Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Abonji„Es gibt immer einen Tag, an dem der Krieg vorbei ist, warum sollte dieser Tag nicht morgen sein?“
„Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten“, sagt die Mutter von Ildiko und Nomi, die seit vielen Jahren in der Schweiz leben und dort, wo die Gemeinschaft über ihren Verbleib abstimmt, eines Tages die Chance bekommen, ein Café zu führen. Sie arbeiten hart, die ganze Familie, sie arbeiten für Akzeptanz und Integration und Geld, sie arbeiten gegen die Vorurteile und gegen die Angst. Die Verwandten, die zurückgeblieben sind in Jugoslawien, leben anfangs ein wenig bescheidener und benachteiligter, aber dann leben sie plötzlich mitten im Krieg. Und Ildiko, die gerade dabei ist, einen Weg ins Erwachsenwerden zu finden, erinnert sich an die vielen Besuche in der alten Heimat als Kind, an Feste und Beerdigungen, an Mamikas Geschichten und den Geschmack von Limonaden, die es nicht mehr gibt, aber die Gefahren der Gegenwart ignoriert sie. Der Alltag von Vater, Mutter, Nomi und Ildi wird geprägt von der Arbeit im Café, von den Ansprüchen der Stammgäste, von Stoßzeiten und stickiger Luft – der Krieg zuhause bleibt außen vor, wird verdrängt. Sie können niemanden aus dem belagerten Land herausholen, sie können nur warten und hoffen.

Mit ihrem Roman Tauben fliegen auf hat die in Serbien geborene Autorin Melinda Nadj Abonji, die seit ihrem fünften Lebensjahr in der Schweiz wohnt, 2010 sowohl den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis gewonnen. Sie konnte mit Sicherheit aus dem Fundus ihrer eigenen Erfahrungen mit der Schweizer Fremdenfeindlichkeit schöpfen, die als Freundlichkeit oder Gleichgültigkeit getarnt ist. Sie erweckt jene Welt am Balkan zum Leben, die – zumindest in Teilen – verschwunden ist und aus der so viele Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz stammen, weil sie fliehen mussten vor dem Bürgerkrieg mitten in Europa. In uferlosen, überbordenden Sätzen taucht Ich-Erzählerin Ildiko ein in das Land ihrer Kindheit, schmeckt die traditionellen Gerichte der in Serbien beheimateten Ungarn, hört Mamikas Lieblingslied im Ohr: „Wenn ich ein Fluss wäre, wäre Schmerz mir fremd, zwischen Bergen und Tälern würde ich leise fließen …“ und vermischt die Gefühle jenes Lebens, das sie aufgrund der Auswanderungsentscheidung ihrer Eltern nie geführt hat, mit der Realität des Alltags in der Fremde – die inzwischen genauso Heimat ist.

Tauben fliegen auf ist ein Buch voller Wehmut und Sentimentalität, voller Sehnsucht nach etwas, das man nie hatte. Der Klappentext zitiert die NZZ und nennt Melinda Nadj Abonjis Schreiben „die zeitgemäße Form, über Emigration, entschwindende Heimat und das Leben im Dazwischen“ zu erzählen. Dieser Roman ist gefüllt mit Sätzen, in denen ich ertrinke, weil mir die Luft ausgeht, lange bevor ein Punkt am Ende in Sicht ist. Die Ich-Erzählerin ist eine genaue Beobachterin, die nicht immer prägnant formuliert, aber stets trifft: „In dieser Zeit habe ich gelernt, dass es Menschen gibt, die liefern Gesprächsstoff, und die andern, die brauchen ihn.“ Weitaus nüchterner und weniger poetisch als das thematisch vergleichbare Buch Die undankbare Fremde von Irena Brežná ist dieses Buch – aber nicht weniger gut. Dieser Roman ist wie das Statement einer Generation, die sich weit entfernt hat von ihren Wurzeln, diese aber nicht vergessen kann. Beeindruckend, gefühlvoll, schön.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist gut gemacht, der Wagen hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: noch ein Buch über dieses Thema – mag sein, aber es ist ausgezeichnet und verdient es, gelesen zu werden. Davon abgesehen, dass das Thema nun einmal ein wichtiges ist.
… fürs Herz: Ildikos erste Liebe.
… fürs Gedächtnis: die Sprachgewalt.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

