; Buster hat einen tollen Roman geschrieben, seinen zweiten wollte nur leider niemand mehr lesen. Beide sind vor ihrer Kindheit auf der Flucht, und beide tragen die traumatischen Erlebnisse immer mit sich: „Deine Familie scheint sich darauf getrimmt zu haben, so auf die Welt zu reagieren, wie es zu ihrer Kunst passt, und nun kannst du mit Menschen in der realen Welt nicht mehr umgehen. Jede Unterhaltung scheint für dich nur der Vorspann zu etwas Entsetzlichem zu sein“, hat eine Frau einmal zu Buster gesagt. Als er und Annie aus diversen Gründen Unterschlupf brauchen, kehren sie nach vielen Jahren nachhause zurück. Doch obwohl sie auf alles vorbereitet sind, haben sie absolut keine Vorstellung davon, was ihre Eltern nun wieder ausgeheckt haben …

Kevin Wilsons Roman mit dem langen Titel ist eine Sammlung absurdester Einfälle, wie sie mir noch nie untergekommen sind. Abwechselnd erzählt er von Annies und Busters nur halb glücklichem Leben in der Gegenwart und den seltsamen Happenings von Mr. und Mrs. Fang in der Vergangenheit. Diese treten übrigens nicht in der Reihenfolge ihrer Erstaufführung auf, im Gegenteil – das allererste Happening, bei dem Annie noch ein Baby war und das die ganze Idee ins Rollen brachte, kommt in der Mitte des Buchs. Es ist mir daher ein Rätsel, was den Verlag zu dem deutschen Titel bewogen hat. Im Original heißt das Buch The Family Fang, was ich nun im Vergleich zum Inhalt auch nicht gerade originell finde. Davon unabhängig hat Kevin Wilson sich bei der Konstruktion der Fang’schen Inszenierungen ordentlich ins Zeug gelegt und viel Fantasievolles zu Papier gebracht, was beim Lesen sehr viel Spaß bringt. Wenn ich versuche, mich an Busters oder Annies Stelle zu versetzen, kribbelt die Scham auf meiner Haut, weil Hunderte Leute mich anstarren und meine Eltern sich gebärden wie Irre. Es ist dem Autor gut gelungen, glaubhaft darzustellen, welche Traumata ihre Kindheit als „Werkzeuge“ ihrer Eltern bei den zwei Protagonisten ausgelöst hat. Sehr verblüfft bin ich über seine Idee im weiteren Verlauf der Handlung, weil ich nie vorhersehen kann, was als Nächstes geschieht, und davon bestens unterhalten werde. Das Buch hält noch viel mehr Überraschungen parat, als ich geahnt habe. In diesem Sinne sei ihm sein großer Erfolg vergönnt! Etwas schade ist, dass Kevin Wilson sich derart auf diesen überdrehten, alles einnehmenden Kunstaspekt konzentriert hat, dass seine Figuren in meinen Augen ein wenig gelitten haben. Die Charaktere funktionieren sozusagen nur in Bezug auf die Happenings und das Familiengeflecht, als Einzelfiguren bleiben besonders die Eltern recht platt und undefiniert. Das ist aber andererseits nicht allzu dramatisch, weil ich ohnehin genug damit zu tun habe, den verqueren Geschehnissen zu folgen. In jedem Fall hab ich das Buch sehr gern gelesen und lege es allen ans Herz, die verrückte Familiengeschichten mögen – eine dermaßen verrückte kennt ihr noch nicht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja, da wäre noch Luft nach oben gewesen.
… fürs Hirn: der Wahnsinn, der pure Wahnsinn!
… fürs Herz: Annie und Buster, die bei allem Witz auch wirklich verletzt werden.
… fürs Gedächtnis: das eine oder andere total bescheuerte Happening, etwa als Annie und Buster so tun, als würden sie mit Gesang für ihren kranken Hund Geld sammeln und dabei von ihren Eltern als schlechte Sänger beschimpft werden.

Die gesammelten Peinlichkeiten unserer Eltern in der Reihenfolge ihrer Erstaufführung von Kevin Wilson ist erschienen bei Luchterhand (ISBN 978-3-630-87401-2, 382 Seiten, 14,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Stadt, eine Zeitung und elf interessante Persönlichkeiten
1953 gründet der reiche Investor Cyrus Ott eine englische Tageszeitung in Rom. Es beginnt eine Zeit des Erfolgs, die jedoch über 50 Jahre später ihr Ende findet, das vor allem dem Generationenwechsel bei den Otts sowie fehlenden Investitionen geschuldet ist. Diese Veränderung ist ein großer Einschnitt im Leben der Menschen, die diese Zeitung seit vielen Jahren jeden Tag produzieren. Zu ihnen gehört die Textredakteurin Ruby, die ihren Job hasst und ihr Leben auch. Erfüllung in seinem Beruf findet dagegen nach einem schweren Schicksalsschlag Arthur, der früher nur die Nachrufe schrieb. Chefredakteurin Kathleen begegnet in Rom einer alten Liebe und erhält Gewissheit, dass ihr Mann sich eine außereheliche Affäre gönnt. Kein glückliches Händchen in Liebesdingen hat die Wirtschaftsreporterin Hardy. Und Paris-Korrespondent Lloyd muss sich nach Jahrzehnten als gefragter Reporter eingestehen, dass er zum alten Eisen gehört. Schließlich kommt der Tag, an dem die Druckerpressen stillstehen und sich die Wege der Redakteure für immer trennen.

