Gut und sättigend: 3 Sterne

Gross„Ich bin immer neugierig, neugierig auf Menschen, die nicht aus dem Takt kommen, wie machen die das?“
Das lief nicht wie geplant. Denn eigentlich wollte Saskia in Brasilien nur eine geile Zeit haben. Vor allem mit dem schönen Raffael, in den sie sich verliebt hat. Doch der war nur auf ihr Geld aus, um Drogen zu kaufen, und mit dem Kind, das Raffael ihr gemacht hat, hockt Saskia jetzt im trüben Deutschland. Und sie hasst es. Mia ist zwei Jahre alt, und Saskia müht sich ab, kellnert, füttert, wickelt, versucht, sich um das kleine Wesen zu kümmern, und scheitert immer wieder daran. Sie hat keinen Kitaplatz und niemanden, der ihr hilft, die Mutter ist tot, der Vater Alkoholiker. Sie will kein Kind, sie will jung sein, reisen, weg aus Deutschland, trinken, kiffen: „Sie zerrt an meinem Arm, Mama, sagt sie, was für ein Wort, schwer von Verantwortung, schwer von Plackerei, Mama, die für alles Zuständige, Mama gleich Pflicht. (…) Mama?, eine verstörte Frage diesmal, ach, Kind, ich kann es einfach nicht, Mama sein.“ Deshalb haut Saskia erst einmal ab, lässt Mia zurück in der WG voller Medizinstudenten, die sie kaum kennt und von denen sie nicht weiß, ob sie sich um das Kleinkind kümmern. Sie fährt nach Norden, zum Meer, auf eine Insel, sie probt das Alleinsein, das Verlassen. Sie hat keine Ahnung, was sie tun soll. Und sie muss sich der Frage stellen, was wohl für Mia am besten ist: eine Mutter zu haben, die fast am Muttersein erstickt? Oder zurückgelassen zu werden?

Kathrin Gross-Striffler ist eine preisgekrönte deutsche Schriftstellerin, die sich in ihrem jüngsten Roman einer Mutter widmet, die alles, alles will – außer Mutter zu sein. Das ist freilich eine Pattsituation, der die junge, wütende, ungeduldige Protagonistin nicht entkommen kann. Sie hungert nach dem Leben, das für sie überall stattfindet, nur nicht in dem Zimmer mit dem quengelnden Kleinkind, sie will Sonne, Spaß, Alkohol, Freiheit. Stattdessen gibt es Geldknappheit, Einsamkeit, stinkende Windeln, knurrende Mägen und verständnislose Freundinnen. Saskia hasst alles und jeden, sprudelt über vor Zorn, hat keinen Plan und keine Geduld. Man mag es ihr nicht verdenken, sie ist tatsächlich angeschmiert so als alleinerziehende Jungmama ohne Hilfe. Ich kann ihre Gefühlserschütterungen gut nachempfinden. Ich weiß, wie anstrengend kleine Kinder sind, ich habe zwei, wie sie an den Nerven zerren, fordern, brauchen, Verantwortung auferlegen. „Es ist immer die Mutter, die beim Kind bleibt, die das Feuer hütet, nicht wahr.“ Ja. Außer die Mutter geht. Und das ist natürlich das große Tabu – das dieser Roman thematisiert und bricht.

Zum Meer ist wie ein einziger, atemloser Monolog mit langen Sätzen und einem rasanten Erzähltempo. Ich bin direkt drin in Saskias Kopf, und sie schlägt mir ihre Gedanken um die Ohren, ihre Zweifel, ihre Sehnsüchte. In einem langen, stellenweise doch recht anstrengenden Strom an Worten kotzt diese junge Mutter alles aus sich raus: die Angst, die Verzweiflung, aber auch die Liebe. Ich bin interessiert und abgestoßen zugleich, voller Verständnis und voller Abneigung. Mehr als einmal will ich diesem egozentrischen, eingebildeten, unwissenden und weinerlichen Gör einfach nur ins Gesicht schlagen. Kathrin Gross-Striffler hat den Zwiespalt, in dem ihre Figur steckt, sehr detailliert und gut dargestellt. Freilich kommt das nicht ohne Klischees aus, ist doch das Thema selbst schon ein Klischee: dass es einfach scheiße ist als alleinerziehende Mutter. Dieses Buch gibt aber einen lesenswerten Einblick in ein solches beispielhaftes Leben – und eine mögliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage.

BannerZum Meer von Kathrin Gross-Striffler ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03291-3, 252 Seiten, 19,95 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Eine Happyend-Autorin ist Kathrin Groß-Striffler gewiss nicht“ , heißt es im Buchtipp auf br.de.
– Hier könnt ihr euch den Film dazu anschauen, in dem sich auch die Autorin äußert.
– „Mit einem berauschendem Tempo steigt man ein in eine Geschichte von Überforderung, Weltwut – oder konkreter: Deutschland-Wut – von der Angst davor Mutter zu sein in einer Zeit, in der man selbst noch eine braucht“, schreibt Eileen Eichstädter auf literaturkritik.de.
– Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

otsuka_webVon der Ankunft in der Fremde
„Das ist Amerika, sagten wir uns, wir müssen uns keine Sorgen machen. Und wir irrten uns.“ Sie kommen mit dem Schiff, junge Japanerinnen auf dem Weg nach Amerika, wo sie, wie sie hoffen, ein besseres Leben erwartet. In den Taschen tragen sie Fotos ihrer künftigen Ehemänner, die in Wahrheit anders aussehen und nicht einmal halb so reich sind wie angegeben – und auch alle anderen Träume entpuppen sich als platzende Seifenblasen: Die Frauen werden zu schwer schuftenden Erntehelferinnen, zu Nomaden, Kindermädchen, Wäscherinnen, Prostituierten. Eine jede hat ein anderes Schicksal, und doch sind sie alle darin vereint: Sie sind fremd, verstehen weder Sprache noch Sitten, bekommen Kinder, die sich später von ihnen abwenden, werden nicht glücklich, nie, und am Ende, als Pearl Harbour geschieht, verschwinden sie auf einmal ganz.