McCloskeyDie unendlich vielen Spielarten der Liebe
Ein Mann, der sich zu dick fühlt, lässt sich auf eine Affäre ein, die er eigentlich gar nicht will. Ein Junge verabscheut den Mann, mit dem seine Mutter schläft und der sie zur Alkoholikerin macht, ein Mädchen hat zum ersten Mal Sex – mit dem Mann der Schwester. Was ist Liebe? Wie sieht sie aus, was bedeutet sie, wann kommt und warum geht sie? Das wissen wir nicht, und diese Fragen sind müßig, doch die Liebe ist wohl das interessanteste Thema mit der größten Bandbreite, das man sich aussuchen kann, um darüber zu schreiben und damit zu spielen. Womöglich ist sie das einzige Thema überhaupt. In elf völlig unterschiedlichen Kurzgeschichten beleuchtet die amerikanische Schriftstellerin Molly McCloskey, die in Irland lebt, ein Gefühl, das nicht zu kategorisieren ist, weil es stets in einer neuen Facette auftritt. Manche Storys würde man vielleicht zuerst gar nicht dem Überthema Liebe zuordnen, nur um dann zu erkennen, dass sie ja auch in der Eifersucht steckt und in der Begierde, die Liebe. Der Stil der Autorin ist angenehm schnörkellos und direkt, die Figuren entstehen notgedrungen – aufgrund der Kürze der Texte – in wenigen Strichen, wirken aber durchaus lebendig und glaubhaft. Erst seit diesem Jahr entdecke ich langsam Kurzgeschichten für mich, und die Qualität von Molly McCloskeys Storys hat mich darin bestätigt, meine Entdeckungsreise fortzusetzen. Schockierend und amüsant, alltagsnah und traurig sind die Geschichten, deren Motor jene Kraft ist, die uns alle antreibt: die Liebe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein ebenso merkwürdiges wie stilvolles Cover.
… fürs Hirn: viele kluge Beobachtungen der menschlichen Natur.
… fürs Herz: nun, logischerweise alles, irgendwie.
… fürs Gedächtnis: die provokante erste Geschichte über eine inzestuöse Vater-Tochter-Beziehung.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Richner„Es gab niemanden, der nach mir suchte oder mich fand“
Lucie hat viele Namen und verwendet selten ihren echten, seit sie vor Jahren das Dorf ihrer Kindheit verlassen hat. Dorthin, in den heißen Süden, kehrt sie zurück, als ihre Mutter einen Gehirnschlag erleidet, und während sie versucht, Ordnung zu schaffen im Café, das der Mutter gehört, und in dem Leben, das diese bald verlassen wird, wird Lucie von Erinnerungen bestürmt: an die endlose, quälende Hitze, an die einsamen Nachmittage, an die Zeit bei Éstelle, an den Vater, der gern exotische Pflanzen malte und presste, an die Reisen der Mutter, die immer mehr wurden und immer länger dauerten. Für Lucie wurde Éstelle, ihre leibliche Großmutter, zu einer Art Mutterersatz, und Éstelle, die das eigene Kind weggegeben hatte, vereinnahmte Lucie ganz. Voll Liebe, aber mit einem krankhaften Beigeschmack war diese Beziehung, der Lucie schließlich entkommen musste – wie ihrer ganzen trägen, traurigen Kindheit.

Sieben Jahre Schlaf ist eine kleine, sehr feinsinnige und melancholische Geschichte, in der die 1980 geborene Autorin Karin Richner von einer Frau erzählt, die das Mädchen, das sie einst war, zurückgelassen hat und zugleich nicht vergessen kann. Was mir gleich von Anfang an entgegenschlägt, ist die enorme, zähe Hitze, der die Dorfmenschen ausgesetzt sind, eine Hitze, die Gedanken nur wie Sirup durch den Kopf fließen lässt. Eine flirrende Atmosphäre überzieht den ganzen Roman, und wie Ich-Erzählerin Lucie habe ich oftmals das Gefühl, nicht atmen zu können in dieser Glut. Alles ist schon vorbei zu dem Zeitpunkt, da die Erzählung beginnt, und eigentlich ist es niemals vorbei, denn die Kindheit tragen wir alle, wie könnte es anders sein, für immer in uns. Lucie will sich den Wunden der Vergangenheit nicht stellen und muss es doch, weil das Leben sie zwingt, zurückzukommen und sich zu erinnern. Sie war eins jener Kinder, die geliebt, aber nicht mit Zuneigung überschüttet werden, und sie blieb zwischen den persönlichen Wünschen der Erwachsenen auf der Strecke. Karin Richner erzählt davon ganz unaufgeregt, sprachlich elegant und dennoch mit einer Stimme, die Gewicht hat und Klang. Sieben Jahre Schlaf ist wie ein verstörender Traum voller Szenen, die scheinbar nicht zusammenhängen und doch Sinn ergeben, voll Verzweiflung und Hoffnung zugleich, ein Traum, der an einem so heißen Ort stattfindet, dass man verschwitzt daraus erwacht. Sehr gut gemacht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover gefällt mir so gar nicht, und was der Herbst mit dem Roman zu tun haben soll, ist mir schleierhaft.
… fürs Hirn: ein altes Thema, aber eloquent umgesetzt – wie die Kindheit uns prägt und niemals loslässt.
… fürs Herz: die Einsamkeit der kleinen Lucie.
… fürs Gedächtnis: der bilgerverlag, der mir in diesem Jahr schon mit Skoda positiv aufgefallen ist.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Murgia„Die Schuld beginnt, wie die Menschen, erst in dem Moment zu existieren, in dem jemand sie bemerkt“
Maria ist eine fill’e anima, ein Mädchen mit zwei Müttern, einer leiblichen und einer, bei der sie aufwächst. „Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren wurden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.“ Bonaria Urrai, die gutsituierte Schneiderin des sardischen Dorfs, macht der vierfachen, verwitweten Mutter Anna Teresa Listru ein Angebot, das diese sofort annimmt. Und ein paar Tage später wohnt Maria schon bei Bonaria, ohne dass ihr jemand den Grund für den Umzug darlegen würde. Diese Art der offenen Adoption, bei der das Kind den Kontakt zur leiblichen Mutter weiterhin aufrechterhält, ist auf der Insel nicht unüblich. Maria zeigt sich flexibel und hängt ohnehin nicht sehr an ihrer Mutter und den Schwestern, und nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung fügt sie sich in das ruhige Leben im Haus von Bonaria. Sie darf in die Schule gehen und verbringt ihre Zeit gern mit Andria, dessen Bruder Nicola sich aus Rachsucht in eine prekäre Lage bringt. Maria bemerkt unerklärliche nächtliche Ereignisse, die mit Bonaria zu tun haben, doch das Geheimnis der Ziehmutter bleibt für das Kind lange unergründlich. Erst als Bonaria gegen ihre Prinzipien verstößt und sich in eine Geschichte verstrickt, die ihr selbst Angst macht, wird offenbar, wer sie wirklich ist: die Accabadora des Dorfs, die Frau, die gerufen wird, wenn ein Mensch bereit ist, das Leben zu verlassen, das Leben ihn jedoch nicht gehen lassen will. Maria reagiert mit Wut auf den Vertrauensbruch, und es kommt zum Zerwürfnis – nicht nur mit Bonaria …