In elf kurzen Geschichten porträtiert Bestsellerautor Tom Rachman verschiedene Charaktere, zeigt sie in ihrer Funktion bei der namenlosen Zeitung genauso wie in ihrem Privatleben. Die Zeitung ist die Klammer, die all diese Menschen zusammenhält, jeder ist ein Rädchen bei der täglichen Zusammenstellung der wichtigsten Nachrichten. Am Ende eines jeden Kapitels erzählt Tom Rachman in knappen Episoden von Cyrus Ott, dem Gründer der Zeitung, und deren langsamen Niedergang. Diese Einblicke in die Vergangenheit hätten für mich ruhig umfassender ausfallen können, damit die Geschichte mehr Fundament bekommt. Tom Rachman hat sich jedoch – zu Recht – dafür entschieden, anhand der Menschen über Entstehung und Herstellung einer Tageszeitung zu berichten, was dem Roman natürlich viel Leben einhaucht. Es geht sehr wohl um Meldungen, um den Zeitdruck vor dem Redaktionsschluss, um den Kampf gegen das Internet und für Abonnenten – aber all das spielt sich im Alltag, im Hintergrund ab und beeinflusst Tom Rachmans Figuren nur während der Arbeitszeit. Sie führen jedoch ein von ihren Jobs unabhängiges Leben, das beim einen erfüllter und glücklicher ist als beim anderen.

Beim Schreiben hält Tom Rachman einen kleinen Scheinwerfer in der Hand, den er nacheinander auf seine Charaktere richtet. Verstohlen folge ich ihm, um einen Blick in deren Schlafzimmer und Herzen zu werfen. Das auf ewig imposante Rom bildet dabei die Kulisse, mit der ich selbst viele liebe Erinnerungen verbinde. So geht es mir auch mit dem Redaktionsleben, das ich aus meinen fast drei Jahren als Korrektorin bei einer großen österreichischen Tageszeitung kenne und dessen Beschreibung mir öfters ein Lächeln entlockt. Eher unzufrieden bin ich allerdings mit Tom Rachmans eher dünner Erklärung für die Beweggründe, die Cyrus Ott dazu bewogen haben, seine Familie in Amerika zurückzulassen und dauerhaft – der Zeitung wegen – in Rom zu bleiben. Viele Seiten lang hab ich sehr gespannt auf diese Erklärung gewartet, aber als sie dann kam, warf sie für mich Fragen auf, die unbeantwortet blieben. Trotz dieser minimalen Enttäuschung hat Die Unperfekten mich gut unterhalten, informiert und begeistert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein Cover, an dem es nichts auszusetzen gibt.
… fürs Hirn: die Infos darüber, wie eine Zeitung gemacht wird.
… fürs Herz: die vielen kleinen Details, die zusammengesetzt die verschiedenen fiktiven Schicksale ergeben.
… fürs Gedächtnis: das amüsanteste Zitat mit der originellsten Metapher: “Sie hat heute ein ganz anderes Gesicht, unter matter Pfirsichtönung, dazu orangeroter Lippenstift, Eyelinerbalken um die Augen und die grüne Wimperntusche so dick aufgetragen, dass man beim Augenzwinkern denkt, ein Frosch verhakt seine Zehen.”

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Gott hat mir zugelächelt, als er uns zusammenführte. Und wem er sein Lächeln einmal zeigt, dem bleibt er gewogen“
Michael Ratys ist noch Schüler, kurz vor dem Abitur steht er, als er seine Jungfräulichkeit verliert – an die junge Deutschlehrerin Charmaine. Ihre Nachmittage verbringen die beiden fortan im Bett, setzen sich hinweg über gesellschaftliche Konventionen und ignorieren die Gefahr, der sich Charmaine aussetzt beziehungsweise nutzen das erotisierende Potenzial der ständigen Bedrohung. Es ist jedoch nicht der Sex allein, der sie zueinander hinzieht, nein, es ist die Liebe. Eine Liebe, die anfangs nur einen kurzen Auftritt hat, die aber zehn Jahre später erneut entfacht wird und weiter lodert, immer weiter. Die äußeren Umstände sprechen gegen diese Liebe – Ehepartner, Berufs- und Ortswechsel –, aber Michael und Charmaine setzen sich in all den Jahren über jede Art von Widrigkeit hinweg: „Unheimlich fand ich, welche Macht du über mich hast. Ich aber auch über dich, ging mir auf.“ Und jetzt, wo Charmaine nach einem Anschlag im Koma liegt, hat Michael nur diese Liebe, um zu ihr durchzudringen – und damit hat er viel. An ihrem Krankenbett sitzend, erzählt er Charmaine ihre gemeinsame Geschichte – und entwirrt dabei sogar die Fäden, die ihn zum Täter führen.

