Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Und alles, was lebt, hat eine Aufgabe, an der es sich zerreibt”
Schramm unterrichtet nicht mehr. Nach dem, was vorgefallen ist zwischen ihm und dem Schüler Waidschmidt, kehrt er nicht an die Schule zurück. Dabei hat er das Unterrichten gemocht, er war ein guter Lehrer, wenn auch nicht unbedingt beliebt, die Struktur des Alltags gefiel ihm – obwohl er gar nicht Lehrer hatte werden wollen. Sein Leben lang wohnte Schramm im Mutterhaus, eine Frau ist nicht bei ihm geblieben. Die Mutter ist mittlerweile verstorben, nur Schramm und das leere Haus sind noch da. „Und es war nicht so, dass es immer ein Ereignis geben musste, einen Grund, weshalb die Dinge waren, wie sie waren. Stattdessen dieses Hinüberschleichen, von einem Zustand in einen anderen, so langsam, dass einer es erst wahrnimmt, wenn der kritische Punkt längst erreicht ist.“ An diesem kritischen Punkt beginnen die längsten großen Ferien für Schramm: jene, die gar nicht mehr enden werden. Auf dem Boden seiner Einfahrt kniet Schramm, kämpft geduldig gegen die Kriechgewächse und denkt nach, über den Bruder, über dessen schlechtes Verhältnis zum Vater, über die Eltern, die Schule, Waidschmidt. Der Bruder hat sich zum Besuch angekündigt und Schramm könnte vielleicht Zuflucht suchen in einem Gespräch mit ihm, aber: „Es ließ sich nicht miteinander reden.“ Verbittert ist Schramm, aber viel zu verbissen, um es sich einzugestehen, und zutiefst einsam.

Große Ferien von Nina Bußmann ist deutsche Literatur in reinster Form. Tiefdeutsch ist jeder Satz, bleischwer und tönern und aussagekräftig. Nina Bußmann schreibt mit tragender Stimme und mit Gewicht; Heiterkeit und Leichtfüßigkeit sucht man in diesem Roman vergebens. Sie würden auch nicht zum Inhalt passen, zum inneren Monolog eines Mannes, der kaum Fehler gemacht hat und sich wundert, wie er dennoch scheitern konnte. Mit ihrem eleganten, verschrobenen, bedeutungsschwangeren Stil reiht die junge Nina Bußmann sich ein in die Parade großer deutscher Autoren und wird von der Kritik gefeiert. Dies ist für mich ein Roman, der ausschließlich über die Sprache funktioniert, ein Stilroman, in dem die eigentliche Geschichte hinter dem präzisen, überlauten Erzählton fast verschwindet. Nina Bußmann zerlegt ihren Schramm in seine Einzelteile, sie ätzt alles weg, was ihn ausmacht, bis nur sein Kern bleibt, und trotzdem gelingt es Schramm, allerhand vor mir zu verbergen. Ich lese, was er denkt, und woran er nicht denken mag, das erfahre ich nicht. Er ist pedantisch, er sticht auf das Unkraut ein und will Ordnung erzwingen.

