Gut und sättigend: 3 Sterne

Carrere„Du als Schriftsteller, wirst du über all das schreiben?“
Dass ihr Hotel auf der „richtigen“ Seite des Strandes steht, rettet dem Schriftsteller Emmanuel Carrère und seiner Freundin Hélène sowie ihren jeweiligen Söhnen das Leben: Sie befinden sich 2004 während des Tsunamis auf Sri Lanka. In den Tagen, die auf die Riesenwelle folgen, erleben sie das Leid derer, die einen geliebten Menschen verloren und selbst überlebt haben, sie sehen Berge von Leichen, und sie, die sich gerade noch trennen wollten, sind derart erschüttert, dass ein ganz neuer Zusammenhalt zwischen ihnen entsteht: „Wir spürten, wie zerbrechlich unsere Körper waren. Ich sah den von Hélène an, so schön, so erschöpft von Müdigkeit und Schrecken. (…) Ich dachte: Sie könnte tot sein. Sie ist kostbar für mich. So kostbar. Ich möchte, dass sie eines Tages alt ist und ihre Haut müde und schlaff und dann möchte ich sie immer noch lieben.“ Wieder zuhause, wartet alsbald die nächste Tragödie: Hélènes Schwester Jeanette stirbt an Krebs. Ihre drei kleinen Töchter und ihr Mann Patrice bleiben allein zurück. Emmanuel erlebt das Geschehen unmittelbar, beobachtet es aber stets auch von außen: „Ich war und bin Drehbuchautor, mein Handwerk besteht unter anderem darin, dramatische Situationen zu konstruieren, und eine der Regeln dieses Berufs ist, keine Angst vor Übertreibung und Melodramatik zu haben. Und doch glaube ich, dass ich mir in einem fiktionalen Werk verboten hätte, etwas so unverschämt Tränenrühriges zu erfinden wie kleine Mädchen, die auf einem Schulfest tanzen und singen, während ihre Mutter gleichzeitig im Krankenhaus im Todeskampf liegt.“ Aber das Leben ist erbarmungslos, und Emmanuel hat sich selbst zum Berichterstatter gemacht – er gibt auch weiter, was ihm Jeanettes Arbeitskollege Étienne erzählt über seine Krebserkrankung, seine Amputation, seinen Beruf als Richter. Was uns all das sagt? Dass es jeden Tag ein Glück ist, wenn man noch mal davongekommen ist.

„Ich mag Auslassungen nur als Stilmittel, und auch nur, wenn ich sie richtig einordnen und genügend kontrollieren kann, sonst machen sie mir Angst. Vielleicht, weil es in meinem Leben einen Riss gibt. Und weil ich hoffe, ihn reparieren zu können, indem ich das Grundgerüst dieses Lebens so detailreich wie möglich beschreibe.“ Emmanuel Carrère, Tausendsassa in den Bereichen Regie, Drehbuch und Schriftstellerei, erzählt in Alles ist wahr genau das: alles, was passiert ist. Er tut dies mit chirurgischer Präzision und einer faszinierenden Mischung aus emotionaler Involviertheit und kritischen Distanz, die fast ein wenig makaber wirkt. Während der Lektüre fange ich an, nachzudenken, wie mein Leben klingen würde, fasste ich es auf so banale und zugleich lesenswerte Weise in Worte (wäre ich dazu fähig). Für mich ist alles, was Carrère schreibt, trotz des Wahrheitsgehalts Fiktion, weil ich keine der Figuren, deren Geschichten zwischen diese Buchdeckel gepresst sind, persönlich kenne, sie bleiben Romancharaktere für mich. Interessant finde ich Emmanuel Carrères Art, die Wahrheit zu sagen und die Lücken im Erlebten – die Gefühle und Eindrücke der anderen, die er nicht wissen kann – mit seiner Fantasie zu füllen, während er mich zugleich nie vergessen lässt, dass er eben genau das tut. Der Schreibprozess an sich ist stets Thema im Text. Das ist manchmal irritierend, manchmal auch schmerzhaft, weil es zeigt: Nichts ist erfunden, all diese Menschen sind wirklich gestorben. Dieses Buch ist ein kleines Stück Lebensgeschichte, ein Abbild, ein Ausschnitt von ein paar wenigen Schicksalen auf diesem Planeten, aufgezeichnet und festgehalten, um sie erinnerbar zu machen, greifbar, wenn auch nur auf dem Papier. Alles ist traurig, alles ist schön, alles ist wahr.

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Alles ist wahr von Emmanuel Carrère ist erschienen im Matthes & Seitz Verlag (ISBN 9783882219517, 247 Seiten, 19,90 Euro).