Der Drehbuch- und Krimiautor Michael Molsner legt mit Dich sah ich einen sehr klugen Roman vor, in dem eine Liebesgeschichte durch die Wirren der Zeit führt, die Deutschland seit den 1960er- Jahren erlebt hat, und der ausschließlich von der mündlichen Rede lebt. Der Schriftsteller hat sich für eine ungewöhnliche Erzählform entschieden: Sein Protagonist Michael ist ein Ich-Erzähler, der mit seinem Gegenüber – der bewusstlosen Charmaine – in direktem Dialog steht, eher noch einen Monolog hält, da er ja keine Antwort bekommen kann. Das gefällt mir sehr, weil ich vom Leser zum Zuhörer werde, der einer angenehmen Stimme lauscht; weil keine anderen Sprecher ablenken; weil die Handlung reduziert ist und der Inhalt des Gesagten intensiv. Auf einer Feier wurde Charmaine bei einem Bombenattentat schwer verletzt, und Michael legt seine ganzen Erinnerungen in die Waagschale, damit diese zugunsten von Charmaines Leben kippt. Alle Erinnerungen, die er hat, sind an Charmaine gebunden, denn sie, seine ehemalige Deutschlehrerin, liebt er schon, seit er 18 Jahre alt ist. Fast ein ganzes Leben haben sie miteinander verbracht – und zwar immer nur in aller Heimlichkeit. Ihre Affäre behält auf ewig das Prickeln, weil sie sich nie einem 24-Stunden-Alltag stellen muss. Dennoch tut Molsner nicht so, als wäre diese Liebe weltbewegend, unerschütterlich und im Himmel gemacht, sondern erfüllt die beiden Liebenden mit einer großen Zuneigung ganz ohne Pathos.

Dich sah ich ist ein politischer Roman, der die Revolte von 1968, den Terror der 1970er-Jahre und die kontroversen Meinungen über den Kommunismus behandelt, Themen, zu denen jede Figur im Buch Stellung nehmen muss und die in sich die Lösung des Attentat-Rätsels bergen. Dich sah ich ist ein Gesellschaftsroman, der das Deutschland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abbildet und dessen Moralvorstellungen als Rahmenbedingungen nutzt. Und Dich sah ich ist ein Liebesroman, der die Gefühle zweier Menschen über alles stellt und jene Botschaft verkündet, die wir alle hören wollen, immer wieder, weil sie uns hoffen macht: dass es sie gibt, die ewige Liebe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover finde ich sehr passend mit dem schönen alten Foto, in der Buchhandlung hätte es mich aber wohl nicht nach dem Roman greifen lassen.
… fürs Hirn: die Hintergrundinformationen über die politischen Geschehnisse.
… fürs Herz: alles, alles!
… fürs Gedächtnis: der Oktober Verlag, von dem ich hiermit zum ersten Mal ein Buch gelesen habe und dessen Programm Interessantes aufzuweisen hat, sowie mein Lieblingszitat: “Unter den grauen Schläfen erkennst du den braunen Schopf des Achtzehnjährigen. Weil du mich siehst, wie ich dich sehe. Alle meine Gesichter. Wie ich deine sehe. Alle gleichzeitig.”

Dich sah ich von Michael Molsner ist erschienen im Oktober Verlag (ISBN 978-3-941895-21-8, 302 Seiten, 14 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Von einer Liebe, die nicht sein kann und deshalb umso größer ist
William Miller, der schmächtige Sohn eines Bodybuilders, tut umgeben von den Unmengen Fleisch, die sein Vater und seine Brüder verdrücken, das einzig Logische: Er wird Vegetarier. Als seine Mutter stirbt, rückt Will noch weiter in die Unscheinbarkeit, hört auf zu sprechen und zu wachsen. Doch er findet zu sich selbst zurück, als eines Tages ein bezauberndes Mädchen vor seinem Haus sitzt: Lulu. Sie zieht zusammen mit ihrer Mutter bei ihm ein, und sie wird Wills Stiefschwester, seine große Liebe und sein Untergang. So eng ist die Bindung zwischen Will und Lulu, dass sie eine eigene Sprache erfinden müssen, um ihre Gefühle füreinander zum Ausdruck zu bringen. Doch dann, in jenem Sommer, in dem sie 15 ist, geschieht etwas – und Lulu verändert sich. Sie stößt Will von sich, so weit, dass er fast an seiner plötzlich unerwiderten Liebe erstickt. Mit aller Kraft kämpft Will um Lulus Aufmerksamkeit, er begehrt und hasst sie zugleich. Zwar bemüht er sich um eine Ausbildung, eine Karriere, eine Zukunft, doch sein Herz ruft mit jedem Schlag nach Lulu – und es dauert lange, viel zu lange, bis er endlich die Wahrheit erfährt.

Mit William Miller hat Jonathan Evison einen tragikomischen Alltagshelden geschaffen, dem das Leserherz sofort zufliegt. Weil er umgeben ist von testosterongesteuerten Männern, weil er schwach ist, weil er seine Mutter verliert und weil er sich mit jener Heftiskeit verliebt, die einen mit dem Gesicht unter Wasser drückt, immer wieder. Ganz zu Beginn erinnert Will mich an eine von John Irvings von mir so geliebten jugendlich-schrägen Figuren, doch das ändert sich, als Will aufgrund der Verletzung, die Lulu ihm zufügt, in sich zusammensackt und verbittert wird. Mit ihm gemeinsam krache ich von seiner Wolke auf die Erde, und der Roman verliert an diesem Punkt für mich viel von seiner Zauberhaftigkeit. Denn nun muss ich mit Will der Hässlichkeit einer Liebe, die einen Verzweifelten auffrisst, ins Gesicht schauen. Und das bedeutet einen sehr einsamen, öden und sehnsuchtsvollen Alltag.