Michela Murgia hat für ihren beeindruckenden Debütroman Anleihe bei einer alten sardischen Legende genommen, deren Wahrheitsgehalt niemand kennt. Die Accabadora, die Sterbehelferin, habe Menschen in Agonie den erlösenden Tod gebracht, heißt es. Ob es solche Frauen tatsächlich hab, ist unklar, zu groß war wohl der Zwang der Geheimhaltung, der sie umgab. Michela Murgia erweckt eine von ihnen zum Leben, gibt ihr ein Gesicht und eine Geschichte: Bonaria Urrai ist für die Aufgabe, die sie erfüllt, berufen und gleichzeitig gezwungen, ihr Folge zu leisten. Sie kommt mit dem Tod im wahrsten Sinn des Wortes in Berührung, und dass das Schicksal für sie letztlich ein Spiegel ihres Lebens wird, ist ebenso logisch wie grausam. Auf welche Weise sie die Sterbenden aus der Welt geleitet und warum sie es tut, schildert die Autorin in einigen kurzen, eindringlichen Episoden. Mit klangvollen Worten in schmalen Sätzen beschwört Michela Murgia ihre Heimat Sardinien herauf: mit Flüchen und Aberglauben, harter Arbeit und einem kargen Dasein, rituellen Festen und duftenden Backwaren wie aranzada und capigliette. Sehr ruhig und bedacht erzählt sie von einer Welt, die nicht weit im Gestern liegt und doch archaisch anmutet – unter anderem auch in dem Sinne, als dass der Tod in ihrer Mitte präsent ist und der Umgang damit nicht diskret und verpeinlicht ist wie in den meisten unserer heutigen Gesellschaften. Die Luft ist anders auf dieser Insel, schwerer, rauer, süßer, und ich mag es, wie Michela Murgias Sprache sich diesem Klima anpasst. Auf die Frage nach der Wichtigkeit unserer Wurzeln gibt sie, die selbst als fill’e anima aufgewachsen ist, mit dieser Geschichte eine mögliche Antwort: dass manchmal nicht zählt, wer einen geboren hat, sondern wer einen liebt, dass man Verantwortung übernimmt, wenn man als Mutter eine Tochter ins Haus bittet, aber auch als Tochter, wenn man das Haus dieser Mutter betritt. Accabadora ist ein in seiner Schlichtheit beeindruckendes und inhaltlich faszinierendes Buch, das mir eine rätselhafte, mythische, kühne Geschichte ins Ohr geflüstert hat vom fernen Sardinien, wo die Menschen so rau sind wie Fels.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein grandioses Foto mit einem unfassbar tiefen, traurigen Blick.
… fürs Hirn: Sterbehilfe ja oder nein? Haben die Menschen vor vielen Jahren in abgelegenen Dörfern damit weniger moralische Probleme gehabt als wir heute? Oder ist die Accabadora wirklich nur eine mythologische Figur?
… fürs Herz: kein Kitsch, kein Pathos, aber ein sehr rührender Ton.
… fürs Gedächtnis: das Ende und seine Stimmigkeit.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Sussman„Warum habe ich dann jetzt, wo ich Liebe habe, sofort Angst davor, sie wieder zu verlieren?“
„Hier ist ein guter Ort, um den Verstand zu verlieren“, sagt der französische Privatlehrer Nico zur jungen Highschool-Lehrerin Josie, die er einen Tag lang durch Paris führt. Das Konzept der Sprachschule, für die Nico genauso wie Chantal und Phillipe arbeitet, ist so einfach wie genial: Die Schüler lernen Französisch, indem sie Paris erkunden. Nico ist hinreißend und charmant, und er lenkt Josie von ihrem bleischweren Kummer ab: Der Mann, mit dem sie nach Paris kommen wollte, ist tot. Auch Nico kommt die Ablenkung durch den Flirt mit der hübschen Amerikanerin gelegen: Er ist verliebt in Chantal, die jedoch Phillipes Freundin ist. Dass Chantal mit Nico im Bett war, weiß Phillipe nicht, doch mit der Treue nimmt er es ohnehin nicht so genau: Seine Schülerin, die zweifache Mutter Riley, geht ihm auf die Nerven, ist aber in seinen Augen dennoch eine Frau, die es zu erobern gilt. Chantal dagegen hat einen sehr angenehmen Schüler, den zuvorkommenden Jeremy, der mit einer bekannten Schauspielerin verheiratet ist. Während diese in Paris einen Film dreht, verbringt Jeremy seine Zeit mit Chantal, einer Frau, die scheinbar jedem Mann das Gefühl gibt, etwas für sie zu empfinden. Ein ganz normaler Tag in Paris für die drei Privatlehrer also – und doch ist am Abend, als sie sich wie verabredet in einer Bar treffen, nichts mehr wie zuvor.