Julie Otsuka erzählt vom Unglück im Kollektiv. Die amerikanische Autorin mit japanischen Wurzeln gibt all jenen Japanerinnen eine Stimme, die mit großen Hoffnungen und Träumen nach Amerika kamen, wo sie von der Realität bitter enttäuscht wurden. Das schmale Büchlein ist zur Gänze in der ersten Person Plural geschrieben und berichtet in dieser Wir-Form von allen Einzelschicksalen: „Wir zogen an ihre Stadtränder, wenn sie uns ließen. (…) Wir wanderten in ihren heißen, trockenen Tälern. (…) Wir pflückten ihre Erdbeeren in Watsonville. (…) Manchmal näherte sich uns der Boss von hinten, während wir gebückt auf seinen Feldern standen. (…) Einige von uns arbeiteten als Köchinnen in ihren Camps, und einige von uns als Tellerwäscherinnen. (…) Einige von uns bestahlen sie. (…) Manchmal entließen sie uns ohne Vorwarnung.“

Dieser Erzählstil ist einerseits originell und spiegelt sehr gut das Gemeinsame an den verschiedenen Leben wider: die Einsamkeit, die Hilflosigkeit, das Scheitern der Träume. Andererseits aber ist diese Art des Berichts zutiefst befremdlich, niemand ist greifbar, niemand tritt aus der Gemeinschaft heraus, es ist fast so, als existiere keine der Frauen wirklich. Als seien ihre Stimmen nur das Flüstern von Geistern – ein Eindruck, der sich noch verstärkt, als am Ende von den Japanerinnen nichts bleibt außer schwache Erinnerungen. Julie Otsuka hat ein hartes, schnörkelloses, brutales Buch geschrieben, in dem es nichts zu lachen gibt für niemanden, freilich auch nicht für den Leser. Sehr kurz, aber intensiv und eindrucksvoll.

BannerWovon wir träumten von Julie Otsuka ist erschienen im mare Verlag (ISBN 978-3-86648-179-4, 160 Seiten, 18 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Julie Otsuka stützt sich auf echte Schicksale, im Nachwort des Romans listet sie akribisch die historischen Quellen auf, auf die sie zurückgegriffen hat“, heißt es in der Rezension auf spiegel.de.
– In dieser Ausgabe des Literaturclubs wird das Buch besprochen.
– Hier könnt ihr die Website der Autorin besuchen.
– Und hier könnt ihr das Buch auf ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

SchäferEine Bedrohung, unheimlich und real
Gabor Lorenz ist Arzt, Neurologe, und interessiert sich für Gesichter: Er ist Spezialist für Prosopagnosie. Und ein bestimmtes Gesicht geht ihm seit dem Urlaub, den er mit seiner Frau und den beiden Kindern auf Griechenland verbracht hat, nicht mehr aus dem Kopf: Er hat beim Betreten der Fähre gesehen, wie ein Flüchtling sich auf einem LKW versteckt hat – und später festgenommen wurde. Er hat dem fremden Mann ein Sackerl mit Bananen in das Versteck geworfen, ohne daran zu denken, dass sich darin auch die Postkarten befanden, die er im Urlaub geschrieben und an seine Frau Berit im gemeinsamen Zuhause adressiert hat, um sie in der Heimat abzuschicken und im Herbst das Urlaubsfeeling wieder aufleben zu lassen. Zurück in Berlin, kommen die Karten tatsächlich an, aufgegeben in Italien, dann in Deutschland. Der Fremde kommt näher, wird zu einer Bedrohung, die Gabor ununterbrochen beschäftigt und die reale Ausmaße anzunehmen scheint, als sein 14-jährige Tochter plötzlich spurlos verschwindet …

Der deutsche Autor Andreas Schäfer, mit zahlreichen Preisen bedacht, erzählt in seinem dritten Roman Gesichter eine subtil spannende Geschichte über die Angst vor fremden Einwanderern und Flüchtlingen. Diese werden auf der griechischen Insel, auf der Protagonist Gabor mit seiner Familie urlaubt, plötzlich in Massen angeschwemmt und suchen, so sie überleben, als arme Teufel ihr Glück in Europa. Andreas Schäfers Hauptfigur ist gut situiert, erfolgreicher Arzt, führt eine angenehme Ehe, die schon lange funktioniert, und hat zwei Kinder, von denen eins, die 14-jährige Tochter, in den Ferien die erste Liebe erlebt hat. Der Teenager ist verschlossen, müde, abwesend, erzählt den Eltern nichts. Das sind die Probleme in Gabors Alltag, Patienten, ein möglicher Lehrstuhl, die Kinder. Doch durch die eintreffenden Postkarten gerät er plötzlich in Kontakt mit der Verzweiflung derer, die aus ihrer Heimat fliehen müssen, und er fängt an, sich zu fürchten. Was will der von mir?, fragt er sich, er fühlt sich beobachtet und bedroht. Diese unterschwellige Gefahr hat der Autor glänzend eingefangen, sie ist spürbar, kriecht mir zwischen den Zeilen entgegen, lähmt mich – und macht das Buch so fesselnd.