Stets warte ich auf Interaktion mit einem anderen Menschen, auf das Auftauchen des Bruders, an den Schramm sich laut Klappentext wendet, doch ich warte vergebens, das Buch bleibt in Schramms Gedanken- und Erinnerungswelt gefangen. Er springt hin und her zwischen dem Erleben, dem Säubern der Bodenplatten, und dem Erinnern an die Begebenheiten der Vergangenheit. Das ist etwas, das mir viel Aufmerksamkeit abverlangt und das ich dennoch sehr mag, denn ich will beim Lesen durchaus gefordert werden. Und neugierig bin ich natürlich auf die Sache mit Waidschmidt, einem undurchsichtigen, vielleicht sehr klugen, in jedem Fall besonderen Typen: „Aber bei einem wie Waidschmidt wusste man nie, ob er, was er sagte, ganz meinte, ob er es nur sagte, um sich etwas einzigartiger zu machen, wie er es mit seinen gebügelten Hemden, seiner Ledermappe tat“, sagt Schramm über den Schüler, der ihn bedrängt, fasziniert und zu Fall gebracht hat. Wobei das Schramm gar nicht so sehr zu stören scheint, so resigniert und abgeklärt klingt er. Persönlich hätte ich mir letztlich doch ein wenig mehr Klarheit und Aufklärung gewünscht, aber beeindruckt hat mich Nina Bußmann mit ihrem lesenswerten Werk über Schuld und Scheitern, Bedeutungslosigkeit und Einsamkeit allemal. Es hat sich angefühlt wie ein Spaziergang über einen alten, längst aufgegebenen Friedhof, an dem sogar die Erinnerung langsam in einem Grab verschwindet – nicht gruselig, nur hoffnungslos.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
was das Wurzelwerk und der Baum mit dem Buch zu tun haben, ist mir schleierhaft – vielleicht eine Andeutung auf das Unkraut, das Schramm entfernt?
… fürs Hirn: alle Achtung, großartiger Stil!
… fürs Herz: nichts, denn Schramms Herz ist wie eine vertrocknete Schrumpelfrucht.
… fürs Gedächtnis: nichts vom Inhalt, aber einiges von der gewichtigen Sprache.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Im Krieg überlebt nur die Liebe
Als Stjepan erwacht, sind seine Kameraden tot, gestorben wie so viele in einem unbenannten Krieg. Er ist verletzt, seine Erinnerung ist lückenhaft, aber er weiß, dass er fort muss. Beim Anblick eines Babys, das an der Brust der toten Mutter liegt, ist er so erfüllt von Mitgefühl, dass er es mitnimmt. Für ihn allein ist der Fußweg durch die unsichere Gegend gefährlich, für den Säugling ist das Fehlen von Nahrung lebensbedrohlich. Stjepan kümmert sich mit seiner ganzen Kraft um das Kind, das er Skoda nennt, nach der Marke des Autos, in dem er es fand. Nichts verbindet ihn mit diesem Baby, zu nichts ist er ihm gegenüber verpflichtet, außer vielleicht zu Menschlichkeit, und so lässt Stjepan Schlimmes über sich ergehen, um Skoda zu retten. Das Land ist leer und verödet, die Gefahr steht an jeder Ecke bereit. Der junge Soldat kämpft gegen jede Wahrscheinlichkeit um eine Zukunft, um das Leben, um die Liebe.

Auf gerade einmal 80 Seiten entsprinnt der französische Autor Olivier Sillig eine tragende Parabel von exzellenter Wucht. Den Krieg, von dem er erzählt, begründet er nicht, weil er, wie jeder Krieg, sinnlos ist, und das Land, in dem gemordet wird, hat keinen Namen, weil es jedes Land sein könnte. Die Worte, die Olivier Sillig verwendet, sind nicht groß und protzig, nicht wild und vorlaut, sondern klein, zart, leise – und deshalb umso gewichtiger. In dieser kurzen Erzählung harmonieren Inhalt und Stil perfekt miteinander. Als ich das Buch schließe, habe ich das Gefühl, dass Ollivier Sillig darin alles gesagt hat, was es über die Menschen zu sagen gibt: dass sie unendlich brutal und gewissenlos sind – aber gleichzeitig fähig zu bedingungsloser Liebe. Sie bekriegen einander, aber sie helfen einander auch. Skoda ist ein Roman voller Resignation und voller Hoffnung. Mit dem Ende bin ich nicht zu 100 Prozent einverstanden, weil es mir im Detail nicht ganz realistisch erscheint und weil es den letzten Satz definitiv nicht gebraucht hätte, aber im Großen und Ganzen ist es ein stimmiger, logischer, sinnvoller Schluss. Ergreifend ist Skoda, schonungslos und klug. Mit diesem Buch ist es wie mit allen Büchern, die wirklich gut sind: Es zu lesen, schmerzt. Weil jeder Satz darin eine Wahrheit offenbart, vor der ich nur allzugern die Augen schließen würde. Weil das Leben grausam ist. Weil es immer, immer so weitergehen wird. Und weil am Ende nur die Hoffnung bleibt, dass die Liebe stets ein bisschen, ein kleines bisschen stärker sein wird.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr schönes Cover!
… fürs Hirn: Menschheitshass.
… fürs Herz: Stjepan und das, was er tut: Er rettet ein Kind.
… fürs Gedächtnis: nicht nur das Buch, sondern auch der vilgerverlag aus der Schweiz, den ich bisher nicht kannte und von dem ich mir gleich das nächste Buch gekauft habe, nämlich Sieben Jahre Schlaf von Karin Richner. Bemerkung am Rande: eine wirklich originelle Idee hat der bilgerverlag für die Buchrücken!