Was andere über dieses Buch sagen:
„Alles ist wahr passt in unsere krisenhafte Zeit. Nicht nur, weil Carrère von existentiellen Verunsicherungen erzählt, sondern auch, weil er das mit dem Anspruch unironischer Aufrichtigkeit tut“, heißt es auf spiegel.de.
„Alles, was wir erleben, alles Leid und jede Geschichte, ist in ihren Facetten wahr, so, wie wir sie erleben. Und sie ist es wert, erzählt zu werden. Kaum jemand kann das heutzutage besser als Emmanuel Carrère“, schreibt Sophie von literaturen.
Und bei ocelot.de könnt ihr den Roman bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

HischmannPeng! Peng! PENG!
„Ich sitze zwischen Jan und Maria, und es fühlt sich an, als müsste es genau so sein.“ Als Kinder hatten sie eine Bande, Jan, Maria und Max. Dann hat Max versucht, Jan umzubringen, und Maria wurde seine erste Freundin. Das alles ist jedoch Jahre her, und die drei haben längst keinen Kontakt mehr. Erst als Max, inzwischen 29 und Lehrer, in sein Heimatdorf fährt, um den Hund zu hüten, während die Eltern im Urlaub weilen, laufen die ehemaligen Freunde einander über den Weg. Jan und Maria leben auf einem alten Hof, den Jan geerbt hat, zusammen mit anderen Freunden, sie bauen Gemüse an, trinken viel Wein, genießen den Sommer. Max lässt sich anstecken vom Easy-going-Lebensgefühl, das hier herrscht: „Schon wieder Weißwein, schon wieder Nebel im Kopf. Ich hab bereits Maria geküsst und Julia und Pelle und außerdem zweimal die Wahrheit gesagt.“ Er hat außerdem Bock, Jan zu küssen, denn Max legt sich nicht fest, er bevorzugt nicht Männlein oder Weiblein, er nimmt beides. So verbringt er feine Sommertage mit seinem schwulen besten Freund Valentin, der eigens angereist ist – bis eine furchtbare Nachricht seinem ganzen lockeren Lebensstil ein jähes Ende setzt.

Fabian Hischmann, Jahrgang 1983, hat mit seinem Debüt auf sich aufmerksam gemacht und fand sich mitten in einer Debatte darüber wieder, dass, so heißt es, die akademischen Schreibschulen langweilige Literatur hervorbringen. Fabian Hischmann hat an diesen Schulen studiert, und wer in die Debatte einsteigen will oder sich für die Hintergründe interessiert, sollte sein Buch am besten einfach selbst lesen. Immerhin war es auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Mich hat der Titel zum Buch hingezogen, und als ich es in der Hand halte, gefällt mir auch das Cover außerordentlich gut: Transparent aufgedruckt ist „Peng“, ein Schuss, ein Geräusch, das immer wieder auftaucht im Roman, als Hinweis, Schrecksekunde, Einbildung. Und dann lerne ich Max kennen: Ende zwanzig, falscher Beruf, unverheiratet, kinderlos, sexuell flexibel, sehr schweigsam, sehr phlegmatisch. Als die Ferien beginnen, weiß er nichts mit sich anzufangen – außer fernzusehen und an seinem Schwanz rumzufummeln. Auch wenn er keine Lust drauf hat, den Hund zu bemuttern, bedeutet der Ausflug in seine Vergangenheit doch auch eine willkommene Abwechslung. Denn bevor man 30 wird, lässt man ja gern das bisherige Leben Revue passieren, sondiert die Lage, wägt ab, grübelt, fragt sich, wohin die Reise führt. Max führt sie recht überraschend nach Griechenland und nach New York und letztlich ein Stück weit zu sich selbst – ein bisserl Coming of age eben.

Es gibt Momente, da bin ich ganz bei Fabian Hischmann und seinem Protagonisten, mit dem er ganz zugespitzt den Zeitgeist einfängt und das Lebensgefühl einer Generation porträtiert: nur nicht festlegen, ein bisschen jobben, ein bisschen Sex, no strings attached. Und das wäre in Max‘ Fall sicher noch eine Weile gutgegangen, aber der Autor haut ihm das Hackl zwischen die Beine – damit halt was passiert in seinem Leben und in diesem Buch. Es gibt allerdings auch Momente, in denen der Autor mich völlig verliert und ich mich frage: WTF? Das liegt an der allgemeinen Orientierungslosigkeit von Max, der sich treiben lässt, anstößt, zurückrudert, überhaupt keinen Plan hat. Zwischendrin hab ich einfach keine Geduld mehr mit diesem Roman, vor allem in der New Yorker Episode, die mir überzogen und überflüssig zugleich erscheint. Sprachlich gesehen ist das Buch kühl, ein wenig unnahbar, manchmal steif trotz der Kraftausdrücke und des jugendlichen Jargons, der alles auflockern soll. Aufgrund der Einfachheit und Klarheit der Sprache ist der Roman jedoch sehr gut zu lesen, die Kapitel sind kurz, die Struktur unkompliziert. Das finde ich gut, aber mir fehlt ein wenig die Raffinesse. Am Ende schmeißen wir mit Gold ist wie Max selbst: interessant, bis zu einem gewissen Grad originell, letztlich aber irgendwie austauschbar, ohne richtige Ecken und Kanten, ohne wirklich tiefe seelische Abgründe. Glänzend getroffen hat Fabian Hischmann die sommerliche Leichtigkeit, das Jungsein, das Herumvögeln. Es gibt also durchaus ein Peng! Wenn auch ein sehr leises.

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Am Ende schmeißen wir mit Gold von Fabian Hischmann ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1148-0, 256 Seiten, 18,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Die Rezension zum Buch in der Zeit lesen.
Dem Autor beim Lesen zusehen.
Den Roman auf ocelot.de bestellen.