Mit seiner Sprache hat Jonathan Evison mich überzeugt. Er ist begabt darin, Cliffhanger zu platzieren, geht sparsam mit Metaphern um und erlaubt es einzelnen Sätzen, aus ihrem Umfeld herauszuleuchten. Mein einziger Kritikpunkt an seinem hochgelobten Roman All about Lulu ist ein inhaltlicher, denn ich bin mit seinem Ende, mit der Auflösung des ganzen Wirrwarrs, nicht unbedingt zufrieden – zu viele Fragen bleiben für mich offen, die ich aus Spoiler-Vermeidungsgründen nicht nennen kann. Es erscheint mir unrealistisch, dass die komplette Familie Will die Tatsachen so lange verschweigt, und ich mag den Seifenopern-Touch nicht, der dann am Schluss alles überzieht. Aber ich mag Will und ich kann der Dramatik und Zwanghaftigkeit, die er an den Tag legt, durchaus etwas abgewinnen, war ich doch selbst einmal ein blind verliebter Teenager, der glaubte, ohne den anderen ginge die Welt unter. Wobei meine Welt wohl nie dermaßen untergegangen ist wie jene von Will.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
eins der schönsten Cover bisher 2012, wenn man das Buch öffnet, sieht man das ganze Gesicht.
… fürs Hirn: ein sehr emotionaler, mutiger, ergreifender Roman, der mich in erster Linie mit Protagonist Will mitleiden lässt. Danz zufrieden ist mein Hirn aber mit des Rätsels Lösung nicht.
… fürs Herz: Liebeskummer! Und zwar sehr großer. Der Schmerz eines Abgewiesenen, der umso mehr liebt, je öfter es ihm verboten wird.
… fürs Gedächtnis: vor allem der Anfang des Buchs, wo alles noch herrlich skurril und zauberhaft ist – bevor der große Crash kommt.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Gänsehaut am ganzen Herzen
„Spontane Entschlüsse waren Harolds Sache nicht.“ Und trotzdem tut der Pensionist eines Tages etwas, das so spontan ist, dass es an Verrücktheit grenzt: Statt den Brief an seine frühere Arbeitskollegin Queenie abzuschicken, läuft er am Briefkasten vorbei und an der Post auch. Und dann einfach immer weiter. Er setzt sich in den Kopf, zu Queenie zu gehen. Das klingt noch nicht verrückt genug? Nun, Queenie liegt 1000 Kilometer von Harolds Ausgangsort Kingsbridge entfernt in einem Hospiz im Sterben. Und Harold hat nichts bei sich außer der Kleidung, die er trägt, seinen Segelschuhen, seiner Geldtasche und Queenies Brief. Er war nie verliebt in die Buchhalterin aus der Brauerei, in der er jahrzehntelang gearbeitet hat, aber sie hat ihm einmal selbstlos aus der Patsche geholfen – und Harold hat sich nie bedankt. Das will er nun nachholen, und er beschließt, den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen – einmal der Länge nach von Süden nach Norden durch England bis nach Berwick-upon-Tweed. Dieser Entschluss und diese Wanderung werden zu einer Zerreißprobe für Harolds Ehe mit Maureen. Sie sind sehr lange verheiratet und einander abhandengekommen, ihr Zusammensein besteht nur noch aus Schweigen oder Nörgeleien. Harolds unwahrscheinliche Pilgerreise zwingt Maureen zu der Erkenntnis, dass sie putzen kann, so viel sie will, der Schmerz über das, was vor Jahren geschehen ist, wird nicht weggehen. Während sie ihrem Mann in Gedanken wieder näher kommt, bringt er jeden Tag mehr Kilometer zwischen sich und Maureen: „Er zog die Schultern hoch und trieb seine Füße an, als laufe er nicht so sehr zu Queenie, sondern vor sich selbst davon.“

Rachel Joyce hat mit Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry einen Überraschungshit vorgelegt, und während der Lektüre erschließt sich mir das Geheimnis ihres Erfolgs: Dies ist ein Buch mit Herz. Wer es öffnet und sich auf die Geschichte einlässt, bekommt eine Gänsehaut am ganzen Herzen. Weil der Roman so ehrlich, schmerzhaft und berührend ist. Harold ist das Sinnbild für einen Menschen, der es sich bequem gemacht hat in seinem Leben wie in einem Bett, aus dem er nicht mehr aufstehen mag. Jedes Jahr dasselbe Urlaubsziel, zurückhaltende Beziehungen zu den Nachbarn, jeden Tag dieselbe Langeweile in der Arbeit – und zuhause immer dieselbe Frau, die lange schon in einem anderen Zimmer schläft. Harold ist sehr englisch, sehr verklemmt und traurig. Als Queenie ihm schreibt, dass sie stirbt, drängt viel Verschüttetes in ihm an die Oberfläche, und er kann nicht mehr stillhalten. Während er geht, denkt er nach über die Fehler, die er begangen hat, und alles, was er nie gesagt und nicht getan hat. Dann kann Harold nicht mehr stehenbleiben. Er schüttelt ab, was ihn gefangen gehalten hat, er verliert sich dabei selbst. Die Wanderung, die ihn zu vielen hilfsbereiten Menschen und in immer neue Situationen führt, verlangt ihm alles ab: „Harold saß lange auf einer Bank vor der Kathedrale und überlegte, wohin er gehen sollte. Ihm war, als hätte er seine Jacke abgelegt, sein Hemd und dann mehrere Schichten Haut und Muskeln.“