Skoda ist erschienen im bilgerverlag (ISBN 978-3-03762-023-6, 84 Seiten, 17 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Summer of Drowning
Im hohen Norden ist das Licht entweder immer da oder nie. Hier lebt die 18-jährige Liv mit ihrer Mutter auf der kleinen norwegischen Insel Kvaløya, die Mutter ist eine talentierte und bekannte Malerin aus Oslo, die in den Medien als Einsiedlerin gilt. Einen Vater gibt es in Livs neben nicht – obwohl er plötzlich auftaucht wie eine Randnotiz, die ihre Aufmerksamkeit fordert –, aber eine Vaterfigur: den alten Kyrre Opedahl. Er ist der einzige Nachbar und ein begabter Geschichtenerzähler. In dem Sommer nach Livs Schulabschluss gibt es auch allerhand, worüber er etwas erzählen kann: Innerhalb von 10 Tagen ertrinken Mats und Harald Sigfridsson im Malangenfjord in einem ruhigen, stillen Meer, „viel zu gleichgültig, um sich für sie zu interessieren“. Kyrre zufolge hat die Huldra sie geholt, ein Fabelwesen aus einer anderen Zeit, das vielleicht ein Mensch sein könnte, und das Liv in ihrer Schulkollegin Maia zu erkennen meint, „ein wildes Mädchen mit in die Haut geätzten Traummustern und fahlen, düsteren Tieren, ein Geschöpf, das die Furcht und damit auch jede Hoffnung auf Erlösung hinter sich gelassen hatte“. Liv spürt eine unerklärliche Angst vor Maia, die vor deren Tod mit den Brüdern Sigfridsson unterwegs war, sie sieht eine dunkle Seite in Maia, fühlt sich angezogen und abgestoßen und macht sich Sorgen, als Maia an der Seite von Martin Crosbie auftaucht, dem Sommergast von Kyrre. „In früherer Zeit gab es Menschen, die zum Horizont gehörten – Kyrre hatte mir davon erzählt –, und da sie besser als alle Menschen sehen konnten, machte man sie zu Beobachtern; ruhige, gedankenverlorene Wachposten, die wussten, was kommen würde, dessen Bedeutung aber nie ganz begriffen; Himmelsbeobachter, die über Sternbilder berichteten, sie aber nie zu deuten wussten. Martin Crosbie war einer von diesen Menschen.“ Da er nirgends hingehört, befindet er sich in Gefahr. Und während die Midnattsol das Land in ihr weißes Licht taucht, nehmen Ereignisse ihren Lauf, die ebenso mystisch sind wie das Himmelsphänomen.

Der schottische Autor John Burnside ist mehrfach ausgezeichnet für sein Werk – und mit In hellen Sommernächten zum ersten Mal im Bücherwurmlochmagen verschwunden. Der Vorschautext hat mir eine magische, rätselhafte, spannende Geschichte versprochen, in der die Grenzen zur Realität verschwimmen, und genau das habe ich bekommen. Allerdings liegt der Fokus viel stärker auf der Hauptfigur Liv, als der Klappentext ahnen lässt, die Ertrunkenen selbst werden dabei komplett außer Acht gelassen. Diese 18-jährige Protagonistin ist viel mehr Einzelgängerin als ihre Mutter, von der man es behauptet, sie hat keine Freunde und hält sich fern von der Liebe. Ihre Beziehung zur Mutter ist notgedrungen eng, einen Vater gab es nie, sie sind symbiotisch zusammengewachsen. Die Mutter ist eine ruhige, abwesende, stets im Atelier in die Malerei versunkene Person, fehlerfrei und engelsgleich in Livs Augen, über jeden unfreundlichen Gedanken erhaben, dabei doch eigentlich so lieblos. Der Vater ist der Erzeuger, dem Liv sich nicht stellen möchte, aber muss. Einzig für den alten Kyrre empfindet Liv noch etwas, sonst geht sie auf Distanz zu den Menschen. „Verschlungen mag ich nicht. Ich mag’s unberührt. Es gibt zu viel Berührung auf der Welt. Zu viel Verschlungenheit.“ Liv steckt fest, wie 18-Jährige eben feststecken in jener Zwischenzeit, in der sie nicht zurück in die Schule wollen, aber nicht wissen, wohin es vorwärts gehen soll. Und in diesem Sommer, in dem das Licht nie ausgeht, verschwinden – sozusagen in heller Nacht – Menschen, werden vom Meer verschluckt oder lassen sich, man weiß es nicht, freiwillig verschlucken, und Liv kann ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen.