Im Verlauf der Geschichte wundere ich mich zum Teil über die Wendungen, und ich kann es meistens nicht so gut leiden, wenn nicht alles zu einem befriedigenden Abschluss kommt, aber: Ich mag diesen Roman sehr, weil er gut gemacht und gut geschrieben ist. Andreas Schäfer hat meine Neugier geschürt, mich angetrieben, weiterzulesen, bis die Seiten rauschten, ich war gespannt, interessiert, überrascht. Gesichter ist ein sehr unheimlich und dabei doch realistisches Buch, das ihr auf jeden Fall lesen solltet.

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Gesichter von Andreas Schäfer ist erschienen im Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9664-6, 256 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Well made“ heißt es in der Rezension auf zeit.de.
– Als „subtiler Pageturner“ wird der Roman auf buecherrezension.com beschrieben.
„Andreas Schäfer hat einen Roman über den Moment geschrieben, in dem das Leid anderer plötzlich in die eigene geordnete Lebenswirklichkeit eindringt“, sagt Sophie von Literaturen.
– Und hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Roßbacher„Aber kann man die Sterne löschen, wenn sie einem die Zukunft weisen? Nein. Man kann sie nur weiträumig umfliegen“
David Stanjic ist aus Österreich geflohen, ist ja nicht zum Aushalten dort, und verirrt sich seither regelmäßig in Berlin. Frederik von Sydow hätte wirklich, wirklich gern eine Frau und nicht nur eine Oma mit einem beliebten Café. Simon Glaser macht Filme, die kein Mensch versteht. Und zusammen machen sie Hausmusik. Es wird geträllert und geschwurbelt, geredet und schwadroniert, im Kreis gedacht und theoretisiert. Eine Frau kommt auch ins Spiel, und schließlich gibt’s auch einen Toten – nur eignen sich die drei verschrobenen Gestalten leider so gar nicht als Detektive. Das bedauert auch die Erzählerin, die Teil der Ereignisse ist und nur mit Mühe den Überblick behält – während ihr Lektor ihr dauernd ins Handwerk pfuscht, mit motivierenden Anmerkungen wie: „Du musst das übrigens nicht dermaßen ausführlich erzählen, das ist nicht interessant.“

Tut sie aber. Verena Roßbachers Roman Schwätzen und schlachten ist das ausführlichste, detailgetreuste, abschweifendste und geschwätzigste Buch, das ich je gelesen habe. Es wird geredet, sehr, sehr, sehr viel geredet, eine Flut an Worten stürzt auf mich zu, begräbt mich unter „weitschweifigen Erklärungen, umsichtigen Erörterungen, langwierigen Reden“. Das Kuriose daran? Es könnte auch das langweiligste Buch sein, ist es aber nicht. Ich finde es amüsant. Bis zu einem gewissen Grad zumindest, denn ich brauche mehrere Verschnaufpausen und muss gestehen, dass ich mich ab und zu aus einem ewig dahinfließenden Monolog aus- und später im Buch wieder eingeklinkt habe. Unterhaltsam ist diese endlose Fabuliererei auch deshalb, weil die Autorin sich auf einer Metaebene – im Gespräch mit ihrem Lektor Olaf – genau darüber lustig macht: dass das Buch zu dick ist, dass sie nicht knackig formulieren kann, dass sie mehr üben soll. Verena Roßbacher, die mit ihrem Debüt Verlangen nach Drachen Erfolge feierte, wehrt sich mit den Argumenten, dass alles nun einmal so geschehen sei und sie auch nichts dafür könne, wenn die drei Männer so viel redeten.

Schwätzen und schlachten ist ein wahnsinniges Buch, es ist überladen, anstrengend, verrückt, kurios, äußerst elegant geschrieben und dermaßen ungewöhnlich, dass ich – man hat es an der Inhaltsangabe oben gemerkt – nicht einmal erzählen könnte, worum es darin eigentlich geht. Weil ich tatsächlich nicht die geringste Ahnung habe. Dabei hab ich den Roman gelesen. Aber er ist ein Puzzle, ein einziges Ablenkungsmanöver, ein Wortschwall, gleichzeitig ernst und geheimnisvoll: „Worte sind harmlos, dachten sie, dabei kann alles Gedachte, Gesagt, getan werden, es kann jedes Wort so ungeheuer fleischlich werden und gefährlich.“
Wer Schwätzen und schlachten lesen soll? Wer viel Zeit und Geduld hat – es lohnt sich!