Andere Bücher über das Erwachsenwerden:
Mikael Niemi: Populärmusik aus Vittula
Paola Predicatori: Der Regen in deinem Zimmer
Jan Christophersen: Echo

Gut und sättigend: 3 Sterne

Schubiger„Man kann das nicht erzählen. Sie wärmten sich mit ihren Leibern, die beiden Menschen“
Paul ist etwas zugestoßen, eine Krankheit, ein Koma, und während der Körper in der Reha seine Funktionen wieder erlangt hat, sind im Gedächtnis Löcher zurückgeblieben: „Pauls Erinnerung war meist nicht verdunkelt oder erloschen, sondern bloss ein wenig defekt.“ Paul kann nicht zurück an den Schreibtisch im Büro, er war Journalist, hat sich aber, so glaubt es sein Chef, zu sehr verloren in den eigenen Reportagen. Pauls Frau Marion hat ihn zwar nicht verlassen, ist aber auch nicht mehr so richtig da: Sie steht ihm bei seiner Genesung zur Seite – wenn sie nicht gerade Zeit mit einem anderen Mann verbringt. Die Liebe existiert noch, liegt allerdings begraben unter der Last, die Pauls Anderssein für die Ehe bedeutet. Er hat viel vergessen und muss sich wieder bewusst machen, was das meint, das Leben. Er spaziert durch die Welt, betrachtet sie, denkt sie: „Pauls Kopf war nicht wählerisch in seinen Gedanken. Er ging vor sich hin. Er hätte singen mögen, unterliess es aber. Wenn er so weitermachte, lernte er noch fliegen.“ Es gibt auch ein Kind in Pauls Leben und eine andere Frau, Claire, der er eines Tages zu ihrer Wohnung folgt, und die ihn hineinlässt, einfach so: „Wurden sie ein Liebespaar?, fragte er. So kann man das nicht sagen. Es war das alte Unglück und die neue Not, die sie zusammenbrachte.“

Der Schweizer Autor Jürg Schubiger, der früher als Psychologe gearbeitet hat und vor allem für seineKinderbücher bekannt ist, erzählt in Nicht schwindelfrei von einem Mann, dem Erinnerungen abhandengekommen sind – und den das gar nicht stört. Die Versehrtheit hat Paul zurückgeworfen auf eine naive, freundliche Kindlichkeit, er sieht sich die Welt an und teilt sie nicht mehr ein in die alten, stupiden Kategorien, er sieht sich die Welt an und freut sich, dass es sie gibt. Seiner Frau gefällt das nicht, sie hätte gern einen Mann, der rundum funktioniert, und sucht ihn sich deshalb woanders. Und es wirkt, als seien auch Pauls Gefühle defekt, denn das verletzt ihn nur am Rande, alles ist ihm entwischt, alles muss er sich neu aneignen, er grübelt, überlegt, beobachtet, betastet: „Für alles stand ein Wort bereit: Frühblüher, Hautflügler, Patientenverfügung. Die Wörter waren schon fertig da, ausnahmslos alle, bevor man überhaupt zu reden anfing. Das Reden brachte sie immerhin ein wenig ins Wackeln.“

Nicht schwindelfrei ist ein Büchlein, ein Geschichtlein. Freilich ist es nicht möglich, auf 112 Seiten einen Charakter so zu beleuchten, dass ich als Leserin ihn kennenlerne mit all seinen Facetten. Das finde ich schade, es hätte mir gefallen, mehr zu erfahren über Paul, Marion und Claire, mehr in die Hände gelegt zu bekommen als nur dieses Mosaikstück. Es bleibt mir überlassen, die Geschichte weiterzudenken in ihren Möglichkeiten, und angeblich schätzen Stammleser dies an Jürg Schubiger, aber ich bin vielleicht denkfaul, ich hätte sie ganz einfach lieber noch weitergelesen. Melancholisch ist diese Erzählung, traurig nicht, eher kindlich-hoffnungsfroh, heruntergebrochen auf das Essenzielle. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Nur zu leben. Einfach so.

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Nicht schwindelfrei ist erschienen im Haymon Verlag (ISBN 978-3-7099-7139-0, 112 Seiten, 17,90 Euro).

Was ihr tun könnt:
Mehr über Jürg Schubiger erfahren.
Im Bücherwurmloch nach anderen Schweizer Autoren suchen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

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Gut und sättigend: 3 Sterne

Christophersen„Er und sie, der Weggeher und die Zuhausebleiberin“
„Liebe Gesa, ich habe eine Entdeckung gemacht, die Dich sehr wahrscheinlich nicht überraschen wird: Ich ertrage keine Schlüsse. Anfangen ist immer leicht, Schlussmachen schwer. Vermutlich deshalb meine Begeisterung fürs Echo? Das Unvermeidliche noch etwas hinauszögern, indem man es verlängert und langsam ausklingen lässt …“ Das schreibt Tom 2004 an Gesa, auf einer seiner Postkarten, von denen er über die Jahre viele geschickt hat seit jener ersten von der polnischen Ostsee 1989. Damals war Tom 15 und Gesa 17, er spielte schon leidenschaftlich gern und gut Gitarre, sie fand ihn anfangs lästig, dann interessant. Während Gesa zuhause in Flensburg eine Familie gründet und Tom mit seiner Band tourt, halten sie ihre Freundschaft aufrecht. Eine Freundschaft, die erst durch die Distanz zu funktionieren scheint, denn Tom ist in der Nähe verschlossen und unkommunikativ. Darunter leidet in all den Jahren besonders Aga, die sich an der Ostsee in ihn verliebt hat, und auch Gesa bekommt seine Kälte zu spüren – nach einem Zwischenfall bei ihrer eigenen Hochzeit …