John Burnside entführt mich an einen Ort, an dem sommers die Sonne nicht untergeht, an dem Trolle leben und eine ebenso verführerische wie gefährliche Huldra, die eine Idee sein mag, ein vergilbter Mythos oder ein schönes Mädchen, das Männer auf die offene See lockt. An diesem befremdlichen Ort geschehen merkwürdige Dinge, die, da sie nicht erklärbar sind, hingenommen werden, von den Beteiligten ebenso wie von mir, sie gehören zu jenen unwirklichen Ereignissen, die man nicht verstehen kann und muss. In hellen Sommernächten ist kein Thriller, kein Krimi, kein Gruselschocker – und trotzdem so unheimlich wie leise Schritte vor der Schlafzimmertür, wenn man allein im Bett liegt und niemand im Haus ist. Sehr stilvoll ist die Gänsehaut gekleidet, die diesen Roman überzieht, von bemerkenswerter Eloquenz. Trotz der Verweise auf die alten Sagen Norwegens ist das Buch sehr modern, und obwohl es so modern ist, lässt der Autor Merkwürdigkeiten auftreten, die nicht rational sind, nicht messbar mit Maschinen, nicht einzufangen in eine SMS. Wunderbar gemacht und wunderbar zu lesen!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Schrift auf den Burnside-Covern gleicht sich, die Buchfarbe unter dem Umschlag ist meine Lieblingsfarbe.
… fürs Hirn: man muss sich auf die Stimmung, die Atmosphäre einlassen. Fur meinen Geschmack gibt es allerdings doch ein bisschen wenig Lösungen.
… fürs Herz: Liebesgeschichte exklusive.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Glück ist ein Geheimnis, es ist still, persönlich und jenseits aller Worte. Man kann es nicht beschreiben, und entgegen anders lautender Behauptungen kann es auch nicht geteilt werden. Sieht man zwei Menschen, die zusammen glücklich sind, weiß man, dass jeder für sich das Glück mitgebracht hat.”

In hellen Sommernächten von John Burnside ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0460-6, 384 Seiten, 19,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

460 Seiten voller Überraschungen!
Am New Yorker Flughafen stoßen Madeline Green aus Paris und Jonathan Lempereur aus San Francisco zusammen – und vertauschen im allgemeinen Tumult ihre Smartphones. Zurück zuhause, bemerken sie verärgert, was geschehen ist, und vereinbaren, die Handys per Post zu tauschen. Doch beide sind überaus neugierig und stöbern in den tragbaren Telefonen. Was sie zutage fördern, ist schier unglaublich: Sie entdecken das Geheimnis des jeweils anderen. Jonathan war einst extrem erfolgreich, ehe er alles, alles verlor, und Madeline, die in Paris einen Blumenladen führt und mit einem reichen, attraktiven Mann verlobt ist, stammt nicht aus Frankreich und ging früher einem ganz anderen Job nach. Obwohl sie einander bei ihrer kurzen, unangenehmen Begegnung äußerst unsympathisch fanden, sind sie plötzlich Feuer und Flamme für das Leben des anderen, suchen im Internet nach Informationen und finden schließlich etwas Absurdes: Es gibt ein Mädchen, das Jonathan und Madeline verbindet. Ein Mädchen, das vor Jahren verschwunden ist und nie gefunden wurde …