Ellen Sussman spricht mit An einem Tag in Paris eine Einladung an mich aus: Lass dich ein bisschen unterhalten, sagt sie, lass dich berieseln, schalt ab, komm nach Paris. Ich fürchte, du bist nicht ganz mein Ding, sage ich zu dem Buch und folge der Einladung nur zögerlich. Und dann geschieht, was immer geschieht, wenn Frauenliteratur richtig gut gemacht ist: Ich bin verblüfft. Denn ich habe engstirnige Vorbehalte gegen der Genre, das oft gewollt heiter und ungewollt dumpfbackig daherkommt. Doch das Schöne an diesem Roman ist: Er ist nicht aufdringlich. Er will mich unterhalten, aber nicht um jeden Preis. Vielmehr erzählt Ellen Sussman ganz flüssig und leicht drei ineinander verwobene Geschichten, zeichnet das Porträt dreier unterschiedlicher junger Menschen und macht auf liebevolle Weise das vielbesungene Paris zu einer Art interaktiven Kulisse. Ich habe heuer im April wunderbare Tage in Paris erlebt, und schon nach wenigen Seiten hat die amerikanische Autorin, die fünf Jahre in Paris gelebt hat, mich am Haken: Ich mag ihre geradlinige, simple Sprache, ich freue mich, nach Paris zurückzukehren, und ich verschlinge das Buch, dessen Einladung ich beinahe ausschlagen wollte, in Stundenschnelle. Romantisch, witzig, sehr vergnüglich und überraschend reflexiv ist es. Und ein bisschen traumwandlerisch verklärt. Wie ein Tag in Paris.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein recht liebevoll gestaltetes Cover.
… fürs Hirn: ach, nein. Wobei das Buch aber keine hirnlose Unterhaltung bietet.
… fürs Herz: jaaa!
… fürs Gedächtnis: der Limes-Verlag, der mich in diesem Jahr schon mit Sarah Winmans Buch Als Gott ein Kaninchen war sehr positiv überrascht hat.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

M„Man kann hundert Jahre mit einem Menschen leben und weiß doch nichts von ihm“
Amia und Gideon hatten das, was man unter einem guten Leben versteht: Erfolg, Geld, ein liebes Kind, ein bisschen Glück. Doch dann gibt Gideon seinen Posten als Strafverteidiger auf und nimmt sich Urlaub von eben diesem Leben, um nach Eilat zu gehen und zu fischen. Amia, die ihre Karriere als Steuerberaterin ebenfalls in den Wind geschrieben hat, um den winzigen Lebensmittelladen ihrer verstorbenen Eltern weiterzuführen, mietet mit dem fünfjährigen Nadav ein kleines Haus neben dem Wald außerhalb von Tel Aviv. Der alte Nachbar ist ein Griesgram, ein junges Mädchen, das sich die kleine russische Hure nennt, bringt Ärger, der Sommer brennt heiß, und Amia kann nichts tun außer zu warten. Ist Gideo verrückt geworden? Lässt er sie tatsächlich im Stich? „Ein Mann, der einen guten Platz vorn im Autobus gehabt hatte und plötzlich beschloss, auszusteigen und der seither keinen richtigen Platz fand.“ Amia braucht ihren Mann – und spürt, dass sie kein Recht auf ihn hat. „Was gibt es zu verstehen?“, sagt Gideon, „die Dinge geschehen einfach, man braucht keine geheimnisvollen Gründe zu suchen.“ Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn Geheimnisse gibt es sehr wohl: Erst entdeckt Amia das Geheimnis ihres einsamen, traurigen Nachbarn, und schließlich wird auch offenbar, was Gideon zu verbergen suchte.