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Schwätzen und schlachten von Verena Roßbacher ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04615-1, 640 Seiten, 24,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– Sehr angetan vom Roman ist der Rezensent auf zeit.de, aber auch er kann den Inhalt nicht nacherzählen.
– Hier könnt ihr Verena Roßbacher beim Vorlesen zuhören.
– Ein Porträt der Autorin gibt es auf welt.de zu lesen.
Dieses Interview hat Verena Roßbacher in einem Berliner Café absolviert, das auch im Buch vorkommt.
– Hier könnt ihr den Roman bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

OlmiEine Geschichte vom Scheitern
„Es ist die Liebe, die die Maisonettewohnung nicht verlässt, und manchmal ähnelt ihnen das Zimmer, ein Durchgangszimmer, ein bisschen zusammengestückelt, eine fröhliche Unordnung, die Spuren einer glücklichen Liebe.“ Allerdings ist es eine Liebe, die nicht sein darf, die nur kurz aufflackert und verlischt: Suzanne, die Klavierstimmerin, und Serge, der Luxusmakler, sind verheiratet. Allerdings nicht miteinander. Serges Frau Lucie ist viel jünger als er, wunderschön, Mutter seiner zwei kleinen Kinder. Suzannes Mann Antoine ist lieb und verlässlich. Aber dann sind da all die verspielten Möglichkeiten: Suzanne hätte Pianistin werden können. Sie hätte Kinder haben können. Serge hätte eine schöne Kindheit und eine Mutter haben können. Für eine Weile leben sie diese Träume, in einem Paralleluniversum, sie schlafen in einer leer stehenden Wohnung miteinander, um all diese Möglichkeiten zu spüren. Ein verbindendes Element ist dabei auch das Klavier als ein Musikinstrument, mit dem Suzannes arbeitet und das Serges Kindheit prägte. Doch während Suzanne den Mut hat, ihre Konsequenzen aus dieser Liebe zu ziehen, verstrickt sich Serge komplett in seiner eigenen Vergangenheit und durchlebt erneut das Furchtbare, das geschehen ist, als er acht Jahre alt war. Was ihnen bleibt, ist der Moment, die Sehnsucht, die Erinnerung: „Bereits an jenem Tag war ich Serge begegnet. Schon seltsam, wie ein Nichts ausreicht, damit ein Leben verstimmt wird, damit unser so einzigartiges, so kostbares Dasein seine Harmonie und seinen Wert einbüßt. Als bestünde es aus Luft und nichts anderem. In diesem Haus lebte ein Mann, von dem ich nichts wusste, nichts kannte, außer der Frau und dem Klavier, ein Mann, dessen Rasierwasser zu süß, dessen Anzug zu dunkel war, und bevor wir uns begegneten, wussten wir es nicht, aber wir hatten beide nichts anderes getan, als auf schmalen Holzbrettern über den Sumpf zu laufen.“

Véronique Olmi ist eine der bekanntesten Roman- und Theaterautorinnen Frankreichs. Ihr neuestes Buch ist die Geschichte einer Affäre, die Geschichte einer kurzen Liebe, die sehr nüchtern betrachtet wird. Protagonistin Suzanne bekommt die Ich-Perspektive, das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf Serge. Er ist es, der alles initiiert, nachdem er Suzanne in einer Bar hat tanzen sehen. Er findet sie nicht attraktiv, sie ist ihm zu alt und zu gewöhnlich. Trotzdem wartet er den ganzen Tag vor ihrem Haus, küsst sie unvermittelt, schläft mit ihr. Von da an treffen sie sich für Sex, versprechen einander nichts, haben immer nur ein bisschen gestohlene Zeit. In beiden löst die Affäre völlig unterschiedliche Dinge aus: Suzanne versinkt in Melancholie, sie sieht die verpassten Chancen in ihrem Leben, das ihr plötzlich nicht mehr genügt. Serge dagegen taucht ein in seine traumatische Vergangenheit, weil er in Suzanne endlich jemanden gefunden hat, bei dem er diese belastende alte Geschichte abladen kann. Er ist egozentrisch, blind für Suzannes Liebe, blind für Lucies Gefühle. Und diese Last, die er mit sich trägt, die mit dem Tod seiner Mutter und der Grausamkeit seines Vaters zu tun hat, ist mir viel zu dramatisch. Da tut sich ein Abgrund auf, der mir unpassend tief erscheint, eine inhaltliche Diskrepanz zwischen den beiden Handlungssträngen, die nicht vereinbar sind, ein seltsames Hin und Her im Roman, der keine Balance findet. Das gilt allerdings nur für den Inhalt, sprachlich ist das Buch absolut ausgewogen, fein abgestimmt, poetisch.

Das Glück, wie es hätte sein können ist – der Titel verrät es schon – ein unheimlich deprimierendes Buch, traurig, melancholisch. Denn das Glück existiert nur im Konjunktiv und somit gar nicht – allerdings schimmert es stellenweise schwach durch, was wohl am schlimmsten ist. Das zwischen Serge und Suzanne ist kein Glück, ich möchte es so, wie Véronique Olmi es darstellt, nicht einmal Liebe nennen, mehr ein Aufbegehren gegen den festgefahrenen Alltag, einen weiteren Beweis, dass der Mensch nicht für die Monogamie geschaffen ist. Nur versucht vor allem Suzanne, unter den Deckmantel der Liebe zu schlüpfen, obwohl es dort für beide keinen Platz gibt. Die Geschichte wird dominiert von Unehrlichkeit und Schweigen, dem Wunsch nach Dingen, die nicht zu haben sind, und dem Gefühl des Scheiterns. Dies ist kein tiefschwarzes Buch, aber ein sehr graues, mutloses, erschreckendes, aus dem man ganz klar die Lehre ziehen kann, die Chancen, die das Leben gibt, zu nutzen.

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Das Glück, wie es hätte sein können von Véronique Olmi ist erschienen im Antje Kunstmann Verlag (ISBN ISBN 978-3-88897-927-9, 223 Seiten, 19,95 Euro).