Der deutsche Autor Jan Christophersen, der mich mit seinem Debüt Schneetage von 2009 außerordentlich beeindruckt hat, ist ein sparsamer Schriftsteller. Er wirft weder mit Worten noch mit Gefühlen um sich, er schreibt leise und vorsichtig, klug und bedacht. In seinem zweiten Buch Echo porträtiert er eine Freundschaft, die seltsamerweise umso enger zu sein scheint, wenn die Freunde einander nicht sehen. Tom, der erfolgreiche Gitarrist, drückt sich durch seine Musik aus, und Gesa, die ihn gut kennt, hört zu und versteht. Ist Tom da, ist er schweigsam und verweigert Umarmungen, offenbart nichts Wichtiges, macht Smalltalk mit Gesas Mann. Er inszeniert sich als Einzelgänger und vermeidet Bindungen an andere Menschen. Gesa gibt nie zu, wie sehr sie das verletzt – bis es eines Tages nicht mehr weitergeht mit dieser Einbahnstraße einer Freundschaft.

Thematisch haben die beiden Romane von Jan Christophersen nicht das Geringste miteinander zu tun, und doch kann ich beim Lesen das Vergleichen nicht vermeiden: Ich vermisse in Echo das Tiefgehende, das Mystische und Bewegende von Schneetage. Da der Autor das Buch so aufgebaut hat, dass er von fast allen Ereignissen erst berichtet, wenn sie schon vorbei sind, und ich sie somit nicht miterleben kann, wirkt der ganze Roman selbst auf mich wie ein Echo. Er ist der Nachhall einer Geschichte, die längst erzählt wurde, und deshalb ein wenig blass, am Ausklingen. Andererseits spiegelt die Dynamik des Buchs die Dynamik der Geschichte wider: Tom ist einer, der nie da ist, einer, von dem es nur das Echo gibt, und so gesehen ist das Zusammenspiel von Form und Inhalt sehr gut gelungen. Perfekt dazu passt auch das Cover – einmal mit, aber eigentlich irgendwie ohne Tom. Ich habe das ganz subjektive Gefühl, dass der Autor an der Figur von Tom näher dran ist als an jener von Gesa, obwohl sie den Erzählpart bestreitet. Das ist aber vermutlich für mich deshalb momentan heikel, weil ich ein bisschen Gesa bin, nämlich Mutter von zwei Minirabauken, und bei der Beschreibung ihres Gemütszustands den Eindruck bekomme, dass sich ein Mann das eben so vorstellt, wie es sein muss, wenn man rund um die Uhr ein Baby stillt und sich vor lauter Überforderung beinahe selbst verliert. Wirklich eingefangen und abgeholt fühle ich mich davon nicht.

Sehr schön sind die Postkartentexte, die Einblick geben in das Chaos, das in Tom herrscht und das er nie zeigt, außer in seiner Musik. Er ist als Mensch zerbrechlich wie Glas, schrammt ganz bewusst haarscharf an der Liebe vorbei, erweist sich aber stets als treuer Freund. Jan Christophersens Buch ist seltsam und anrührend, wie das Duett zweier Stimmen, die harmonieren, obwohl sie nicht dasselbe singen. Was also tun mit Echo? Am besten lesen und sich selbst eine Meinung bilden über diesen Roman rund um verpasste Chancen, die zerstörerische Kraft des Schweigens und das Erwachsenwerden.

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Echo von Jan Christophersen ist erschienen im mare Verlag (ISBN 978-3-86648-204-3, 224 Seiten, 18 Euro).

Was ihr tun könnt:
Jan Christophersen beim Lesen zuhören und zusehen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.
Sophies Rezension zu Schneetage lesen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Kolbe„Wenn die Frauen nur deinen Namen hören, kriegen sie schon feuchte Höschen“
„Bei der Scheidung der Eltern durch das Amtsgericht hätte die Geschichte von Harry alias Hadubrand Einzweck, meine Geschichte als unabhängige Person beginnen können. Das wäre nicht zu viel verlangt gewesen für einen Vierjährigen.“ Wo auch immer sie beginnt, Harry hat in seiner Geschichte durchaus einiges vorzuweisen: schnelle und große Erfolge als Komponist schon in jungen Jahren, das Mentoring des Meisters Sebastian Kreisler und Frauen über Frauen über Frauen. Sogar der Geheimdienst ist interessiert an ihm – denn Harry lebt in der DDR. Während die meisten versuchen, auszureisen, gibt er sich ab und zu rebellisch, hält aber in letzter Instanz stets den Mund, um sein eigenes Vorankommen nicht zu stören. Zum Vater, der als Kulturfunktionär die Kunstszene ausspioniert, hat er nur sporadisch Kontakt, die Lebensbahnen laufen parallel, kreuzen sich von Zeit zu Zeit. Neben all dem Persönlichen steht ihnen auch die Politik im Weg, denn da der Vater einst aus Überzeugung in den Osten ging, muss der Sohn nun in einer Diktatur leben. Und denkt man an das germanische Hildebrandslied, sind die Namen der Figuren wohl bezeichnend.