Mira Magén ist eine der bedeutendsten Autorinnen Israels und wurde bereits mehrfach für ihr wichtiges Werk ausgezeichnet. In Wodka und Brot erzählt sie von einem jungen Ehepaar, das – mitten in den allezeit präsenten politischen Wirren Tel Avivs – vom Weg abweicht und abkommt und sich verirrt. Plötzlich stellt sich die Frage: Wie stark bindet einen die Verpflichtung, die man dem anderen gegenüber eingegangen ist? Kann man jemanden zum Bleiben zwingen, wenn er gehen will? Die völlige Halt- und Orientierungslosigkeit, die Ich-Erzählerin Amia spürt, prägt den gesamten Roman. Seltsam mäandernd und gleichfalls haltlos ist Mira Magéns Sprache, die mir die Füße umwickelt wie weiches Leder und mich mitnimmt auf den Marsch durch dieses Buch. Es gelingt mir nicht immer, Amia zu folgen – wie sie selbst verliere ich an manchen Wegkreuzungen die Orientierung, bleibe immer wieder stehen, um die leuchtende Vielfalt der Stadt zu bestaunen, werde unterwegs aufgehalten und vergesse, wohin ich eigentlich will. Ich muss mich stets stark konzentrieren, um nicht aus diesem Roman zu fallen. Wir beide würden aus dem Labyrinth dieser Geschichte nicht mehr herausfinden, gäbe es nicht Nadav, den Jungen, der alles sieht und wenig versteht und der seine Mutter braucht. Er ist Amias Anker und verhindert ihr Abdriften. Er ist der Beweis, dass Kinder uns, wenn wir Glück haben, festhalten im Leben, im Hier und Jetzt, mit ihren kleinen Händen und ihrer Bedürftigkeit. Vielleicht ist dies die einzige Liebe, die uns retten kann.

Der Weg mit Amia ist anstrengend. Ich sehe sie oft von der Seite an, während sie harmlos lächelt und die Sorgenfalten neben ihren Augen ihre wahren Gefühle verraten. Sie wartet, merkwürdig stumm und antriebslos, denn im Angesicht einer drohenden Katastrophe verlässt uns oft jede Kraft zu handeln. Ich lasse mich ablenken von den Blicken in eine fremde Stadt und eine fremde Kultur, die Mira Magén mir schenkt, ich schmecke Oliven, Käse, bittere Orangen, ich spüre die Gefahr, die mit jedem Atemzug in meine Lungen dringt. Mira Magéns Roman ist lebendig, schillernd, fordernd und klug. Lange Zeit frage ich mich, was die Autorin mir sagen will mir ihren gezielt gesetzten, starken Worten, wie die Botschaft lautet hinter dieser Geschichte rund um das Zersplittern einer Ehe, den größtmöglichen Verlust und einen kleinen Hund namens Wodka. Am Ende stelle ich fest, dass ich es nicht weiß. Dass das aber auch nichts macht. Denn „das Leben nimmt seinen Lauf und nichts hängt mit nichts zusammen“.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr schönes, gefühlvolles Bild.
… fürs Hirn: die Frage nach der Selbstbestimmtheit unseres Lebens.
… fürs Herz: dass die Zeit, in der man bereits weiß, dass man bald etwas verlieren wird, den Schmerz vervielfacht.
… fürs Gedächtnis: die unbestimmte Verlorenheit, die das ganze Buch durchwirkt.

Wodka und Brot von Mira Magén ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-24923-2, 400 Seiten, 16,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Lüg nur, wenn es sein muss, aber dann lüg das Blaue vom Himmel herunter“
Nach diesem Motto leben Della und ihre gesamte Familie. In ihrem riesigen verwinkelten Haus hecken Della und ihr Vater, ihr Bruder, Stiefmutter Ruby sowie die zahlreichen Cousins kleine und große Coups aus. Sie sind Betrüger und Diebe, stets auf der Suche nach einer neuen Idee, um auf möglichst originelle Weise an möglichst viel Geld zu kommen. Sie sind Zauberkünstler in Sachen Verstellung, sie wechseln ihre Identitäten, und sie sind ein eingespieltes Team. Dellas Plan ist es, als vermeintliche Wissenschaftlerin an ein hochdotiertes Stipendium zu kommen, das der Unternehmer Daniel Metcalf vergibt. Sie glaubt, dass der reiche Schnösel sich leicht überlisten lässt – und täuscht sich gewaltig. Der gutaussehende Daniel fordert die junge Frau, die eine Meisterin der Lüge ist, heraus, und Della gerät in Gefahr, bei ihrer Farce – der angeblichen Suche nach dem Tasmanischen Tiger – aufzufliegen. Sie legt sich ins Zeug, um Daniel für sich zu gewinnen, und muss dabei mit unerwarteten Widrigkeiten wie ihrem eifersüchtigen Freund Timothy, einem Wochenende in der Wildnis, ihrem zunehmend verwirrten Vater und unbekannten Familiengeheimnissen kämpfen.

Toni Jordan erzählt in Die schönsten Dinge eine überraschend unterhaltsame Geschichte mit einer überaus sympathischen Heldin. Wenn es „Frauenliteratur“ sein muss, dann bitte so und nur so: niveauvoll, pfiffig, mit einer Prise Erotik und viel Sprachtalent. Schon auf den ersten Seiten bin ich absolut verblüfft – und sofort gefesselt von der originellen Story rund um das schlaue Gaunermädchen Della, das sich im eigenen Lügennetz verstrickt. Die Handlung ist nicht so verkopft, wie es in der Inhaltsangabe womöglich klingt, sondern mitreißend und schlau konstruiert. Ich lerne mit Della zusammen den ebenso charmanten wie attraktiven Daniel kennen, der uns gleich um den Finger wickelt, auch wenn wir es voll Stolz nicht zugeben wollen. Und als uns langsam dämmert, dass er auch ein doppeltes Spiel spielt, wollen wir unbedingt sein Geheimnis ergründen. Und vielleicht ein bisschen mit ihm knutschen.