Guillaume Musso ist in Frankreich ein Literaturstar. Nachdem ich Nachricht von dir gelesen habe – was heißt gelesen, in knapp vier Stunden verschlungen! – , muss ich sagen: zu Recht! Ich habe als Kontrastprogramm zum hochliterarischen Roman Am Schwarzen Berg zu diesem französischen Bestseller gegriffen und leichte Kost erwartet – stattdessen bekam ich einen richtig spannenden Thriller, der mich nicht losließ. Etwas reißerisch spricht der Klappentext von den Geheimnissen, die Jonathan und Madeline verbergen, und was für Geheimnisse sollten das schon sein, dachte ich, die üblichen Klischees: Kindheitstraumata, verstorbene Familienmitglieder, Ehebruch, sexueller Missbrauch. Weit gefehlt. Guillaume Musso bietet tatsächlich etwas, das die Bezeichnung Geheimnis verdient: sehr originell, fesselnd und verblüffend ist das, was durch die Neugier der beiden ans Licht kommt. Was mit einer Schicksalsbegegnung beginnt und sich, wie ich vermutete, zu einer Liebesgeschichte entwickeln wird, wird plötzlich zu einem rasanten Thriller inklusive Entführung und Verfolgungsjagd. Abwechselnd aus der Sicht seiner beiden Protagonisten erzählt, entspinnt Guillaume Musso eine aufregende, vielleicht ein wenig haarsträubende, aber sehr unterhaltsame Geschichte. Sprachlich und stilistisch ist sie im Mittelmaß angesiedelt, wobei der Autor aber immerhin an den schlimmsten ausgelutschten Formulierungen vorbeischrammt und sehr wohl Talent beweist – und ein gewisser lockerer, leicht eingängiger Stil genau das Richtige ist für einen Roman, der in einem Rutsch gelesen werden soll. Das ist gelungen, denn die Mischung aus schicksalshafter Lovestory und prickelnder, gefährlicher Suche ist perfekt für einen Nachmittag auf der Couch, den man mit der Nase im Buch und dem Kopf bei Jonathan und Madeline verbringt. Inhaltlich ist Nachricht von dir für mich die bisher größte Überraschung des Jahres. Guillaume Musso feuert mir köstliche Sternen-Rezepte, mehrere Morde, grausige Opferfotos, Informationen über Blumen und verräterische E-Mails um die Ohren, sodass ich kaum noch Luft bekomme. Nachricht von dir ist das perfekte Buch für alle, die sich ein bisschen entspannen möchten – aber nicht zu sehr …

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schön gemacht, luftig, liebesgeschichtenmäßig.
… fürs Hirn: wer glaubt, nicht allzu viel mitdenken zu müssen, irrt sich. Überanstrengt wird das Hirn aber natürlich nicht. Die Wendungen und Lösungen sind aber wirklich originell!
… fürs Herz: viel! Eine Vater-Kind-Beziehung, Ehebruch, Verliebtheit und der Tod.
… fürs Gedächtnis: meine eigene Verblüffung darüber, dass der Roman mir mehr Vergnügen beschert hat als gedacht. War ich so geflasht, weil ich nie Thriller lese? Sollte ich etwa öfter zu vergnüglicher Unterhaltungslektüre greifen? Neue Abgründe tun sich auf!