Die Lüge von Uwe Kolbe ist ein verstörendes, politisches und für mich sehr männliches Buch. Seite um Seite folge ich dem Ich-Erzähler Hadubrand Einzweck in seiner nicht chronologischen Selbstdarstellung, bis ich mich plötzlich bei dem Gedanken ertappe: Was für ein Arschloch. Dann wird es auf einmal einfacher, das Buch zu lesen. Vielleicht, weil sich eine Schublade geöffnet hat, in der der Protagonist es sich mit all seinen Eigenschaften gemütlich macht: Eingebildet ist er, eitel, präpotent. „Ich genoss die Popularität, die damit einherging, verlegen wie schamlos zugleich.“ Die Frauen – Linda, Rebekka, Katharina, Vera, Susanne und wie sie alle heißen – wechselt er in rasantem Tempo und hinterlässt dabei Kinder sowie gebrochene Herzen. Und obwohl er den Vater selten sieht, gleicht er ihm in diesen Verhaltensweisen, hat er doch selbst haufenweise Stiefgeschwister und (Ex-)Stiefmütter. Über den Vater sagt er: „Er kommt vorbei, hält seinen Schwanz rein, an dem ein paar Privilegien hängen, und dann zieht die Karawane weiter.“ Während Harry überzeugt ist, mit kleinen Aufmüpfigkeiten den Obrigen Ärger zu bereiten und sich ab zu einen Tadel einfängt, zappelt er in Wahrheit brav im Netz und ist folgsam wie ein Lemming. Inwiefern sich das mit Uwe Kolbes Erlebnissen deckt, wäre interessant zu erfahren, heißt es doch, dass der Roman, der in den Jahren 1976 bis 1984 spielt, autobiografische Züge trägt.

Ich hatte von Uwe Kolbe, der selbst in Ostberlin geboren und dort als Lyriker berühmt geworden ist, eine viel poetischere Sprache erwartet und bin überrascht von seinem nüchternen, verqueren Stil. Manch Formulierung wirkt auf mich in ihrer Ernsthaftigkeit und Korrektheit „typisch deutsch“, auch wenn dies freilich kein adäquater Ausdruck bei der Beschreibung eines Schreibstils sein kann: „… kam es immer wieder zum Abhören von zwei, drei Schallplatten“ oder „… unter stechenden Schmerzen entleerte sich mein sonst sehr deutsches, verstocktes Gedärm“. Allerdings passt das Formale perfekt zum Inhalt, und das Gesamtpaket aus Einblick in die deutsch-deutsche Vergangenheit, Porträt eines rücksichts- und skruppellosen Mannes und das seines ebenso wenig charakterstarken Vaters sowie schnörkelloser, griffiger, irgendwie verdrehter Sprache ist stimmig. Es fiel mir jedoch mehr als einmal schwer, mich im Geflecht aus verschiedenen Zeitebenen und Perspektivenwechseln zwischen Vater und Sohn zurechtzufinden. Dies ist kein gefälliges Buch, sondern eher eins, das den Leser ins Wadl beißt, dabei grimmig knurrt und sich nicht so schnell abschütteln lässt. Auf interessante Art beeindruckend.

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Die Lüge von Uwe Kolbe ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-10-040221-9, 384 Seiten 21,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Einen Ausschnitt aus dem Roman bei den FAZ.net-Lesezeichen lesen.
Das Buch über ocelot.de bestellen.

Was andere über dieses Buch denken:
„Kolbe, selbst einst als Literatur-Wunderknabe der DDR gefeiert und von seinem Vater Ulrich für die Stasi ausspioniert, liefert mit „Die Lüge“ einen Schlüsselroman, ein komplexes Sittenbild aus der Mitte der Stasi-Hölle der DDR“, erklärt die Frankfurter Neue Presse.
„Kolbe will es dem Leser nicht zu einfach machen, seine Prosa hat keinerlei Liebreiz und kennt keine falsche Harmonie. Damit spiegelt sie den Stoff“, heißt es auf spiegel.de.
„Der Erzähler Kolbe will einfach sehr viel, manchmal zu viel. Er arbeitet mit Vor- und Rückblenden, mit Zeitsprüngen, denen zu folgen nicht immer einfach ist“, schreibt die Welt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

SahmDer melancholische Effekt von Polaroids
Es gab da diesen Sommer am Balaton, in dem Anna aus München und Kinga aus Budapest sich trafen und bei Teenager-Abenteuern wie In-die-Disco-Schleichen, Tretbootfahren mit einem Jungen und Alkoholtrinken eine Instant-Freundschaft eingingen, die sie anschließend jahrelang per Brief aufrechterhalten. Kinga ist wild, sexuell aktiv, witzig, erfolgreich – Anna dagegen hat einen einzigen, homosexuellen Freund, macht eine Bäckerlehre, erfindet einen Liebhaber und fadisiert sich nach der Trennung der Eltern im ständig leeren Haus. Als aus den Mädchen junge Frauen geworden sind, fällt die 23-jährige Kinga nach einem Unfall ins Koma. Anna fährt nach Budapest, nistet sich bei Kingas Eltern ein, beginnt Ungarisch zu lernen. Was genau sie in Budapest will und sucht, ist unklar, denn Kinga besucht sie nicht im Krankenhaus. Dafür verbringt sie umso mehr Zeit mit Kingas Freund Tibor, drängt sich ihm auf, fängt an zu kellnern, ist völlig scham- und rücksichtslos. Bis alles ein abruptes Ende findet.