Dieses Buch stimmt mich fröhlich. Die quirlige, ideenreiche, kleinkriminelle Familie besteht aus zahlreichen kuriosen Gestalten, der Dynamik der Geschichte kann ich mich nicht entziehen, und dem Gefühlschaos von Della zu folgen, macht mir richtig Spaß. Die Dialoge sind schlagfertig, die Stimmung ist heiter, es prickelt, und ich darf mich einen ganzen Roman lang einfach nur amüsieren – fast ohne einen einzigen schwermütigen Gedanken, und das tut so gut wie ein langes heißes Bad nach einem kalten Wintertag. Allerfeinste Unterhaltungsliteratur, richtig gut gemacht!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist mir ein Rätsel, geht es doch um einen Tiger, der bekanntlich keine Federn hat. Auch den Titel finde ich eher unpassend, er wird dem Buch nicht gerecht.
… fürs Hirn: gar nicht wenige, gut recherchierte Fakten rund um Biologie.
… fürs Herz: ja, ja, ja!
… fürs Gedächtnis: meine eigene Begeisterung über diesen leichten, aber nie seichten Roman.

Die schönsten Dinge von Toni Jordan ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 9783492054652, 288 Seiten, 19,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

In Worte gefasste Sentimentalität
In manchen Augenblicken trifft einen eine wichtige Erkenntnis. Zum Beispiel, dass man alt ist. Was tut man in so einem Moment? Tihomir beschließt in logischer Konsequenz, in die eigene Vergangenheit zu reisen: Er animiert seine ehemaligen Klassenkollegen dazu, die Maturareise von 1961 auf einem Schiff zu wiederholen. „Damals waren wir neunzehn, jetzt waren wir achtundsechzig“: Ein ganzes Leben haben die früheren Freunde ohne einander verbracht, aber ihre gemeinsamen Erinnerungen verbinden sie bis heute. Mit von der Partie ist Senka, die Tihomir einst über die Maßen liebte: „Eines Nachts, als es sehr heiß war, träumte ich, dass es Senke nicht gäbe. Dass sie nicht einmal geboren wäre. Die Verzweiflung, die ich in diesen wenigen Sekunden des Traumes empfand, zeugte davon, in welchem Ausmaß ich mich an sie gebunden hatte.“ Viele Jahre haben sie sich nicht gesehen, und vieles ist ungeklärt zwischen ihnen. Ihre gemeinsame Geschichte ist geprägt von Sex, Missverständnissen, Gewalt und Traurigkeit. „Sie hält mich fest umarmt, und mir war sofort klar, dass ich sie auch heute noch lieben könnte, obwohl die damaligen Argumente längst ihren Glanz verloren hatten.“ Während dieser besonderen Reise, auf der die Alten trinken, feiern, sich unterhalten und streiten, erzählt Tihomir in Rückblenden von seinem Leben – von seiner Kindheit und den wilden Streichen mit seinen zwei besten Freunden, von den Lebensumständen im Zagreb der 1950er-Jahre im Umkreis der „Sohnwitwen“, die ihre Söhne bei Partisanenkämpfen verloren hatten, von seinem Studium und der Arbeit als Gynäkologe und von der intensiven, zerstörerischen Beziehung zu Senka.

Auf 537 Seiten umfasst der kroatische Autor Zoran Ferić ein ganzes Leben und betrachtet es durch den wehmütigen Filter des Alters. Dabei porträtiert er nicht nur einige Figuren – allen voran den Protagonisten Tihomir –, sondern auch eine versunkene Zeit, die Zeit des Kommunismus in Kroatien, wobei Politik und Gesellschaft eher einen stimmigen Rahmen für die eigentliche Geschichte bilden, statt im Fokus zu stehen. Dort liegt vielmehr ein Leben auf dem beleuchteten Seziertisch, ein Leben, das seinem Ende zugeht und das der Autor mir Stadium für Stadium zeigt: Kindheit, Jugend, erste Liebe, erster Rausch, absolute Verlorenheit und einträchtige Harmonie, Affären, Verlust, eine Ehe, Kinder. Reich ist dieses Leben, reich an kuriosen Begebenheiten und erinnernswerten Ereignissen. Ich darf mit Tahomir tief in seine Vergangenheit eintauchen, ich lerne ihn als Jungen kennen und verfolge seine Entwicklung zum Mann, der er am Ende seiner Reise, an Deck des altersschwachen Kahns, ist. Dies ist der Ausgangspunkt, diese überaus sentimentale Reise, und da das Buch von dieser rückblickenden, bewertenden, abwägenden Warte aus erzählt wird, schwingt ein sehr abgeklärter, aber auch sehr sehnsüchtiger Klang mit. Sehnsucht hat Tihomir nach jenen Jahren, in denen er noch nicht alt war, in denen er noch Überraschungen erlebte, in denen es ihm das Herz zerriss vor Liebeskummer. Denn seine Liebe zu Senka war voller Eifersucht und Handgreiflichkeiten, voller wildem Sex – sogar in einer Dreiecksbeziehung – und großen Versprechen, die allesamt gebrochen wurden.

