Für Gourmets: 5 Sterne

Andrea Bajani: Liebe und andere Versprechen

Das Versprechen für ein wunderbares Buch
„An dem Tag, als Sara auszog, konnte man es spüren. Es war einer dieser Tage, an denen für alle die Luft vibriert, einer dieser Tage, an denen ein ansteckendes Fieber grassiert. Es fühlt sich an, wie wenn man einen Stromschlag abkriegt, irgendjemand kriegt als Erster einen gewischt, der greift nach irgendjemandem neben sich, und schon nimmt alles seinen Lauf.“ Was für Pietro ihren Lauf nimmt, ist die Geschichte eines Sommers, jenes Sommers, in dem Sara ihn verlässt und Mario stirbt. Lange haben Sara und Pietro versucht, aus eins und eins drei zu machen, aber weil kein Kind gekommen ist, ist erst das Eheglück aus der Wohnung ausgezogen und dann Sara. Pietro ist Lehrer und sieht vor sich einen leeren Sommer ohne seine Schüler und ohne seine Frau. Die Nachricht von Marios Tod weckt Erinnerungen in ihm, die verblasst sind und über die er nie gesprochen hat: Mario war sein Großvater, der Mann seiner Mutter, ein abgemagerter Knochenmann mit dem Wahnsinn in den Augen, der nie schlafen konnte, denn „was ihn wach halte, seien die Toten, sei der Krieg, der zwar draußen längst vorbei, aber in seinem Inneren wurde noch immer geschossen“. In Russland war Mario, und er kam lebend nachhause, aber besser wäre es vielleicht gewesen, er wäre dort gestorben. Durch Zufall lernt Pietro jemanden kennen, der eigene Erinnerungen an den Krieg in Russland hat und sie mit Pietro – und dessen Mutter, die viel aufzuarbeiten hat in dieser Hinsicht – teilt: „Olmo fing an, Erinnerungen beiseitezulegen, so wie man Sachen für einen Sohn beiseitelegt, der nur ab und zu mal vorbeikommt.“ So verwebt sich Pietros Geschichte mit der von Olmo, der von seiner Mutter und der von Mario – und auch die Geschichte mit Sara ist noch nicht zu Ende.

Andrea Bajani ist ein höchst erfolgreicher italienischer Autor, der sich seinen Erfolg mit zarten, bildreichen, klugen Worten erschrieben und verdient hat. Schon mit Lorenzos Reise hat er mir sein großes Talent bewiesen, und Liebe und andere Versprechen ist noch viel besser. Bajani hat einen fast klaren, fast schon ironischen, schnörkellosen Stil, den er in seinem dritten Roman perfektioniert hat. Dieser Stil lässt sich so beschreiben: Andrea Bajani braucht nicht viele Worte, um zu sagen, was er sagen muss, und dennoch lassen mich diese Worte verblüfft zurück, weil sie alle ins Schwarze treffen wie surrende Pfeile. Ich möchte die Worte neben mich auf die Couch setzen wie Stofftiere, möchte sie behalten und jederzeit betrachten können, angreifen, streicheln, weil sie so ehrlich sind und traurig, möchte immer von ihnen umgeben sein. Die Vergleiche, die dieser Autor zieht, sind lebendig, sie sind eigene Geschichten, die das Erzählte vor meinen Augen sichtbar machen: „Wenn Sara ein Schmerz unerträglich groß wurde, ging sie immer schlafen. Ich sah sie auf wackeligen Beinen durch den Flur gehen, dicht an der Wand entlang, manchmal hielt sie sich fest, setzte sich bei der erstbesten Gelegenheit. Sie schleppte sich durch die Wohnung, als sei der Schmerz ein Mann und sie trage ihn huckepack, seine Arme im Klammergriff um ihren Hals, seine Beine auf ihre Hüften gestemmt.“

Liebe und andere Versprechen ist ein Buch über Geheimes und Unausgesprochenes und die Kraft, die es über die Menschen hat, über Liebe, Vertrauen und den Krieg, dessen Schrecken noch jene spüren, die lange schon in Frieden leben. Ganz nah bleibt Andrea Bajani bei seiner Hauptfigur Pietro, der eine so enge Beziehung zu seiner Mutter hat und so oft bei ihr isst, wie es wohl nur ein Italiener kann, und der nach jenen Spuren sucht, die 1943 unter dem russischen Schnee verschwunden sind. Ab und zu verlässt Bajani seinen Protagonisten auch kurz, um durch Pietros Augen von der Mutter und Mario zu berichten, ein erzählerischer Kunstgriff, der mir nie sehr behagt, weil ich stets denke: Pietro kann das alles über seine Mutter gar nicht wissen. Aber als Nicht-Literaturwissenschaftlerin analysiere ich dieses Unbehagen über den Erzählkniff nicht weiter, sondern freue mich einfach darüber, eine so lebensechte, wunderliche, schmerzhafte und elegante Geschichte lesen zu dürfen. Lorenzos Reise hat mir gefallen, aber Liebe und andere Versprechen hat mich begeistert. Und als mein Blick beim Schließen des Buchs noch einmal auf Bajanis Bild auf dem Umschlag fällt, kommt mir der kindisch-naive Gedanke daran, wie ungleich die Schöpfung ihre Gaben verteilt hat, wenn ein so schöner Mann auch noch so gut schreiben kann.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Farbgebung ist schön, mit der Laterne kann ich allerdings nichts anfangen.
… fürs Hirn: Russland und der Krieg, die Menschen und ihre Angst, einander zu verlieren, die zerbrechlichen Gefüge, die sie errichten, um sich zu schützen.
… fürs Herz: alles! Jede Zeile, jeder Satz, jeder Gedanke, jedes Gefühl.
… fürs Gedächtnis: die erhellenden, faszinierenden Sprachbilder. Und meine eigene Zufriedenheit beim Lesen.

Liebe und andere Versprechen von Andrea Bajani ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-24918-8, 340 Seiten, 14,90 Euro)

4 Comments to “Andrea Bajani: Liebe und andere Versprechen”

  1. Am Donnerstag wird das Buch gekauft – ist schon bei der lieben Klappentexterin vorbestellt.
    Obwohl ich die Einzige unter uns Bloggerinnen zu sein scheine, die nicht heimlich in Herrn Bajani verknallt ist 😉
    Deine Rezension hat nochmal bestätigt, dass es gelesen werden MUSS, besonders dein Fazit “Jede Zeile, jeder Satz, jeder Gedanke, jedes Gefühl” sei großartig, macht mich umso neugieriger.

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    1. Mariki Author

      Wer weiß, vielleicht bist du nach der Lektüre auch in ihn verschossen 😉 Oder du findest ihn zu süßlich, wie Daniela auf Facebook angemerkt hat … ich bin richtig gespannt auf deine geschätzte Meinung!

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  2. Juhu, lasst uns das machen – einen Fanclub gründen!

    Ich habe mir übrigens nun endlich auch Lorenzos Reise gekauft. Du hast es ja nicht ganz so herausragend gefunden wie den neuen Roman, andere Leserinnen hatten genau die gegenteilige Meinung. Ich bin gespannt.

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