In Das letzte Polaroid erzählt die deutsche Autorin Nina Sahm, die auch einen Prosa-Blog betreibt, eine höchst merkwürdige und irgendwie beunruhigende Geschichte. Sie hat sich getraut, mit Protagonistin Anna eine überaus unsympathische Figur zu entwerfen, eine Ich-Erzählerin, deren Charakterlosigkeit zum Kotzen ist. Denn Anna ist sprichwörtlich charakterlos, hohl, leer. Schon als Teenager im Balaton-Urlaub wurde sie als behütetes, stummes, verwöhntes Gör überrollt von Kingas Lebendigkeit und Mut. Über die Jahre haben sich in Anna schleichend und unbemerkt, ohne dass es im Roman je explizit erwähnt wird, Neid und Eifersucht angestaut. Sie hat vielleicht nicht unbedingt vorgehabt, in Kingas Leben zu schlüpfen, doch als es nach und nach geschieht, tut sie auch nichts dagegen. Allerdings ist Anna klug genug, um sich ihrer Wechselhaftigkeit bewusst zu sein, sie ist „Anna, der man alles anvertrauen konnte, die alles mit sich machen ließ. Die ihre Interessen wechselte wie ein verfluchtes Chamäleon. Ich überlegte, was Tibor wohl zu all den Annas sagen würde. Den Annas, die ich versucht hatte zu sein, bis ich selbst nicht mehr wusste, wie das Original eigentlich aussah. Ich hatte jede Rolle so lange gespielt, bis es zu anstrengend wurde und sie dann aus Gier nach mehr oder einfach aus Angst gegen etwas Neues eingetauscht.“ Als Anna endlich bereit ist, mit den Lügen aufzuhören, ist es zu spät.

Das Cover von Das letzte Polariod ist bezeichnend für den Inhalt: Ein Mädchen springt wagemutig in die Luft, das andere sieht neidisch zu. Nina Sahm hat perfekt eine Stimmung eingefangen, die nie in Worte gefasst wird und doch stets mitschwingt. Ein wenig gestört hat mich, dass die Handlung so ziellos ist wie Anna und das Buch zwischendrin seltsam orientierungslos wirkt, sodass ich nicht weiß, wo es hin will mit mir. Die Urlaubstage am Balaton sind derart aufgebauscht, dass ich mich frage, ob man sich denn so detailgetreu an jahrelang zurückliegende Geschehnisse erinnern kann – ich kann es nicht. Generell aber ist dies ein kluger, mutiger, interessanter und glänzend aufgebauter Roman mit einem überraschenden und grandiosen Ende, den ich gern gelesen habe und euch durchaus empfehlen möchte.

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Das letzte Polaroid von Nina Sahm ist erschienen bei Blumenbar im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-05008-5, 239 Seiten, 17,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Nina Sahm beim Lesen zusehen.
Das Buch über ocelot.de bestellen.

Was ihr lesen könnt:
Andere gute Bücher über eine besondere Freundschaft.
Tigermilch von Stefanie de Velasco
Das Geheimnis der Eulerschen Formel von Yoko Ogawa
Die Ordnung der Sterne über Como von Monika Zeiner

Gut und sättigend: 3 Sterne

Agren„Man versucht zu schlafen, meint, dass die Knochen durch die Haut schaben. Es ist kalt, kalt, ständig kalt“
Im Jahr 1958 ist Leo Ǻgren zusammen mit einer finnischen Schriftstellerdelegation in Russland, wo er in einer heruntergekommenen Trinkstube einen Mann namens Leo Nilheim trifft. Der lädt ihn ein auf einen Tee und eine Geschichte, seine eigene nämlich, die er in dieser Nacht erzählt. Er berichtet von einer harten, langweiligen Kindheit voller Hunger: „Die neue Generation, die Zukunft der Sowjetunion, wuchs unterernährt, zerlumpt und verwildert heran.“ Die Mutter kannte er nie, den Vater und die Großmutter verlor er fast gleichzeitig. Über ihren Tod spricht er abgeklärt, fast schon spöttisch: „Großmutter war nämlich sehr religiös. Wenn wir einen Verwandten an der alten Dorfkirche beisetzten, gehörte sie immer zu denen, die am eifrigsten die Stirn auf den Boden schlugen und sich bekreuzigten. Schließlich begruben wir auch sie.“ Auf diese Kindheit, deren größtes Abenteuer wohl die Deportation des bissigen Ebers Rasputin nach Sibieren war, folgen der Einzug und der Kampf an der karelischen Front, wo Leo von den Finnen gefangen genommen wird. „Drei Tage wanderten wir durch das eisige Karelien, dieses unglückliche, umkämpfte Land.“ Er sieht Berge von Leichen, isst Rinde, friert – und überlebt. Die aber, die er vorher kannte, sind gestorben.