Nachricht von dir von Guillaume Musso ist erschienen im Pendo Verlag (ISBN 978-3-866-12313-7, 464 Seiten, 14,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Es ist unmöglich, auf Dauer dankbar zu sein”
Als Mädchen kommt sie in die Schweiz, das gelobte Land für Flüchtlinge, sauber, schön und meinungsfrei, „bei uns hast du es gut”, bekommt sie oft zu hören. Aber so gut findet sie es nicht unter den Menschen, die fremd sind und in ihr nur die Fremde sehen: „Ich war nicht auf ihre Art anders, ich war ein Gast vom Mond. Bei uns war alles durchlässig, die Türen der öffentlichen Toiletten ließen sich nicht schließen, wir waren nämlich ein einziger unteilbarer Körper. Und ich wurde von diesem Körper wegamputiert.” Bei der Gegenüberstellung der alten Heimat, der sie entflohen ist, und der neuen Bleibe, in der sie stets um Akzeptanz flehen muss, offenbaren sich unüberbrückbare Differenzen: „Ich blieb störrisch und weigerte mich, in der Zwangsehe mit meinem Gastland glücklich zu werden.” Zu steif sind die Schweizer, zu distanziert, zu pünktlich und zu organisiert. Sie halten sich für Gutmenschen, obwohl sie nicht tolerant sind, erwarten Assimilation, obwohl sie Ausländer stets als solche stigmatisieren. Und so bleibt sie ganz bewusst eine undankbare Fremde, umgibt sich mit ihrer Andersartigkeit wie mit Chitin, behält ihren anstößigen Humor und ihre Bissigkeit – und findet in den Sprachen ein Wasser, in dem sie schwimmen kann. Sie wird Dolmetscherin und hilft in Krisenfällen, wenn Flüchtlinge und Einheimische vor Sprachbarrieren stehen, übersetzt in Krankenhäusern oder der Psychiatrie und wird mit tragisch-traurigen, alltäglich-schrecklichen Immigrantenschicksalen konfrontiert: „Als sprachlicher Notdienst kurve ich in Sprachen wie in verwinkelten Gassen herum, berühre den einen oder anderen Arm und schaue in viele Augen. Aufwühlende Fahrten sind das.” Sie passen zu ihrem aufmüpfigen Naturell und bieten ihr eine neue Art von Heimat: in einem sicheren Land zu leben und jederzeit Zuflucht zu finden im Hafen der Sprachen.

18 Jahre war Irena Brežná alt, als sie 1968 von der Tschechoslowakei in die Schweiz emigrierte. Sie machte sich als Journalistin einen Namen und legt mit Die undankbare Fremde ihren zweiten Roman vor. In jeder Zeile spürt man, dass die Autorin weiß, wie es sich anfühlt, zu stranden in einem Land, in dem man eigentlich nicht sein will und in dem man keinen Anker findet. Ihre Ich-Erzählerin ist jung und abenteuerlustig, es dürstet sie nach Liebe und Geheimnissen, doch sie knallt gegen die Pedanterie und Ordnungsliebe der Schweizer – die in diesem Fall austauschbar sind mit Österreichern und Deutschen – wie gegen eine Granitplatte. Sie soll nicht so bleiben dürfen, wie sie ist, aber so zu werden wie die Einheimischen, ist nicht möglich – und ebenfalls unerwünscht. Welche Art von Integration kann es geben? Wie lässt sich das Zusammenleben von so unterschiedlichen Kulturen gestalten? Das sind die Fragen, denen die Autorin nachgeht. Die undankbare Fremde ist eine intensive, gehaltvolle Auseinandersetzung mit dem Gefühl des Fremdseins, eine Aneinanderreihung von Gedanken und Begebenheiten. Eine Romanhandlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht, vielmehr wird ein schillernder Reigen an eingefangenen Situationen präsentiert, es entsteht ein Mosaik, das begreifbar machen soll, wie zersplittert ein solches Leben dern der Heimat ist, dass es aus 7000 Scherben besteht, die in der Sonne funkeln.

Herausragend ist die Sprache, die Irena Brežná als Werkzeug benutzt, um die Welt so zu beschreiben, wie ihre Ich-Erzählerin sie sieht, voll lebendiger Metaphern, sehr fordernd, eingängig und sperrig zugleich. Mit Worten erschafft die Schriftstellerin einen Menschen und zeigt ihn mir so klar, dass es mir vorkommt, als könnte ich ihn tatsächlich kennenlernen: „Im Dolmetschervertrag steht, dass wir verpflichtet sind, das Gesagte gewissenhaft wiederzugeben. Für vorsätzlich falsches Übersetzen gibt es eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Und pünktlich sollen wir sein und gepflegt aussehen. Aber ich bin zu zerzaust für diese frisierte Aufgabe. Das Schicksal des anderen treibt mich ans offene Meer, und der Wind rupft an meinen Gefühlen und Gedanken.” Nie passt er ins Schema, dieser Mensch, und trotzdem findet er einen Weg, eine Nische. Abwechselnd berichtet die Erzählerin von Ankunft und Eingewöhnung bzw. vom Alltag als Dolmetscherin, jede Geschichte erzählt von einem anderen Einwanderer. Die Eltern und der Bruder kommen nur bei der Einreise kurz vor und werden danach nie wieder erwähnt, lange habe ich auf ihre Rückkehr gewartet. Die undankbare Fremde ist ein kleines Büchlein mit großer sprachlicher und inhaltlicher Wucht – ausgezeichnet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
der Tanz auf dem Seil ist bildlich für das ganze Leben.
… fürs Hirn: wer ist fremd und wie lange? Kann man jemals nicht mehr anders sein und ist das überhaupt erstrebenswert?
… fürs Herz: das Aufatmen, das mit der Hoffnung einhergeht, dass am Ende vielleicht doch jeder seinen Platz finden kann.
… fürs Gedächtnis: die wunderbare Sprache und der völlig andere Blick auf die mitteleuropäische Mentalität – die ja auch meine ist.

