Gut und sättigend: 3 Sterne

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken

Goshen„Wenn du der Einzige bist, der etwas weiß, dann ist dieses Etwas weniger real“
Stell dir vor, du bist Neurochirurg und fährst nach einer langen Schicht übermüdet mit deinem Jeep in die Wüste, um dich noch ein wenig auszutoben. Stell dir vor, du steigst aufs Gas und überfährst plötzlich einen Menschen. Du siehst sofort, dass du ihn nicht retten kannst. Du lässt ihn liegen. Du lässt ihn sterben. Dabei hältst du dich für einen guten Menschen, und deine Frau, die Kriminalbeamtin ist, bewundert dich für deine Moral. Du erzählst ihr nichts, du willst alles vergessen. Stell dir vor, die Witwe des Toten steht am nächsten Tag vor deinem Haus, und sie könnte dir alles nehmen, was du hast – deine Frau, deine Kinder, deinen Job –, indem sie dich verrät. Du bietest ihr Geld, aber das will sie nicht. Sie zwingt dich zu etwas ganz anderem. Und weil du etwas so Furchtbares getan hast, bist du ihr ausgeliefert …

Die israelische Autorin und Psychologin Ayelet Gundar-Goshen wurde 2013 mit ihrem ersten Roman Eine Nacht, Markowitz bekannt. Ich habe ihn nicht gelesen, aber er hat mich neugierig gemacht – auf diese junge Schriftstellerin, der so viel Talent und Fingerspitzengefühl zugeschrieben wird. Beides besitzt sie auch, wie sie mir mit Löwen wecken gezeigt hat. Das Besondere an diesem Buch ist das Setting, die Ausgangssituation, die sich hervorragend eignet, um moralische Fragen aufzuwerfen und mit ihnen zu jonglieren: Einer, der besser gestellt ist und weiß, überfährt einen, der ungewollt ist und schwarz – einen afrikanischen Flüchtling. Ist dieser Mensch weniger wert? Ist es gerechtfertigt, dass der Arzt nicht seinetwegen alles aufs Spiel setzen will? Ist es gerechtfertigt, dass man Boote mit seinesgleichen sinken lässt? Feinsinnig und mit viel Intelligenz ergründet Ayelet Gundar-Goshen eine Existenz, die auf einmal auf der Kippe steht, einen Mann, der sich für unfehlbar gehalten hat, und eine Ehe, die von dem plötzlichen Schweigen beinahe erdrückt wird.

Löwen wecken ist ein sehr gutes Buch, das noch um einiges intensiver wäre, wenn es zwischendrin nicht so lange Durststrecken hätte. Während die handlungs- und temporeichen Stellen sehr spannend und gelungen sind, verliert sich die Autorin dann wieder so sehr in uninteressanten Details, dass ich ihr gar nicht mehr folgen mag. Das nimmt mir persönlich sehr viel von meinem Lesevergnügen. Mit dem Ende hat Ayelet Gundar-Goshen mich durchaus überrascht, aber, ich gestehe es, nicht unbedingt begeistert. Was bleibt also zu sagen über dieses Buch, das mich so in einen Wigelwagel gestürzt hat? Dass die Frage, ob es uneingeschränkt zu empfehlen ist, genauso schwer zu beantworten ist wie die ethischen Fragen, die es stellt: Ja und Nein. Ihr solltet es aber dennoch lesen, weil es ein Stück Menschsein zu Papier bringt und erlebbar macht.

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Löwen wecken von Ayelet Gundar-Goshen ist erschienen im Kein & Aber Verlag (ISBN 978-3-0369-5714-2, 432 Seiten, 23,50 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Ayelet Gundar-Goshen schreibt über das individuelle Schicksal eines Mannes, der in sich ein Raubtier entdecken muss, das er dort nicht vermutet hätte“, schreibt Sophie von Literaturen.
– „Der Psychologin Ayelet Gundar-Goshen ist ein dichtes, ungemein berührendes Werk über das Aufeinanderprallen der ersten und dritten Welt gelungen. Machtmissbrauch und Schuld sind auf beiden Seiten mannigfach vorhanden“, heißt es bei Ruth Justen.
– „Die Autorin balanciert gekonnt zwischen den beiden Welten. Weisheit, Gefühl und jede Menge Schmerz bestimmen diesen  Roman zwischen harmonischem Familienglück und tragischer Realität in der Wüste Sinai“, schwärmt Jacqueline Masuck auf We read Indie.

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