Leo Nilheims Geschichte ist ein schmales Büchlein, in dem der schwedischsprachige finnische Autor Leo Ǻgren, der 1984 verstorben ist, vom Zweiten Weltkrieg erzählt – allerdings „von der anderen Seite“. Er lässt einen Russen berichten, der aufgewachsen ist mit der Verehrung Stalins und dem Hunger, der an die Ideale der Sowjetunion glaubt und in den Krieg gegen die Deutschen bzw. die Finnen ziehen muss. Wie der Kampf der Deutschen an der russischen Front endete, ist bekannt, aber freilich ist es nicht so, als hätten die russischen Soldaten ihren Spaß gehabt. Leo Nilheim ist alt und müde, er ist ein resignierter Erzähler, der in jener einen Nacht längst Vergangenes heraufbeschwört: Kälte, bittere Kälte, Einsamkeit, Todesangst, Hunger. Da er überlebt hat, schildert er alle Widrigkeiten als etwas, das man besiegen konnte, doch der Schrecken ist in jedem Satz spürbar. Zwei fremde Männer sitzen beisammen, der eine breitet sein Leben auf dem Tisch aus, der andere bleibt stumm und schaut es sich an. Ein wenig schade finde ich, dass die Erzählung gar so kurz geraten ist und ein wenig unvermittelt endet, andererseits bin ich beeindruckt, dass sie trotz der Kürze so kraftvoll und erschütternd ist. Ein kleines Stück Zeitzeugnis, das Einblick gibt in Ereignisse, die begraben liegen unter Tonnen von Schnee und Jahrzehnten des Vergessens – und an die wir uns doch stets erinnern sollten.

Leo Nilheims Geschichte von Leo Ǻgren ist erschienen im Osburg Verlag (ISBN 978-3-95510-038-4, 160 Seiten, 17,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

ElsässerStarke Short Storys aus der Schweiz
Zwei kleine Mädchen begleiten die Mutter zur sterbenden Tante und sind recht verstört vom unmittelbaren Miterleben des Todes. Eine Frau hat Sex mit dem Mann ihrer Freundin, der ihr die Nachricht „Feuer ist eine seltsame Sache“ auf dem Küchentisch hinterlässt. Zwei Frauen im Altersheim, Magda und Otilia, verstehen sich gut und zanken viel – und haben beide vergessen, dass sie Mutter und Tochter sind. Eine Tochter, eine unerwünschte, hat auch Krankenschwester Lena, von einem wesentlich älteren Mann, der sie ausgenutzt und im Stich gelassen hat damals – und jetzt sterbend auf ihrer Station liegt.

Absurdes, Verqueres und Grenzwertiges, aber irgendwie trotzdem Glaubwürdiges versammelt die Schweizer Autorin Lisa Elsässer, die auch Lyrik schreibt, in 16 Kurzgeschichten unter dem Titel Feuer ist eine seltsame Sache. Ihre Short Storys zu lesen, ist, wie in einem überfüllten Café zu sitzen und immer wieder rechts und links die Gesprächsfetzen von Fremden aufzufangen, sie zu beobachten in ihrer Mimik und Gestik, aber flüchtig nur, vieles nicht zu verstehen, Zusammenhänge zu rekonstruieren oder zu erfinden und sich am Ende des Tages zu fragen, was zur Hölle man da eigentlich erlebt hat. Das macht Spaß im Kopf, ist aber auch sehr verwirrend und anstrengend. Allerdings kann man ja bei Kurzgeschichten jederzeit bequem eine Pause einlegen, ohne aus dem Handlungsrahmen zu fallen. Lisa Elsässers Miniaturgeschichten kommen wie kleine Häppchen daher, sind aber in Wahrheit große Brocken, die Aufmerksamkeit verlangen. Der Tod ist nie weit entfernt, die Liebe auch nicht, und irgendwo dazwischen versuchen die Figuren, ein bisschen zu leben. In manchen Kurzgeschichten verliere ich sofort den Faden, falls es je einen gab, in anderen finde ich kluge Aspekte, schauerliche Eindrücke und intelligente Sätze:

„Und alles konnte ich überall auf der Welt auch sehen: Sonnenuntergänge und Nebel, Menschen, die sich lieben und trennen und nicht lieben und doch nicht trennen.“

„Ich ertappte mich bei jeder Begegnung mit ihr bei einem Gefühl, als ziehe es mir die Rippen herzwärts.“

„Gräber sind das, was man sich von der Ewigkeit vorzustellen vermag: ruhiges, friedliches Nebeneinander. Wer du und was du warst, hat drüben, oben, unten oder im All keine Bedeutung. Endlich fällt sie weg.“

„Schweigende Menschen treiben mich in einen Redefluss, als müsste ich das Schweigen der anderen und mein Reden in ein Gleichgewicht bringen, in die Mitte, wo beide ein ausgewogenes Maß von beidem genießen oder verweigern konnten.“

Lisa Elsässer beherrscht ihr mit Preisen bedachtes Handwerk, und auch wenn ich nicht jede Geschichte in ihrer Kernbotschaft begreife, hallen die Originalität, der bewusst schief gehaltene Ton und die kraftvollen Sprachbilder noch lange nach.

