Für Gourmets: 5 Sterne

Leena Parkkinen: Nach dir, Max

Manege frei für ein grandioses Buch!
“Im Zirkus verhüllt man die Hässlichkeit mit Masken, die Sorgen verbergen sich unter grellen Farben.” Sie können davon ein Lied singen: Max und Isaak. Als siamesische Zwillinge im Jahr 1899 in Hamburg geboren, wachsen sie fernab ihrer Eltern bei einer Tante auf dem Land auf, die sie 1911 an einen Zirkus verkauft. Allen Vorhersagen zum Trotz überleben Max und Isaak nicht nur, sie verwandeln ihre Besonderheit in Kapital: Weltweit treten sie mit ihrer Tanzshow auf. Sie sind notgedrungen eng miteinander verbunden, sie erleben alles gemeinsam, Schmerz genauso wie Trauer und Liebe. Max ist körperlich stärker, er ist ein Flirtmeister und lockt die Frauen reihenweise ins Bett der Zwillinge, wo Isaak sich bemüht, dem Bruder Privatsphäre zu gewähren. Isaak ist zarter besaitet, er liest gern, und so sind die Zwillinge zwei unterschiedliche Menschen und doch einer: “Schnelle Bewegungen mit zwei Körpern erfordern Antizipation. Max und ich hatten gelernt, die Gedanken des anderen zu lesen. Ich ahnte jeden Schritt, den Max machen würde, jede Handbewegung und jeden Seufzer. Ich spürte Max in meinem Körper, aber auch außerhalb.” Es überrascht wohl beide, dass es ausgerechnet Isaak ist, der sich 1928 in Helsinki in die grazile Russin Iris verliebt, die durch das Leben der Zwillinge trampelt. Sie ist schön und zutiefst egoistisch, grausam in ihrer berechnenden Verteilung von Zuneigung, eigentlich verheiratet, aber der Liebling aller Männer: “Iris wollte Sicherheit, sie wollte alles, was sie bekommen konnte: Süßigkeiten, Zigarettenetuis, rosa Chiffonkleider, Liebe und all das, wovon sie in den Illustrierten gelesen hatte. Sie war ein hungriges Kind und eine zu schnell gewachsene Frau zugleich.” Von Beginn an ist klar, dass Iris die beiden ausnutzen wird – doch das sind sie gewöhnt, denn Ehrlichkeit ist ihnen in ihrem Leben selten begegnet. Im beginnenden 20. Jahrhundert sind sie eine Art zweiköpfiges Monster, das gegen Geld begafft werden kann, Freunde finden sie nur unter ihresgleichen, oder, wie Isaak es ausdrückt: “Darin bin ich begabt: Menschen zu betrachten, die sich aus meinem und Max’ Leben entfernen. Das ist mein Spezialtalent.” 1931 ist die Zeit der Monstrositätenzirkusse jedoch vorbei – und wer kann es Max und Isaak verdenken, dass sie müde sind.