Ich gehe mit Harold durch ganz England – und ich folge ihm in seine Vergangenheit. Von Anfang an rührt mich das kauzige, verzweifelte Kerlchen zutiefst. Rachel Joyce ist keine meisterhafte Autorin, die aus poetischen Sprachbildern feine, glitzernde Netze spinnt. Aber sie hat das Talent bewiesen, eine rundherum glaubwürdige, lustige, aufwühlende und originelle Geschichte zu erzählen, die mit klaren Sätzen besticht und absolut stimmig ist. Sehr amüsiert habe ich mich darüber, wie die Medienwelt Harolds Reise vermarktet – diese Abschnitte geben dem Buch in meinen Augen viel Authentizität. Absolut sympathisch war mir auch das realistische Ende, das nicht (nur) mit viel Kitsch aufwartet, sondern mit der Einsicht, dass man dem Schmerz, den man in sich trägt, nicht entfliehen kann. Und dass der Tod unbesiegbar ist. Rachel Joyce sagt, sie habe ihr Herz in dieses Buch gelegt. Und das Schöne ist, dass man das mit jeder Zeile spürt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schönes Cover im Stil einer alten Pergamentkarte.
… fürs Hirn: der unfassbare Kraftakt, der Harolds Reise ist – für seinen Körper wie für seine Seele.
… fürs Herz: die Hilfe, die Harold immer wieder bekommt. Und die Hoffnung, dass unter all den Schichten aus Bequemlichkeit, Lethargie und Schweigen irgendwo noch ein bisschen Liebe ist.
… fürs Gedächtnis: der ewig gültige Vorsatz, es nie so weit kommen zu lassen wie Harold – nie zu schweigen, wenn man reden sollte, nie sich umzudrehen, wenn man jemanden umarmen sollte.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Aber die Erde ist grenzenlos, genau wie das Glück und wie früher unser Volk“
„Unser Sterben begann vor dem Schneefall, und wie der Schnee fielen wir immer weiter.“ Im Winter 1912 tötet das Fleckfieber Hunderte Indianer in Argus in North Dakota. Der alte Nanapush muss alle seine Frauen und Kinder in den Bäumen beerdigen, und die Trauer bringt ihn beinahe um. Eine einsame Überlebende wie er ist die junge Fleur Pillager, die ihm schweigsam in seiner Hütte Gesellschaft leistet, beide fallen fast dem Hungertod in die Hände und können die Namen ihrer Toten nicht aussprechen, damit die Geister nicht bleiben. Aber Fleur ist stark und kehrt zurück in ihr abgelegenes Haus im Wald. Die Indianer fürchten sie, weil sie bereits zwei Mal ertrunken ist und jeweils ein Mann ihren Platz beim Tod einnehmen musste und weil sie sie für zaubermächtig halten: „Sie ließ sich auf einen fast vergessenen Zauber ein und befaßte sich mit Praktiken, über die wir gar nicht reden sollten. Sie legte sich das Herz einer Eule auf die Zunge, so daß sie nachts sehen konnte, und ging hinaus zum Jagen, aber nicht in ihrer Gestalt.“ Doch trotz dieser Kräfte kann Fleur nicht verhindern, dass ihr in der Stadt Schlimmes widerfährt, und als sie ein Kind zur Welt bringt, gibt es Gerede, dass es nicht von Eli stammt, der Fleur über die Maßen liebt. In Gang gebracht wird dieses Gerede vor allem von Pauline, die mit Fleur zusammen in der Stadt gearbeitet hat und fast an ihrem Neid erstickt, weil sie unscheinbar und ungeliebt ist. Die Eifersucht treibt sie zu einer hinterhältigen Tat und schließlich in die Arme von Jesus, dem sie im Kloster als unerbittliche Märtyrerin ihr Leben widmet: „Ich stecke mir Kletten in die Achseln meines Kleides, Sandgras in meine Strümpfe und Nesseln in den Halsbund. Die Oberin zwang mich, meine Schuhe richtig herum anzuziehen, aber ich ließ mir die Zehennägel wachsen, bis das Gehen wieder weh tat und jeder Schritt mich an SEINEN Schritt auf dem Weg nach Golgotha erinnerte.“ Jeden Winter kämpfen die Indianer gegen den Hunger, denn die Regierung hat ihnen so gut wie alles weggenommen – und die, die auch das letzte Land der Ureinwohner wollen, kommen immer näher …