Noch mehr Futter:
– Eine Rezension auf spiegel.de beschreibt das Buch als eindringlich-düster, intim, aber auch dick aufgetragen.
– „Im zehnten Roman von Véronique Olmi folgt auf eine Urkatastrophe das nicht gelingende Leben“, schreibt die Frankfurter Rundschau.
– Atemberaubend elegant und betörend sensibel nennt der Durchleser diesen Roman.
– Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

WeissUnd dann einfach ein neues Leben anfangen
Maren hatte es ganz schön gut: Erfolg als Architektin, eine funktionierende Ehe, eine gesunde, hübsche Tochter. Doch eines Abends verschwand Maren ohne ein Wort, und seither zerbricht ihr Mann Berthold sich den Kopf: Wurde sie entführt, vergewaltigt, getötet? Oder hat sie ihn einfach verlassen? Marens Geschichte interessiert einen Journalisten, der eigentlich Filmkritiken schreibt, derart, dass er nach ihr sucht. Und er findet sie – auf Tunesien. Statt ihren Mann und die Polizei zu informieren, bucht er einen Flug. Etwas reizt ihn an dieser Frau und an ihrer Geschichte, und es reizt ihn so sehr, dass er seine Frau in Bezug auf sein Reiseziel anlügt. Doch was glaubt er, was ihn erwartet? Eine Anleitung, wie man das macht, sein altes Leben zurückzulassen? Einen Freibrief, es selbst zu tun? Das, was er bekommt, deckt sich auf jeden Fall nicht mit dem, was er wollte.

Thomas Weiss, der als freier Schriftsteller in Berlin lebt, hat bereits mehrere hochgelobte Romane vorgelegt. In Flüchtige Bekannte entwirft er ein Szenario, das so bekannt wie bedrückend ist: Man hat sich festgefahren im eigenen Leben, steckt im Schlamm der Bequemlichkeit, würde am liebsten nochmal von vorn anfangen, die Last der Familie abwerfen und einfach abhauen. Maren tut genau das. Ihre Geschichte aber ist anfangs ein Geheimnis, ein Rätsel, das der Ich-Erzähler zu entschlüsseln versucht. Er kommt Maren sehr schnell auf die Schliche, und als er sie gefunden hat, steigt auch sie in die Erzählung ein, berichtet aus ihrer Sicht, stellt ihre Rechtfertigungen sehr nüchtern dar. Kann man ein Handeln wie ihres überhaupt rechtfertigen? Und ist es nachzuvollziehen, wie selbstsüchtig der Journalist sich verhält? Was die beiden – jeder für sich – tun, ist sicher moralisch fragwürdig. Und zutiefst menschlich.

Flüchtige Bekannte dreht sich um ein Thema, das uns alle interessiert und immer wieder berührt: Haben wir uns richtig entschieden? Ist das das beste aller Leben? Oder sind wir irgendwo falsch abgebogen und sollten nochmal von vorn beginnen, ehe es zu spät ist? Diese Ausgangssituation hat mich dazu bewogen, das Buch zu lesen. Von der Umsetzung bin ich allerdings nicht zur Gänze überzeugt. Maren, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, bleibt kühl und nicht greifbar, gibt sich in ihren Darstellungen sehr rational. Das neue Leben, das Thomas Weiss ihr angezogen hat, ist derart farblos und ebenfalls banal, dass ich nicht glauben mag, dass sie es wählen würde. Mann und Kind ins Unglück stürzen – für DAS?! Der Journalist dagegen ist ein egozentrischer, schmieriger, eingebildeter Typ, der sich über den Bau des Eigenheims echauffiert und – ganz Klischee – von der Unabhängigkeit träumt, obwohl er seine Frau liebt. Wäre er wirklich wieder Single, würde er schnell das große Heulen kriegen, wie es auch der Fall ist, als die Gattin seine Lügen durchschaut. Was bleibt zu sagen? Dass dieser Roman gut geschrieben ist, ich mir aber mehr erwartet habe von dieser vielversprechenden Verheißung, dass da jemand neu anfängt. besonders das Ende lässt mich ratlos und enttäuscht zurück. Aber so ist das vielleicht einfach, wenn man sich ein neues Leben sucht: Es ist dann letztlich auch nicht besser als das alte.

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Flüchtige Bekannte von Thomas Weiss ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1211-1, 192 Seiten, 16,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Die Rezension von Wortgalerie lesen.
In der Besprechung von buecherrezension.com mehr über den Roman erfahren.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

RubinEin klassischer Whodunnit aus Ungarn
Sechs alte Schulfreunde haben sich 15 Jahre lang nicht gesehen – und werden alle übers Wochenende von Haller, der Arzt geworden ist, in sein Haus auf dem Land eingeladen. Der dicke Journalist Ali, der geizige Dichter Vértes, der schweigsame Wissenschaftler Decsi, Hauptmann Beke und der paranoide Apotheker Schwabik versuchen frohgemut, die alten Zeiten aufleben zu lassen – was ihnen jedoch nicht ganz gelingt. Missgunst und Misstrauen machen sich breit. Zum Glück sorgen die Frauen für Ablenkung: Hallers Gattin Magda, den Männern aus ihrer Jugend eigentlich als Emmi bekannt, Hallers Angestellte Stefi und die Primaballerina Bea Nicky, die Ali spontan eingeladen hat, weil er sie interviewen will, und die sowohl mit Vértes als auch mit Schwabik ein Geheimnis verbindet. Bevor der Wildschweinbraten mit selbst gesammelten Pilzen kredenzt wird, beschließt die illustre Gesellschaft, sich ein wenig mit dem Spiel „Mörder und Detektiv“ zu zerstreuen. Dabei wird per geheimem Zettel einer zum Mörder und einer zum Ermittler gemacht, alle Lichter werden abgedreht, und nach vollbrachter Tat muss der Detektiv anhand des Leichenfunds sowie einiger Befragungen herausfinden, wer der Verbrecher ist. In der dritten Runde wird aus dem lauschigen Spiel, bei dem es hauptsächlich darum geht, im Dunkeln ein wenig zu fummeln und Küsse zu stehlen, plötzlich bitterer Ernst: Im Salon liegt, als das Licht wieder angeht, eine echte Leiche. Ausgerechnet Bea Nicky, der unvorhergesehene Gast, wurde erwürgt. Hauptmann Beke schlüpft sofort in seine Rolle, betreibt Spurensicherung, alarmiert seine Kollegen von der Spionageabwehr, beginnt mit der Befragung seiner ehemaligen Schulfreunde: Wer hatte ein Motiv? Was hat Bea in London angestellt? Und warum trug sie während des Mordes eine Pelzmütze? Nun – der Detektiv findet es heraus.