Feuer ist eine seltsame Sache von Lisa Elsässer ist erschienen im Rotpunktverlag (ISBN 978-3-85869-554-3, 176 Seiten, 25 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

DübgenVier Menschen, vier Länder, vier Geschichten
Ada hat mit ihrer Freundin Judith einen Film über den Gazastreifen gedreht. Doch als Ada das nächste Mal nach Tel Aviv kommt, ist Judith tot – und Ada hat ihre Asche mit, um sie zu verstreuen. Makiko aus Japan hat es durch harte Arbeit bist an die Spitze geschafft: Sie tourt als Pianistin durch Europa. Mit ihrem Manager Gerald, der verheiratet ist, hat sie eine Affäre – und ihre Schwangerschaft kommt ebenso überraschend wie ungeplant. Jason soll in Tokio die Übernahme einer japanischen Firma abwickeln, auf die seine amerikanischen Bosse ein Auge geworfen haben. Luiz, der aus Brasilien stammt, betrügt seine Frau Rachel, mit der er zwei Kinder hat und die sich für den Frieden engagiert, will eigentlich nur fort aus Tel Aviv.

Die junge deutsche Schriftstellerin Hannah Dübgen erzählt in ihrem Debüt Strom von vier völlig verschiedenen Menschen, deren Geschichten ein wenig „interlinking“ sind, lässt sie durch die Welt reisen und nach ein bisschen Glück suchen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie entwurzelt sind und sich nicht dort befinden, wo sie zuhause sind. Sie müssen sich fremden Kulturen stellen und scheitern – vor allem Jason – zum Teil daran. Der Strom im Titel ist nicht die Elektrizität, sondern der Fluss, die Zeit, die uns durch die Finger rinnt. Deshalb ist der Roman auch nicht elektrisierend, sondern bedächtig und ruhig. Die vier Figuren sind nett, interessant, menschlich, aber in ihrer Gewöhnlichkeit auch austauschbar. Das ist in Ordnung, weil es darum geht, vier willkürliche Möglichkeiten zu zeigen, die das Leben in dieser Art tatsächlich bieten könnte. Allerdings fehlen aufkochende Emotionen in diesen zurückhaltenden Stories, die so ganz zufällig ineinanderfließen und sich wieder voneinander entfernen.

Strom ist ein breiter, gerader Fluss, der sich nicht verliert, nirgends versickert – er meint es sehr ernst, es gibt nichts Spielerisches. Auch keine versteckten Felsspitzen, keine Strudel, keine Wasserfälle, nichts, woran ich mich festhalten könnte oder was mein Erstaunen auslösen würde. Ich lasse mich treiben, folge den Erzählungen im Roman, genieße die schöne, makellose, melodische Sprache, vermisse aber das große Aha-Erlebnis. Ich warte sprichwörtlich darauf, dass am Ende eine Bombe explodiert, bin überzeugt davon, dass sie an irgendeinen Körper geschnallt ist, der sich durch Tel Aviv schiebt, aber als es still bleibt, wundere ich mich, wohin die Kraft, die das Buch zu Beginn zu haben schien, verflogen ist. Dies ist ein guter, lesenswerter, empfehlenswerter Roman, an dem mich nichts gestört hat, außer vielleicht, dass einen daran irgendwie nichts stören kann.

Strom von Hannah Dübgen ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-24972-0, 272 Seiten, 14,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

WaughSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs trifft Militärkommandant Charles Ryder in Brideshead ein – und erinnert sich beim Anblick des verlassenen Anwesens an die goldenen Zeiten, die er dort verbracht hat. In Oxford lernte er den exzentrischen Sebastian kennen und freundete sich mit ihm an, begeistert war er auch von Sebastians katholischer Familie voll schräger Vögel. Der Vater lebte mit seiner Geliebten in Rom, die Mutter ignorierte das nach Kräften, Sebastians Schwester Julia verzauberte Charles mit ihrer fast schon ruppigen Art. Als Sebastian dem Alkohol verfiel, konnte Charles dem besten Freund nicht helfen. Jahre später – Charles war verheiratet, Vater zweier Kinder und als Künstler in der Welt unterwegs – traf er erneut auf Julia. Doch letztlich sollte für Charles alles, was er sich rund um die Brideshead-Familie ausgemalt hatte, nicht so enden wie gedacht.

Hat’s gemundet?
Ja. Das von Evelyn Waugh – übrigens ein Mann – 1945 veröffentlichte, angeblich autobiografisch geprägte Buch ist ein Klassiker, sehr nostalgisch und ziemlich antiquiert. Das hat mich zwischendurch beim Lesen ein wenig gequält, da gestelzte Ausdrücke in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist, natürlich doppelt anstrengend sind. Ich mag aber die Schwerfälligkeit des Romans, die Nonchalance, dieses Lässige, das der Krieg später von allen abschüttelt. Die reichen Studenten in Oxford fühlen sich wie junge Götter, denen Prüfungen und Alkohol nichts anhaben können. Dann fallen sie vom hohen Ross, und Evelyn Waugh gibt diesem Wandel eine sehr wehmütige Stimme. Überrascht haben mich dabei die oftmals religiösen Interpretationen der Ereignisse.

Wer soll’s lesen?
Umgekehrt formuliert – sollte man wohl gelesen haben.