Bei aller Sentimentalität verblüfft Zoran Ferić mich mit seinem rauen Matter-of-fact-Ton. Er legt den Finger in jede einzelne Wunde seines Romanhelden und hat keinen Moment lang Mitleid mit ihm. Das muss er auch nicht, und es macht die Geschichte, die er vor mir entblättert, realistisch und interessant. Insgesamt faszinieren mich die Rückblenden wesentlich mehr als die Kapitel über die Schiffsreise, die mir eher drögen Dialogen und zwar schwarfsinnigen, aber auch überflüssigen Beobachtungen über die vielen teilnehmenden Nebenfiguren aufwarten. Es ist, als säße ich neben all den schnatternden Alten in der Schiffsbar, hätte aber die Ohren auf Durchzug geschaltet und würde nur ab und zu nicken und zustimmend „Hm“ brummen. Die Berichte aus Tahomirs Leben sind schillernder, dynamischer und zum Teil – da der Sex im Buch sehr stark im Mittelpunkt steht – fast schon prickelnd, wäre nicht stets eine Prise Verzweiflung gegeben. Viele metaphorische Sinnbilder durchziehen dieses Buch, das Land, das Schiff, die Menschen selbst haben an Glanz verloren, sie standen einst für das sozialistische Jugoslawien sie waren dessen Elite, heute blicken sie zurück auf den Zerfall. Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr ist ein groß angelegter, farbenprächtiger, melancholischer, morbider und sarkastischer Roman. Eine hervorragende Leistung!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sensationell tolles Cover und ein sagenhaft genialer Titel!
… fürs Hirn: besonders an Jahrestagen und Jubiläen fragen wir uns: Was hab ich gemacht bisher? Was hab ich erreicht im Leben, welche Fehler hab ich gemacht? Was gibt es zu bereuen – und wann war ich glücklich?
… fürs Herz: Wehmut, sehr viel Wehmut.
… fürs Gedächtnis: “Die Menschen denken für gewöhnlich, dass das Leben eines Mannes, dem sich das Glück in derart kleinen Portionen schenkt, verfehlt ist. Die eigene Unerstättlichkeit verlangt von uns etwas Dauerndes und lange Währendes. Zeit und Intensität standen hier umgekehrt proportional zueinander. Je seltener diese Augenblicke waren und je kürzer sie dauerten, desto größer war ihre Intensität und desto stärker blieben sie im Gedächtnis bewahrt.”

Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr von Zoran Ferić ist erschienen im Folio Verlag (ISBN 978-3-85256-609-2, 538 Seiten, 24,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Wie alt darf man sein, wenn man noch Titten sagen will?“
Das fragt Mr. Forbes seine Frau, die ihn auf jeden Fall als für zu alt befindet. Für das Wort Titten und jegliche weiterführende Ideen. Weshalb Mr. Forbes ins Internet flüchten muss, wo er alles findet, was ihm Spaß macht. Spaß hat auch sein Sohn Graham – allerdings mit Männern. Weshalb er in der Hochzeitsnacht mit seiner Angetrauten Betty – die zwar das falsche Geschlecht, aber viel Geld hat – ausgiebig den eigenen Hintern im Spiegel betrachten muss, um auf Touren zu kommen. Wohin das alles führt? Zu einer ziemlichen Schweinerei. So eine erlebt auch Mrs. Dickinson, eine ältere Witwe, die sich ihr Geld als Laienschauspielerin im Krankenhaus verdient, wo sie vor Studenten die Kranke mimt. Da der Verdienst nicht reicht, vermietet sie ein Zimmer an ein Studentenpärchen. Was allerdings ihre Haushaltskassa nicht aufbessert, denn das Pärchen will statt mit Geld lieber mit einer ungewöhnlichen Vorstellung bezahlen: Die beiden wollen Sex haben – und Mrs. Dickinson soll zusehen …

So ein Schweinkram! Der Titel ist in Alan Bennetts zwei „unziemlichen Geschichten“ Programm. Der fast 80 Jahre alte Brite zeigt darin seine Landsleute von einer vermeintlich überraschenden Seite, gelten sie doch gemeinhin als reserviert und prüde. Was natürlich – Verzeihung – Bullshit ist. Denn in Englands Betten geht es mit Sicherheit genauso rund wie in denen anderer Länder. In manchen zumindest. Und es macht außerordentlich viel Spaß, mit Alan Bennett ein bisschen durchs Schlüsselloch zu schnurken und zuzuschauen. Er schreibt mit jenem feinsinnigen, intelligenten Humor, für den die Briten noch berühmter sind als für ihre Zugeknöpftheit. Und der mir sehr zusagt. Ich fühle mich wie ein staunender Teenager, weil stets etwas Unerwartetes passiert, das mich zum Kichern bringt. Gern hätte ich noch mindestens zehn Geschichten oder mehr von Alan Bennett gelesen, in denen Menschen ihrer Fantasie freien Lauf lassen, ihre Geheimnisse mehr oder weniger geschickt verbergen und ihren Sehnsüchten Untertan sind. Ein besonders prickelnder, schlauer, amüsanter und origineller Lesegenuss!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
erotisches Rot, Blümchentapete und Guckloch – das Cover geht mit dem Inhalt konform!
… fürs Hirn: die perfekte Mischung aus purem Spaß und hinterlistigem Witz.
… fürs Herz: kein Kitsch oder Herzschmerz, aber filigrane Beziehungskonstrukte.
… fürs Gedächtnis: das Vergnügen!

