Gut und sättigend: 3 Sterne

Kevin Kuhn: Hikikomori

„Wer nicht weiß, was er auf dieser Welt soll, ist zu allem bereit“
Als Till nicht zum Abitur an seiner Waldorf-Schule zugelassen wird, verkriecht er sich aus Trotz in seinem Zimmer. Anfangs wirkt es, als schmolle er einfach ein wenig, und alle haben dafür Verständnis. Aber Till kommt nicht mehr raus. Er trennt sich von seiner Freundin Kim, schränkt den Kontakt zu seinem besten Freund Jan auf ein Minimum ein, nimmt nicht mehr am Familienleben teil. Er wird zum Hikikomori, er sperrt sich selbst weg und verliert sich in der virtuellen Welt 0 im Netz, die gar nicht existiert und dennoch für ihn zum Rückzugsort wird. Die Eltern sind ratlos, die pubertierende Schwester ist mit Shopping und Liebschaften beschäftigt. Till verschließt sich also nicht nur vor der Außenwelt, er wird von ihr auch nicht behelligt. Doch wie lange kann ein junger Mann sich in einem leeren Zimmer vergraben? Und was geschieht, wenn seine letzte Verbindung zu anderen Menschen, das Internet, gekappt wird?

Kevin Kuhn, Jahrgang 1981 und somit noch jung zu nennen, hat sich in seinem Erstlingswerk mit einem Phänomen beschäftigt, das in Japan geprägt wurde und daher mit dem japanischen Ausdruck Hikikomori bezeichnet wird: dem gesellschaftlichen Rückzug eines Menschen, der sich der Welt komplett entzieht. Dafür mag es verschiedene Ursachen geben, der Auslöser im vorliegenden Buch ist auf jeden Fall der Umstand, dass der Protagonist seinem Schulalltag enthoben wird und seine Zukunftspläne fürs Erste vereitelt sind. Er reagiert darauf nicht impulsiv oder trotzig, sondern plant ganz gezielt, sich in seinem Zimmer, das er zuvor fast komplett ausräumt, einzumummen. Erstaunt und neugierig nehme ich neben ihm Platz und starre auf die Tür, die sich immer seltener öffnet. Draußen lärmt die Familie beim Essen, draußen regnet oder stürmt es, draußen entscheiden sich Tills Freunde für Studiengänge, aber er und ich bleiben drin. Nicht nur sein Verhalten, sondern auch das von Tills Eltern ist hochgradig befremdlich für mich: Die Kuratorin und der Schönheitschirurg sind finanziell gut gestellt, halten sich für intelligent und stark, sie reden über das Problem – aber sie bemühen sich nicht, es zu lösen, sie agieren nicht, nehmen Tills selbst auferlegte Einsamkeit hin. „In deinem Alter und in einer so fordernden Welt, die euch wirklich viel abverlangt, hätte ich bestimmt das Gleiche getan“, sagt die Mutter zur verschlossenen Tür. Ich will sie anbrüllen und zwingen, ihren Sohn aufzurütteln, aber als stiller Teilhaber des Geschehens bin ich dazu verurteilt, stumm zu bleiben.

Während der Lektüre frage ich mich, ob man nur Hikikomori werden kann bzw. das Dasein als solcher erträgt, wenn man eine Internetverbindung hat. Denn die Flucht ins Netz ist für Till die einzig logische und mögliche Handlungsweise. Ist er also wirklich allein? Ist sein Verhalten einfach eine Steigerung der heutigen freakigen World-of-Warcraft-Nerds? In Hinblick auf die Originalität des Romans finde ich es schade, dass Till mit dem Spiel Medal of Honor einem derartigen Klischee folgt und sich in einer digitalen Welt verliert, dass er zwischen Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden kann – was für mich im Widerspruch zu seiner Klugheit steht. Diese Welt soll frei sein von den Zwängen, denen Till unterlegt, frei von Verpflichtungen und Druck. In diesem Sinn ist diese Welt natürlich unwiderstehlich – nicht nur für Till. Je länger seine selbstgewählte Klausur dauert, umso langweiliger wird mir notgedrungen beim Zusehen, ich will mich bewegen, ich will springen und tanzen und schreien, ich will raus. Die aufgebaute Spannung verpufft für mich zum Großteil im Lauf des Romans, weil der große Konflikt, der Höhepunkt, ausbleibt. Als alles zu Ende ist, muss ich mich sammeln und den Gefühlen in mir nachspüren: Erschüttert bin ich, verwirrt, verärgert und hoffnungsfroh. Kevin Kuhn, der exzellent schreiben kann, hat in seinem Roman dem „modernen Jugendlichen“ porträtiert, der aus dem virtuellen Universum nicht mehr herausfindet. So bin ich erleichtert, als ich dieses mir fremde Universum verlassen darf – und freue mich umso mehr über meine Realität.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist ansprechend und hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: natürlich die Fragen, was einen 18-Jährigen dazu bringt, der Welt den Rücken zu kehren, welche Anteile Internet und Videospiele haben und was Eltern tun können.
… fürs Herz: eine große Traurigkeit wegen des Schweigens, des Fehlens von Zuneigung und Hilfe. Und die schöne Erinnerung an Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar.
… fürs Gedächtnis: die hochgradig krasse Badewannenszene auf der Party.