Der Ungar Szilárd Rubin, 1927 geboren und 2010 verstorben, ist ein Autor von spätem Ruhm. Obwohl er seit den 1950er-Jahren Romane veröffentlichte, bekam er erst in den Jahren vor seinem Tod Anerkennung dafür – und zwar außerordentlich viel. Er schreibe, hieß es, Literatur von europäischem Rang und sei einer der ganz Großen. Ich kenne die hochgelobten Bücher nicht, mir ist nur Wolfsgrube in die Finger gerutscht, das im Original bereits 1973 erschienen ist und daher auch in dieser Zeit spielt – und ich habe zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder einen Krimi gelesen. Als ich jung war, hab ich Krimis gefressen und mit 18 sogar mein Matura-Spezialgebiet über Elizabeth George verfasst – und war dann übersättigt. Overkill. Es kam mir kein Krimi mehr ins Haus und vor die Augen. Mit Szilárd Rubin und Wolfsgrube hab ich mich allerdings ausgezeichnet amüsiert: Er präsentiert verschrobene, scheinheilige Charaktere, gibt ihnen ausreichend verwirrende Geheimnisse, steckt sie alle in ein Haus, streut ein bisschen Flirting darüber, schaltet das Licht aus – und voilà. Ich fand das Buch gut zu lesen und hab gern mitgeraten, muss aber gestehen, dass mir die Auflösung ein wenig zu haarsträubend war. Da wär ich im Leben nicht draufgekommen. Der Klappentext nennt das Buch eine „zeitlose Parabel auf den Menschen, der dem anderen immer und überall ein Wolf ist“. Für Krimifans auf jeden Fall lesenswert!

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Wolfsgrube von Szilárd Rubin ist im Jänner 2013 erschienen im Rowohlt Verlag (ISBN 978-3-87134-753-5, 208 Seiten, 17,95 Euro).

Andere auf Deutsch erschienene Titel von Szilárd Rubin:
Eine beinahe alltägliche Geschichte
Kurze Geschichte von der ewigen Liebe
Die Wolfsgrube bei ocelot.de

Gut und sättigend: 3 Sterne

Becker„Ich hätte so ein Leben haben können. Ich hätte so viele Leben haben können“
„Steinalt fühle ich mich, schleppe ich mich durch die Tage, der Müllberg in meinem Zimmer wächst und wächst, es war niemals die Rede davon, so lange zu bleiben: Ich wollte unser Haus loswerden und den Fall Hedwig abschließen, um diese ganze Stadt danach abzustreifen wie eine alte Haut.“ Ein junger Mann ist zurückgekehrt in seine Heimatstadt und hat zwei Vorhaben: das Haus seiner Eltern zu verkaufen und eine alte Frau umzubringen. Dann will er so schnell wie möglich verschwinden. Der Tod des Vaters macht ihm zu schaffen, schlafen kann er jede Nacht nur wenige Stunden – außer, es liegt jemand neben ihm. Nichts läuft wie gedacht, der Hausverkauf zieht sich, die alte Dame besucht er in allen möglichen Verkleidungen, um sie auszuspionieren, schreitet aber nicht zur Tat – und dann verliebt er sich ganz plötzlich: „Mein Hemd ist weiß wie der erste Schnee auf dem Land. Jetzt bin ich nicht der besorgte Nachbar, nicht der Postbote, nicht der Feuerwehrmann, jetzt bin ich nicht derjenige, der eine alte Frau töten will, um die Vergangenheit loszuwerden. Jetzt bin ich nur der Mann, der in eine Frau verliebt ist.“ Und vielleicht gäbe es die Chance auf einen Neuanfang, auf ein anderes Leben.

Der deutsche Schriftsteller Martin Becker, der 1982 geboren ist, arbeitet als freier Autor und Literaturkritiker beim Rundfunk, nach einem Erzählband ist Der Rest der Nacht seine erster Roman. Skurril ist dieser Roman, sehr skurril, wie ein Traum, in dem nichts Sinn zu ergeben scheint, sobald man wach ist – aber alles möglich ist, während man noch schläft. Stellenweise gelingt es Martin Becker sehr gut, mich einzulullen, mich zu umschnüren mit seinen verqueren, wohlproportionierten, sehr geraden Sätzen: „Wenn ich nach solchen Nächten in mein Zimmer zurückkomme, dann schüttelt es mich. Ich zittere und friere, reiße mir die Kleider vom Leib und krieche ins Bett. Der Hals kratzt, die Nase läuft und das Fieber kommt. Wie ein Stein in den Brunnen stürze ich dann in den viel zu kurzen Schlaf, und ohne zu träumen schlafe ich durch bis zum Aufprall.“ Das finde ich sehr direkt, poetisch und schön.