Ich-Erzähler Isaak ist eigentlich ein Wir-Erzähler: Durch seine Augen bekomme ich ein Gespür dafür, wie es sein muss, nie, wirklich niemals allein zu sein. Es hat viel Gutes, aber auch Schlechtes, immer von einem siamesischen Zwilling begleitet zu werden, es ist stets jemand zum Reden da, aber einsam kann man auch zu zweit sein. Auf außerordentlich einfühlsame Weise erzählt die finnische Autorin Leena Parkkinen, die mit diesem Roman 2009 einen Preis für den besten finnischen Debütroman erhielt, von Menschen, die anders sind: von Sabrina, der Seejungfrau, vom Aligatormenschen Alpha und der Prostituierten Lucia mit dem wogenden Busen. Als Missgeburten werden sie bezeichnet, und doch lernen Max und Isaak keine herzlicheren Menschen kennen auf ihren Reisen als die versehrten. Leena Parkkinen lädt mich ein, Platz zu nehmen im Zirkus und mir ein Schauspiel anzusehen, das von der Suche nach einem Tropfen Glück handelt, von Champagner, der in Strömen fließt, von Schaulust und Traurigkeit. Ich sehe in lachende Gesichter, ich rieche Pferdemist und Schweiß, und wenn die Lichter am Ende der Vorstellung ausgehen, offenbart sich die wahre Tragik im Leben der Darsteller: dass sie sich immer betrachten lassen müssen in ihrer Andersartigkeit, dass sie nicht leben können wie alle. Sehr fantasievoll und mit einem Stil wie flüssige Milchschokolade richtet Leena Parkkinen das Spotlight auf kuriose und mutige, schillernde und verzweifelte Gestalten, jede für sich interessant und liebenswert. Nie wird bewertet oder vorgeführt, die Moral muss nicht mit erhobenem Zeigefinger angemerkt werden, sie verbirgt sich in den Ereignissen. Mutig und in jeder Hinsicht besonders sind die Protagonisten Max und Isaak, die stets ein Doppelleben führen müssen, die an einem bestimmten Punkt abgeklärt sind und viel gesehen haben – ohne je ihren Charme zu verlieren. Das ist die große Kunst eines Schriftstellers: mir etwas, das ich mir nicht einmal vorstellen kann – an einem anderen Menschen untrennbar festgewachsen zu sein – , erlebbar zu machen, mit allen Sinnen. Wunderbar ist auch, wie sie das Porträt einer schönen, getriebenen, selbstsüchtigen Frau entwirft, bei der man gleich weiß, dass sie nur Ärger bringen wird, und die doch authentisch wirkt. Leena Parkkinen zeigt mir, wie es gewesen sein muss im Zirkus und in der gehobenen finnischen Gesellschaft der 1920er-Jahre. Alles hat sie erfunden – und ich glaube ihr jedes Wort. Dieses Buch hat mich mit vielen Gefühlen erfüllt, mit Mitleid und Ekel, mit Freude und Bewunderung, und es hat mich restlos begeistert – mit jeder einzelnen Seite.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein Cover, das zum Inhalt passt und zugleich ein Hingucker ist.
… fürs Hirn: das Gefühl, ein zweigeteilter Mensch zu sein, vier Beine, vier Arme zu haben, eine Seele vielleicht oder zwei, sich das alles nicht ausmalen zu können und es doch zu fürchten.
… fürs Herz: kein Herzschmerz, kein Liebeskitsch, sondern viele anrührende Figuren, Geschichten und Szenen, die ans Herz gehen, weil sie zutiefst menschlich sind.
… fürs Gedächtnis: das große Lesevergnügen, das mir dieses Buch bereitet hat, und der Respekt für das Talent der Autorin.

Nach dir, Max von Leena Parkkinen ist erschienen im Osburg Verlag (ISBN 978-3-940731-76-0, 416 Seiten, 21, 90 Euro)

0 Comments to “Leena Parkkinen: Nach dir, Max”

  1. Dieses Buch ist heute bei mir eingezogen. Ich freue mich sehr, es bald lesen zu dürfen 😀 Ich werde Deine Rezension jedoch nicht lesen, nur das “Durchgekaut…” habe ich erstmal wahrgenommen. Ich habe eigentlich noch gar keine Rezension zum Buch gelesen…
    Ich will mich nicht beeinflußen lassen, sondern mir selbst die Meinung bilden. Nach der Lektüre, werde ich aber dann mit Freude wieder hier vorbei schauen.

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  2. Liebe Mariki,

    obwohl mich seit geraumer Zeit Zirkusgeschichten nicht mehr besonders anziehen, entkomme ich dem Buch hier nicht. Dank deiner wunderschönen, verführerischen Rezension! Ich möchte auch flüssige Milchschokolade genießen und der Andersartigkeit auf so ungewöhnliche Form begegnen. Da ich ohnehin immer auf der Suche nach jungen schreibenden Talenten bin, scheint dieses Werk perfekt.

    Herzlichst,

    Klappentexterin

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    1. Mariki Author

      Liebe Klappentexterin,
      ich hoffe sehr, dass auch für dich das Buch wie flüssige Schokolade sein wird! Trotz einer Aversion gegen Zirkusgeschichten – aber keine Angst, es ist nicht (nur) eine Zirkusgeschichte, irgendwie schon, aber mehr so am Rande. Eigentlich ist es alles mögliche gleichzeitig. Und das hat mich sehr fasziniert. Ich wünsche dir ein ebenso großes Lesevergnügen, wie ich es genießen durfte!

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