Louise Erdrichs Wurzeln liegen in North Dakota, sie ist die Tochter einer Indianerin. In ihren zahlreichen Büchern lässt sie eine Welt erblühen und Menschen auferstehen, die längst ausgelöscht sind. Der Hunger und der drohende Tod kriechen mir aus jeder Zeile von Spuren entgegen, jeder Atemzug der Indianer ist ein verzweifeltes Ankämpfen gegen ihr Schicksal, das die Weißen ihnen bringen. Dies ist ein unruhiges, ein aufwühlendes Buch, dessen Seele gequält aufschreit, wenn man es berührt. Es mag nicht jammern, dieses Buch, vielmehr setzt es sich mit mir an ein fast erloschenes Feuer und erzählt mir mit heiserer, schwindender Stimme von dem, was war. Die Winter sind hart in Argus, North Dakota, und die Kräfte der dezimierten Indianer sind klein. Sie sind stolz, sie tragen ihr Haar in prächtigen langen Zöpfen, sie kennen die Wirkung der Kräuter und die Wege der Tiere. Sie haben kein Mitleid miteinander, und in ihren Reihen stehen Verräter. Zwei Ich-Erzähler gibt es in diesem Roman, die sehr gegensätzlich sind: den alten Nanapush, der alles verloren hat bis auf ein wenig Humor, und die junge Pauline, die so süß ist wie eine grüne Zitrone. Zusammen mit ihnen tauche ich ein in eine verschwundene Zeit, in der es Wassergeister gab und letzte Büffel, in der ein Liebestrank Wirkung zeigte und das Christentum mit den indianischen Gottheiten zusammenkrachte.

Vieles von dem, was Nanapush und Pauline mir berichten, kann ich kaum verstehen, so fremdartig erscheint es mir. Und das ist auch gut so, denn es macht ihre Geschichte lebendig und glaubwürdig. Ich fühle mich angelockt von Louise Erdrichs Buch über den Untergang der Indianer, weil es verheißungsvoll wispert und kichert, und es stößt mich fort, weil ich weiß bin und der ahnungslosen modernen Zeit entstamme. Louise Erdrich will nicht Mitleid heischen für ein Volk, dem nicht geholfen ist mit allem Mitleid dieser Erde. Sie will Zeugnis ablegen und erinnern. Und das gelingt ihr so gut, dass für kurze Zeit im Schnee Spuren sichtbar werden.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ja. So kann man sich das wohl vorstellen.
… fürs Hirn: die Möglichkeit, teilzunehmen am Leben eines sterbenden Volks, von dem man im Geschichtsunterricht viel gehört hat und doch wenig weiß.
… fürs Herz: Mut, Tapferkeit und die überhebliche Dummheit der Indianer.
… fürs Gedächtnis: die Wichtigkeit von Louise Erdrich als Autorin und der Vorsatz, eventuell zu ihr zurückzukehren mit dem Club der singenden Metzger, weil sie so furchtlos schreibt und weil der Buchtitel einfach genial ist.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Auf dem Weg ins Ungewisse
Das Dorf liegt am Rande eines Waldes. Das Leben hier ist beschaulich und von jener Härte, die eine Dorfgemeinschaft gemeinsam bewältigen kann. Männer und Frauen tun sich zusammen, zeugen Kinder, bewirtschaften die Felder, wärmen einander in der Nacht. Als kurz vor der nächsten Ernte plötzlich ein Seilende am Waldrand liegt, wundern sich alle. Und bald werden sie neugierig: Wo ist das andere Ende des Seils? Wer hat es hier hingelegt und warum? Voller Abenteuerlust beschließen die Männer, mit Proviant und Gewehren gerüstet, das Rätsel zu lösen. Sie folgen dem Seil, marschieren weiter und weiter in den Wald hinein, ohne an ein Ende zu kommen – und befinden sich auf einmal an einem Punkt, an dem Umkehren unmöglich ist: „Je länger die Männer gingen, desto stärker wurde die Wirkung, die das Seil auf sie übte, jeder war von dem starken und das Herz pochen machenden Gefühl durchdrungen, etwas zu erleben, das in der Geschichte des Dorfes niemals da gewesen war und über alles Verstehbare hinaussschoss.“ Doch was die Männer nicht bedenken, ist, dass die Frauen sie bald tot glauben und dass das Dorf nicht funktionieren kann, wenn die Gemeinschaft nicht mehr besteht …

Stefan aus dem Siepen hat in seinem dritten Roman Das Seil eine denkbar simple Situation geschaffen: Auf dem Boden liegt ein Seil und es hat, so scheint es, kein Ende. Forsch und selbstsicher, wie sie nun mal sind, machen die Männer sich auf, um diese Absonderlichkeit, die nicht geduldet werden kann, aus der Welt zu schaffen. Ihre großen Mäuler werden jedoch immer kleiner, als sich der unendlich wirkende Wald vor ihnen ausbreitet und das Geheul der Wölfe ihnen den Schlaf raubt. Sie sind der Gesellschaft enthoben und können sich verhalten, wie sie wollen, doch sie folgen ihrer innersten Natur und lassen zu, dass einer von ihnen – dessen äußerliche Gestalt das eigentlich unwahrscheinlich machen würde – zu ihrem Anführer wird. Stefan aus dem Siepen porträtiert diese Männer mit wenigen Sätzen, wie ein guter Zeichner mit skizzenhaften Strichen das Wesen eines Gesichts einfängt. Der Draufgänger Michael wird beispielsweise so charakterisiert: „Er liebte rasche Entschlüsse, die nie besonders klug waren, ihm auch häufig Schwierigkeiten einbrachten, dabei aber seiner Fröhlichkeit nicht schadeten.“ In seinem Stil ist der Autor so geradlinig und konsequent wie die Männer, die am Seil entlangmarschieren.