Inhaltlich aber habe ich meine Schwierigkeiten mit diesem Buch, weil es mir zu wirr ist. All die Verkleidungen und Masken, all die rätselhaften Hinweise auf die Vergangenheit, die ich nicht deuten kann, machen mir zu schaffen, weil ich schon anfangs weiß, dass ich diesen Roman nicht verstehen werde, dass der Autor mit aller Macht verhindern wird, dass ich das große Ganze begreife. Sein Protagonist ist so schlüpfrig wie eine Kaulquappe, nicht greifbar, er steckt in der Krise, sucht eine Identität und einen Ausweg. Und ich bin so ratlos wie er. Eine Sogwirkung hat die Geschichte durchaus, vor allem wegen der ausgezeichneten Prosa. Aber als ich aus dem Traum aufwache, frage ich mich, was zur Hölle das denn für ein Trip war.

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Der Rest der Nacht von Martin Becker ist erschienen im Luchterhand Literaturverlag (ISBN 978-3-630-87360-2, 208 Seiten, 19,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Ein Interview mit Martin Becker anhören.
Einen Beitrag des mdr über Martin Becker anhören.
Euch die Website von Martin Becker anschauen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

SaundersZehn visionäre Geschichten
Stell dir vor, du hast ein MobiPak in deinem Körper, über das beliebige Substanzen in dein Blut gepumpt werden können: Verbaluce zum Beispiel, damit du alles sagen und dich eloquent ausdrücken kannst. Oder SoIsBrav, das dich willenlos macht. Oder Dunkelfloxx, das dich verzweifeln lässt und traurig macht, so traurig, dass du dich umbringst. All das erlebt der Gefängnisinsasse Jeff, der als Versuchskaninchen in George Saunders‘ Geschichte Flucht aus dem Spinnenkopf an einer Experimentreihe teilnehmen muss. Das Ziel: chemisch beeinflussen zu können, ob ein Mensch einen anderen liebt. Er ist ausgeliefert, so wie Alison Pope, ein Teenager, der überfallen und aus dem eigenen Haus entführt wird – beobachtet vom Nachbarsjungen Kyle, der, um sie zu retten, sämtliche Regeln seiner Eltern brechen müsste. Dafür könnte er an dem Entführer all seine aufgestaute Wut auslassen … Wütend ist auch der Kriegsveterinär, der zu seiner verkorksten Familie in die USA zurückkehrt: Seine Frau wohnt mit den Kindern bei einem anderen, seine Schwester lässt ihn nicht einmal ihr Baby halten, seine Mutter hat einen neuen Freund und muss ihr Haus räumen. Ist schon ziemlich beschissen, das Leben …

… vor allem für die Figuren in den zehn Short Storys von George Saunders. In einer Obstschale voller Äpfel sind sie die Früchte mit den angeschlagenen Stellen. Die schon ein wenig faulig sind. Die keiner mehr will. George Saunders‘ Kurzgeschichten sind dystopisch, verwirrend, böse, amüsant, traurig. Sie spielen in der Gegenwart oder einer Art Zukunft, die sich unheimlich real anfühlt – in der Menschen beispielsweise daran arbeiten, das Menschsein selbst zu beherrschen. Die Charaktere in diesen verrückten Storys sind alt und jung, manchmal dumm, immer ein wenig hilflos, immer ein wenig verzweifelt. Und der Autor hat nicht das geringste Mitleid mit ihnen, lässt sie im Spinnennetz seiner Worte zappeln wie kleine, harmlose Eintagsfliegen, lässt sie scheitern an einer grausamen Welt.

Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Englisch-Universitätsprofessor George Saunders setzt mir mit Zehnter Dezember ganz schön zu. Nach den ersten drei Geschichten brauche ich erst mal eine Verschnaufpause. Er seziert unsere Gesellschaft auf sprachlich derbe Weise, mit Elementen, die wie Science-Fiction anmuten, aber auch etwas unheimlich Reales an sich haben. Nicht jede Geschichte liest sich flüssig, im Gegenteil, sperrig sind sie, hölzern, unwillig, praktisch das Gegenteil von poetisch. Fast so, als wollten sie mir gar nicht gefallen, als kümmerten sie sich nicht um mich, den Leser. Sie lassen sich von mir betrachten, aber nicht betreten, und ich finde bei mehreren Storys nicht den geringsten Zugang zu den Erzählern. Deshalb stehe ich hinter einem Absperrband und recke neugierig den Hals, um irgendwas von den abstrusen Vorgängen zu erkennen, die sich da vorn irgendwo abspielen. Diese Kurztexte sind wahnwitzig, stellenweise unverständlich, aber sie scheren sich nicht darum – und das macht sie wiederum so gut.

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Zehnter Dezember von George Saunders ist erschienen im Luchterhand Literaturverlag (ISBN 978-3-630-87427-2, 272 Seiten, 19,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Mit einer Leseprobe in das Buch hineinschmökern.
Die Rezensionsnotizen im Perlentaucher lesen.
Euch eine hymnische Besprechung auf spiegel.de zu Gemüte führen.
Die sehr begeisterte Rezension von Sophie lesen.
Das Buch auf ocelot.de bestellen.