Schweinkram von Alan Bennett ist erschienen im Wagenbach Verlag (ISBN 978-3-8031-1287-3, 144 Seiten, 15,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Liebe, so banal und großartig wie jede
„Bis auf das Leben und seine zähe Konstitution hatte er so ziemlich alles, was man verlieren kann, verloren: Arbeit, Haus, Frau, Kind, Sparbücher, Haar.“ Sperber lebt an einem rauen Küstenort in der Bretagne, wo er sich eingerichtet hat in einem ereignislosen, faden Alltag. Dessen Tristesse wird jäh unterbrochen, als er eines Tages am Kai einer blonden Frau begegnet, die ihn – ohne ein Wort – küsst. Sperber ist verwirrt und zornig und voller Sehnsucht. Er will die Frau, sie möge Luchs heißen, zur Rede stellen. Er findet sie in Paris, doch die Worte verlassen ihn bei ihrem Anblick: „Sie gingen aufeinander zu. Und während sie nun voreinander standen und sich zum ersten Mal wirklich ansahen, wölbte sich bläulich über ihren Köpfen die Ahnung des noch zu lebenden Lebens, des zu Erfahrenden, der ungeheuren Vielfalt des miteinander Möglichen. Noch war das erste Wort nicht gesprochen. Noch standen sie auf einer Brücke im Nichts und hielten sich mit den Augen.“ Viel Zeit ist den beiden nicht vergönnt, das Schicksal zeigt ihnen, wie glücklich sie sein könnten – und schlägt ihnen hämisch grinsend die Tür vor der Nase zu.

Anne Weber ist eine sanfte und behutsame Erzählerin. Sie hat zwei Menschen entworfen – und mit den absurden Namen Sperber und Luchs ausgestattet, die tierische Eigenschaften heraufbeschwören –, denen das Romantischste passiert, was unsere Gegenwart kennt: Liebe auf den ersten Blick. Eine Zuneigung, die keiner Erklärung bedarf. Seelenverwandtschaft, die beide überwältigt. Das ist keineswegs neu oder originell – aber überaus kraftvoll und berührend erzählt. Ich mag gar nicht hinsehen, so kitschig ist der Entwurf, und ich muss es doch tun, weil Anne Weber mich mit einem glitzernden Netz aus weichen Sprachfäden eingefangen hat. Sie lächelt mich nonchalant an, weil sie weiß, dass sie schreiben kann. Niemals sonst hätte sie sich an ein derart ausgelutschtes Thema gewagt – und sich eine Liebe erdacht, die über Sperber, Luchs und mir zusammenschlägt wie das Meer. Eine Zufallsbegegnung, ein vermeintlich willkürlicher Kuss – und ich fange, natürlich, an zu träumen. Sperber und Luchs sind nicht länger müde, nein, die Liebe macht sie lebendig. Und die Sprache fängt diese Lebendigkeit perfekt ein, selbst die Bettszenen werden zum literarischen Ereignis.

Allzu rasch bereitet Anne Weber allen Träumereien ein Ende. Was sie tut, bringt Sperber und mich zur Verzweiflung, gar so sinnlos erscheint es. Und als er sich in einer jenseitigen Traumwelt verliert, mag ich ihm nicht folgen, weil ich fremde Traumwelten verwirrend, unzugänglich und überaus anstrengend finde, vor allem, wenn sie sich mit der Realität verschränken und alle Grenzen verschwimmen. Am Ende des Buchs habe ich das Tal der Herrlichkeiten notgedrungen längst verlassen, aber ich kehre gern an den Anfang zurück, an den Kai, zu der Einsamkeit, die von einem Kuss aufgebrochen wurde, zu der Wortkunst der Autorin. Nie geht im Leben etwas gut, niemals – aber hoffen darf man, hoffen und die Augen vor der Wahrheit verschließen. So lange es geht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
eine gewagte, auffällige Farbkombination.
… fürs Hirn: wenn du glaubst, es könnte Happy Ends im Leben geben – dann hör auf damit.
… fürs Herz: Herz und Hirn leben getrennt, denn das Herz wünscht sich trotzdem ein gutes Ende.
… fürs Gedächtnis: der schwere, erzerne, melodische Sprachklang, der tief geht.

Tal der Herrlichkeiten von Anne Weber ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-10-091062-2, 252 Seiten, 18,99 Euro).