In diesem Buch befinde ich mich – einige Jahrhunderte? – vor der Zeit von Handy und Google Earth, und ich überlege zeitweise schmunzelnd, wie schnell diese Geschichte heute mit ein paar Anrufen oder einem Helikopterflug erledigt wäre. Dadurch wird der Roman nicht nur zu einem Ausflug in den Wald, sondern auch zu einer Reise in eine prädigitalisierte Zeit, in der eigentlich alles aussah wie jetzt und doch vollkommen anders war. Denn schon eine simple SMS hätte die zuhause ausharrenden Frauen erlöst, selbst wenn sie – typisch männlich – nur zum Inhalt gehabt hätte: „Geht uns gut. Kommen bald.“ Aber nein, jegliches Mittel zur Kommunikation fehlt, und so sind die Männer auf ihrem bizarren Abenteuer auf sich gestellt. Sie sind ausgezogen, um das Chaos zu beseitigen, sie können nicht zurück, ehe ihre Mission erfüllt ist – und es ist nur logisch, dass sie auf ihrer Suche noch mehr Chaos finden. Wunderbar ironisch und zugleich bitterböse ist diese absurde Geschichte, die eine unheimliche Sogwirkung auf mich ausübt. Eineinhalb Stunden lang war ich nicht im Flug München–Kopenhagen, sondern in einem mittelalterlichen Wald mit ungewaschenen, aufgeregten, kurz vor der Explosion stehenden Männern, und diese Stunden haben sich zu Tagen gedehnt, in denen wir nur marschiert sind. Und was wir am Ende gefunden haben – das würdet ihr mir nie glauben …

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr gelungenes Cover, das die unheimliche Stimmung perfekt in ein Bild umsetzt.
… fürs Hirn: die Frage – wenn ich jetzt umdrehe, wie weit wäre es noch gewesen bis zum Ziel?
… fürs Herz: der Kummer der bangenden Frauen.
… fürs Gedächtnis: die geniale Idee, auf der diese Parabel beruht.

Das Seil von Stefan aus dem Siepen ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-24920-1, 180 Seiten, 14,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Von der Grausamkeit der Geschichte
Eigentlich, erklärt die Ich-Erzählerin, würde sie die Geschichte gar nicht aufschreiben, doch ihr Sohn Thomas Kinsman drängt sie im Jahr 1898 dazu. Und so setzt sie sich hin, taucht die Feder in die Tinte und berichtet von der jungen Julie, die in den 1820er-Jahren als Haussklavin auf einer Zuckerrohrplantage in Jamaika schuften muss. Sie ist durch einen Akt der Willkür in der Villa gelandet und muss Caroline, der dicken Schwester des Hausherrn, persönlich zu Diensten sein. Die auf die Insel verschleppten Afrikaner werden nicht wie Menschen behandelt, sondern schlechter noch als Tiere, sie sind Leibeigene, die als geistig zurückgeblieben gelten und aufs Bitterste ausgebeutet werden. Und langsam regt sich Widerstand gegen die brutale Unterdrückung – die Gewalt bricht sich auf beiden Seiten Bahn. Doch bis zur Freiheit ist es für die Sklaven ein weiter, ein ewig langer Weg, der so voller Hürden, Qualen und Hindernisse ist, dass viele von ihn sein Ende nie erreichen werden. All die Grausamkeit, die diese Menschen erfahren, bringt Ich-Erzählerin Julie – denn es ist ihre eigene Geschichte, die sie für die Nachwelt festhält – schmerzhaft auf den Punkt: „All of my bones have a voice to speak to me. Even the smallest oft them chats the language of pain.“ Und als sie nach all den Jahren der Schmerzen und des Wartens endlich frei ist, wird das Leben für Julie nicht besser …

Andrea Levy stammt von jamaikanischen Sklaven ab, ihre Eltern kamen 1948 nach England – und wurden dort aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht gerade herzlich aufgenommen. Erst in späten Jahren hat sie zum Schreiben gefunden, und ihre Romane sind wichtige, mit Preisen gekrönte Zeugnisse der Verbindung zwischen Großbritannien und seinen ehemaligen Kolonialstaaten sowie der unmenschlichen Verhaltensweisen, die Kolonialherren hier wie dort an den Tag gelegt haben. Ihr Buch Small Island hat mich vor einigen Jahren sehr beeindruckt, und so folge ich Andrea Levy in The Long Song auf eine Zuckerrohrplantage in Jamaika, um dem „langen Lied eines Lebens“ zu lauschen. Es ist heiß hier auf der Insel und es stinkt, es riecht nach verbranntem Gras, nach Durst und nach Tod. Hier wird die tiefschwarze Julie als Tochter einer bärenstarken Sklavin geboren, und schon als Baby ist sie – an den Rücken ihrer Mutter gebunden – den ganzen Tag auf dem Feld. Als Julie Haussklavin in der Villa wird, gibt sie mir Einblick in das dekadente, verfressene, vermeintlich wertvollere Leben der Plantagenbesitzer, deren Reichtum auf der Ausbeutung anderer Menschen beruht. Das Leben der „Neger“ ist ihnen weniger wert als das einer Fliege. Deshalb lassen sie sie auch wie die Fliegen sterben.

