Bücherwurmloch

Corinna T. Sievers: Propofol

„Möglicherweise kriecht der Tod mir schon wieder aus den Poren“

Er ist Chefchirurg einer Kinderklinik, ein alternder Mann und ein veritables Arschloch: Bernard Rohr erzählt, was damals passiert ist, als er im OP stand, um die siamesischen Zwillinge zu trennen. Er schmückt diesen Bericht mit viel Misogynie und Sexismus, mit rassistischen und ewig gestrigen Ansichten, seine Aussagen sind Relikte einer Zeit, in der es völlig normal war, dass Männer sich nehmen, was sie wollen. Es hat sie ja auch niemand daran gehindert. Aber Bernard spürt, dass die Zeiten sich ändern, dass er auf dem absteigenden Ast sitzt, dass der Ast vielleicht schon abgebrochen ist und zu Boden kracht. Er will den Kopf oben halten, er will weiterhin Frauen aufreißen und seine Geliebte zu Praktiken zwingen, die ihr keinen Spaß machen, er will wieder Geld haben und Ansehen – stattdessen hat er Propofol. Das man sehr genau dosieren muss, um nicht (wie Michael Jackson) daran zu sterben. Und vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, noch weiterzumachen als großkotzerter Chauvinist in einer Welt, die sich zu einem neuen Verständnis von Männlichkeit entwickelt: indem man sich möglichst oft betäubt.

Ich habe bereits seit „Die Halbwertszeit der Liebe“ eine Vorliebe für die Romane von Corinna T. Sievers und mochte auch „Vor der Flut“ wahnsinnig gern. Weil sie böse sind, diese Geschichten, kompromisslos, entlarvend, schwarzhumorig, bitter. Ich bin Österreicherin, ich liebe das. Und der aktuelle Roman hat mich sehr an meinen eigenen Protagonisten erinnert, Maximilian Wenger aus „Das Licht ist hier viel heller“, und wie viel Spaß es gemacht hat, ihn zu schreiben. Ich kann nur vermuten, dass es Corinna ähnlich ergangen ist: Sie geben guten Stoff ab, diese mittelalten Typen, denen die Geilheit im Gesicht steht, die ihn aber kaum noch hochkriegen. Das zu lesen, ist hart (höhö), man muss sich einlassen auf die Perspektive eines Frauenhassers, der nichts so großartig findet wie sich selbst, aber auch merkt, wie alles um ihn herum zerbröckelt und dass er nicht dagegen ankommt. Erzählt wird nicht von ihm oder über ihn, sondern aus seiner Innensicht, das macht das Ganze grade so fatal. „Propofol“ ist ein Buch über eine (hoffentlich) aussterbende Gattung, ein Abgesang auf die alten weißen Männer. You had your time. Now leave.

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