Hikikomori von Kevin Kuhn ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1116-9, 224 Seiten, 14,99 Euro).

0 Comments to “Kevin Kuhn: Hikikomori”

  1. Wenn ich mir so die Prämisse durchlese, dann frage ich mich, wie füllt man denn einen ganzen Roman, wenn die Hauptfigur nur in ihrem Zimmer herum hockt. In deiner Rezi erzählst du nun etwas von der Außenwelt, die durch die Zimmertür zu Till hinein schallt.

    Wie wird das denn vom Autor beschrieben?

    Persönlich bin ich Computerspielen nicht so zugetan und muss sagen, dass meine Erwartungen an das Buch nun von vorneherein etwas niedriger ausfallen. Ich hätte es gerne gesehen, wenn der Autor die Hauptfigur völlig auf sich selbst zurück geworfen hätte, ohne Ablenkungen und Beschäfftigungstherapie. Denn alleine mit Internet ist eben nicht so ganz alleine.

    Trotzdem werde ich dieses Buch wohl lesen, denn mich interessiert das Thema Hikikomori ungemein, auch wenn ich beim lesen immer noch über das Wort stolpere 😉

    Sag mal, hast du “Ich nannte ihn Krawatte” gelesen? Das hat doch eine ähnliche Thematik, oder nicht?

    LG, Katarina 🙂

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    1. Mariki Author

      Nun ja, wie füllt man damit einen Roman … ich hätte mir, wie man hoffentlich an meiner Rezension merkt, mehr inneren Kampf und weniger Internet gewünscht. Denn wie du schon sagst: Heute ist niemand, der Internet hat, allein. Außer dem Verlieren in dieser Welt 0 kann in Tills Zimmer nicht viel geschehen … und zumindest mir fiel da doch die Decke auf den Kopf.
      Von “Ich nannte ihn Krawatte” war ich absolut begeistert: http://buecherwurmloch.wordpress.com/2012/03/20/milena-michiko-flasar-ich-nannte-ihn-krawatte/ Es gehört für mich zu den besten Büchern, die ich 2012 gelesen habe. Allerdings setzt die Handlung in dem Fall erst ein, nachdem einer der Protagonisten seinen Hikikomori-Zustand aufgegeben hat und versucht, sich wieder in die Welt einzufinden.

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  2. laura

    Liebe Mariki, gerade erst entdecke ich deinen Blog… und wieviel es zu entdecken gibt! Deine Rezension wird mich erstmal von diesem Buch abhalten, denn auch mich “stört” die Internetpräsenz beim Hikikomori-Zustand sozusagen… Ist man wirklich zurückgezogen und allein, wenn man sich aufs Internet beschränkt? Da gibt es sicher noch krassere Hikikomoris. Gibt es zum Bsp. Flüchtige in die Bücherwelt? Das wäre wohl mein persönlicher Hikikomori-Zustand…
    Flasar lese ich übrigens gerade in einem Zweier-Lesezirkel – und ich liebte es bereits nach den ersten Sätzen!

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    1. Mariki Author

      Hallo Laura, es freut mich sehr, dass dein Weg dich hierher geführt hat! Und dass du Flasar liebst … denn es ist ein Buch, das man einfach lieben muss! Wie schön, dass du den Rest davon noch vor dir hast.

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