Andrea Levy sagt im dem Roman angeschlossenen Interview, sie wolle in ihren Büchern nicht urteilen. Das braucht sie auch nicht, denn das Urteil ist seit Jahrhunderten in der Geschichte festgeschrieben. Die Kolonialherren gingen in ihrer Unterdrückung mit unfassbarer Grausamkeit vor. Das Konzept, sich andere Menschen als Sklaven zu halten, ihnen alles zu nehmen, sie nach Gutdünken auszupeitschen, ihre Kinder zu verkaufen und sie hungern zu lassen, ist mir derart und so vollkommen fremd, dass ich manchmal das Gefühl habe, Science Fiction zu lesen. Ich kann, ich mag nicht glauben, dass all dies tausendfach, millionenfach geschehen ist – dass die Erde so viel Leid gesehen und so viel Blut getrunken hat. Ich lebe in einem reichen Land, und ich bin frei. Dieses Glück durchströmt mich mit jedem Herzschlag – und mit jeder Seite von The Long Song wird mir das wieder bewusst. Andrea Levy hat nicht nur etwas zu sagen, etwas anzuklagen, sie kann auch richtig gut schreiben. In den Slang der Sklaven, in ihr Pidgin-English muss ich mich erst einfinden, aber das erkennbare Muster macht das nicht allzu schwer. Dies ist ein Buch, das atmet. Es flüstert und ächzt, es weint und es blutet. Dies ist ein tieftrauriges, wunderschönes, überaus kluges Buch, das von einer Zeit erzählt, die lange vorüber ist, deren Ausläufer sich aber in zu vielen Teilen der Welt heute noch finden. Und es kann nur die Hoffnung bleiben, dass es auch einmal eine Zeit geben wird, in der alle Menschen der Welt an einem Tisch sitzen werden und jeder genug auf seinem Teller hat.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr ansprechendes Cover.
… fürs Hirn: die ewige Frage, wie es sein kann, dass der Mensch seinen Brüdern Leid antut.
… fürs Herz: Julies Erzählton, der so herrlich ironisch, vermeintlich distanziert und in Wahrheit doch sehr emotional ist.
… fürs Gedächtnis: Andrea Levys Wichtigkeit als eine Autorin, die zum Leben erweckt, was nicht vergessen werden darf.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Ein Flughafen ist ein magischer Ort, immer neu. Unmöglich, sich hier zu langweilen!”
Salvador arbeitet seit Jahrzehnten als Putzmann am Flughafen, er ist dort eine Institution. Er wischt nicht nur die Böden, er erzählt auch Geschichten, wilde, unrealistische, lustige und traurige. Er ist mit dem Flughafenpersonal befreundet und weiß über jedes Reiseziel etwas zu sagen – obwohl er überhaupt noch nie irgendwohin geflogen ist. Salvador unterhält die Wartenden, er bringt sie zum Lachen, zum Nachdenken, er ist ein „Gschaftler“, wie man auf Österreichisch sagt. Unglaublich ist das, was er berichtet, zum Beispiel vom Club der unerhörten Wünsche, der gegen einen monatlichen Pauschalbetrag jeden Wunsch erfüllt, eine Frau liefert, einen besten Freund anheuert oder einen Ferrari vor die Haustür stellt, allerdings gebraucht, versteht sich. Salvador erzählt von der Frau, die am Flughafen ankam und nicht mehr wusste, wer sie war, und von dem Mann, der im Internet seinen eigenen Tod bestellte. Salvador ist ein Geschichtenmann, er ist stets gut aufgelegt, redegewandt, pfiffig und klug: „Wenn du Tausende von Göttern hast, findest du immer einen, der dein Verhalten rechtfertigt, was auch immer du tust, und sei es noch so absurd.“ Und eins ist klar: Wenn es Salvador gäbe, wäre das Leben ein Märchen.

Der spanische Schriftsteller Alberto Torres Blandina hat für seinen Roman Salvador und der Club der unerhörten Wünsche eine ungewöhnliche und originelle Erzählart gewählt: den Monolog. Alles, was ich lese, wird von Flughafenreinigungskraft Salvador ausgesprochen. Das ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber eine tolle Abwechslung. Die Einwände oder Fragen des Gesprächspartners bindet Salvador geschickt in seine Reden ein, indem er sie wiederholt. Es ist nicht jedes Kapitel eine abgeschlossene Geschichte, vielmehr wird Salvadors Erzählung des Öfteren unterbrochen, um an anderer Stelle weitergeführt zu werden, etwa wenn er den Reisenden bei dessen Rückkehr wiedertrifft. Das hält meine Neugier wach und sorgt dafür, dass das Buch mehr ein Roman als eine Short-Stories-Sammlung ist. Salvadors Geschichten sind Kleinode der Verrücktheit, sie sind abstrus, heiter, böse und unglaublich witzig. Alberto Torres Blandina ist mit einer begnadeten Fantasie gesegnet, er denkt sich doppelte Liebesgeschichten aus, gefährliche Internetspiele und einen Club, der alles kontrolliert – aber auf überraschend positive Weise. Ich muss oft den Kopf schütteln und dann doch wieder schmunzeln über so viel Abgedrehtheit. Genial finde ich auch, wie offen der alte Salvador über Sex und Erotik spricht. Wunderbar für alle, die etwas Außergewöhnliches lesen wollen, denn für diesen Roman heißt es: Erwarte das Unerwartete!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
naja, das Cover gefällt mir nicht so, zwar wurden die Motive aufgegriffen, aber die Umsetzung scheint mir eher lieblos.
… fürs Hirn: nicht mitdenken, nicht wundern, genießen!
… fürs Herz: die Art, wie Salvador in die Pension geleitet wird.
… fürs Gedächtnis: der plappernde, lebhafte, kauzige Salvador!