Andere hervorragende Kurzgeschichten:
John von Düffel: Wassererzählungen
Amy Hempel: Die Ernte
Molly McCloskey: Liebe

Gut und sättigend: 3 Sterne

Helle„Solange ich die Dinge nur denke, tun sie niemandem was“
„Mein Problem ist, ich liebe eine Frau, aber ich glaube, ich werde irgendwann aufhören, sie zu lieben, und ich lehne eine Welt ab, in der das möglich ist. Mein Problem ist, ich bin Philosoph, und ich beschäftige mich mit Bewusstsein, also mit dem, was man früher Seele genannt hat, und ich habe manchmal Angst, die anderen könnten recht haben, die sagen, Bewusstsein ist nur eine Illusion, denn wenn sie recht haben, sind wir, wenn wir tot sind, einfach tot.“ Probleme hat der junge Philosoph allerhand:
1. Er ist in New York. Die Frau, die er liebt, ist nicht in New York.
2. Er soll einen Vortrag über das Bewusstsein halten, und ihm fällt kein Wort ein.
3. Er denkt. Zu viel. Nie kann er aufhören zu denken: „Als ich zu Hause bin, setzte ich mich an den Küchentisch und versuche, an nichts zu denken. Es klappt nicht. Je konzentrierter ich die Wörter aus meinem Bewusstsein wegschiebe, desto härter prallen sie wieder zurück, von den Wänden, den Möbeln, den ungeöffneten Briefen zwischen den alten Zeitungen auf dem Tisch, von der Farbe des Himmels, der Form der Wolken, dem Geruch in der Küche.“
4. Er kann nicht glücklich sein: „Ich überlege, ihr zu sagen, dass ich nur dann glücklich bin, wenn ich mich nicht frage, ob ich glücklich bin, und dass ich mich das eigentlich immer frage, außer wenn ich esse, saufe, scheiße oder ejakuliere.“
5. Er kann nicht treu sein. Nicht einmal ein bisschen: „Es ist mir physikalisch nicht möglich, das Auftauchen eines weiblichen Körpers in meinem Gesichtsfeld zu ignorieren.“
6. 1–5 sind ihm stets bewusst und er denkt ohne Unterlass darüber nach.

Heinz Helle hat in New York studiert – und zwar Philosophie. Anders gesagt: Damit hat er quasi Recherchearbeit betrieben für seinen ersten Roman Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin. Denn der Protagonist, der namenlose Ich-Erzähler, befindet sich in New York – und er ist Philosoph. Das Denken über das Denken bestimmt all sein Tun, seine Wahrnehmung, jede Minute seines Seins. Es gibt für ihn keinen Zustand, in dem er frei wäre vom Philosophieren. Und das ist sehr anstrengend. Nicht nur für ihn, auch für mich. Denn ich bin zwar nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen, fühle mich aber, wenn ich die ganze Zeit über die Box in der Box in der Box nachdenke, irgendwann komplett zusammengeschrumpelt. Das klingt dann so: „Wenn man, während man etwas tut, außerdem denkst, dass man etwas tut, ist man weniger gut in dem, was man tut, weil man ja einen Teil von dem, was man braucht, um zu tun oder zu denken, dafür verwendet zu denken, was tu ich hier eigentlich?“ Ich kann mich die ganze Lektüre über nicht entscheiden, ob ich den Herrn Philosoph vor Mitleid umarmen oder ihm eine Kugel zwischen die Augen jagen will.

Das Leben ist kompliziert. Und für den Ich-Erzähler in Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin ist es sogar so kompliziert, dass man sich fragt, wie er es eigentlich erträgt. Er verwickelt sich so sehr im Strudel seiner Gedanken, dass er alles, woran ihm etwas liegt, an die Wand fährt. Er kann das Leben nicht genießen. Nur in vereinzelten hellen Augenblicken gelingt es ihm, sich von dieser Selbstbehaftung zu lösen: „Wir sehen und hören nichts mehr, wir sind einfach da, an einem zufälligen Ort, zu einem zufälligen Zeitpunkt, und unsere Gehirne hören auf, Informationen über die Umgebung zu prozessieren oder Daten zu analysieren, Pläne, Ideen, Gründe dafür, dass wir hier sind, dass wir wir sind, dass wir sind, Die Welt ist hell, windig und kalt. Und wir sind in ihr.“ Dieser Roman, der mit gerade mal 159 Seiten recht fragmentarisch bleibt, liest sich wie ein innerer Monolog – und ist dabei wirklich gut geschrieben. Heinz Helle hat am Schweizerischen Literaturinstitut gelernt und arbeitet als Werbetexter, er hat beim Ingeborg-Bachmann-Preis gelesen und wurde mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet, er weiß, was er tut. Wer sich mit Philosophie beschäftigen mag, wer einen Hang zu melancholischem Nachdenken hat, ist damit ganz sicher gut bedient. Ich hab es gern und schnell gelesen, und am Ende war ich froh, kein Philosoph zu sein. Ich hätte mir längst selbst zwischen die Augen geschossen.

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Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin von Heinz Helle ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42398-1, 159 Seiten, 18,95 Euro).

Was ihr tun könnt:
Dem Autor beim Lesen zuhören und die lobenden Worte der Zeit vernehmen, die den Roman souverän, intelligent und geglückt nennt.
Ein paar Rezensionsnotizen beim Perlentaucher dazu lesen.
Euch ein Interview mit Heinz Helle im Regen anschauen.
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