Die undankbare Fremde von Irena Brežná ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-052-5, 140 Seiten, 16,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Knallharte Gangster in Lederhosen
Matthias Pascolini, der “bayerische Hiasl”, ist der Nationalheld von Ettengrub. Das liegt vor allem an der verherrlichenden Biografie, die Freiherr von Ergoldsbach über ihn geschrieben hat. Camilla Friedmann weiß es allerdings besser. Sie ist eine erfolgreiche Anwältin und denkt nur noch selten an ihre Verwurzelung in Ettengrub. Denn dort ist viel passiert rund um die wilde Gang von Hias, den Habererbund, die bayerische Partikularismusbewegung und den blühenden Handel mit Kokain – und das, was passiert ist, hat Camilla um ihre Familie gebracht. Sie war ein Teenager, als sie dem berüchtigten Hiasl begegnete, und sie erzählt eine andere Geschichte als der träumerische Freiherr: Sie berichtet, wie Pascolini mit 19 Jahren anfing, Zigaretten, Alkohol und weißes Pulver über die Tiroler Grenze zu schmuggeln, wie er sich durch einen Mord zum Chef der Schmugglerbande machte und später durch eine List vor der Polizei rettete, sie schildert die Jagd auf ihn und die Kämpfe, die Protestanten und Katholiken miteinander ausfochten. Beschaulich ist in ihrer Erzählung nur die schöne Bergkulisse, vor der die Lederhosen-Buam rauben, morden und Drogensüchtige mit Stoff versorgen. Camilla hatte eine heimelige Kindheit auf dem Land – und das verfolgt sie bis heute.

Pascolini von Matthias Steinbeis ist ein wildes, amüsantes, sehr originelles und elegantes Buch, das ein etwas anderes Bild vom idyllischen Bayern entwirft: Jähzornig sind die Menschen und einander spinnefeind, bei Gelegenheit schlagen sie dem anderen den Schädel rein. Gestandene Mannsbilder sind sie, allen voran Matthias Pascolini, der wie ein Wild-West-Cowboy in bayerischer Tracht auftritt. Verwegen, mutig und draufgängerisch sind sie, die Bayern, und sie gehen über Leichen. Ein Jauchefass voll stinkendem Spott ergießt Matthias Steinbeis über Traditionsfanatikern und Touristen-in-den-Hintern-Kriecher, über heuchlerischen Politikern und wahrheitsverdrehenden Biografen. Er hat sich eine dermaßen absurde und komische Geschichte ausgedacht, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Und er bedient sich einer Sprache, die ich zum Erzählen einer solch anekdotenreichen, extrem sarkastischen Handlung nie vermutet hätte: Wohltemperiert ist sie, melodisch, eloquent, gespickt mit herrlich feinen Metaphern: “Die Mädchen staken in Miederkleidern in benzinpfüzenhaft schillernden Himmelblau mit erdbeerrosa Schürzen und trugen eine höchst sonderbare grüne Kopfbedeckung, geformt wie ein Katzenfressnapf und den Ettengruber Mädchen bei Besuchen außerorts ein Quell beständiger Pein, aber unglückseligerweise auf alten kolorierten Stichen des Münchner Staatsarchivs wiedergegeben und deshalb von Kurt Duftinger mit brutaler Autorität durchgesetzt.” Berauschend ist diese Sprache, und während ich – passend zum Thema – Bier erwartet habe, prickelt sie wie Champagner: “Nie sah ein bayerisches Mannsbild prächtiger aus als Kurt Duftinger in seiner Feiertagstracht: genageltes Schuhwerk, graugestrickte Wadenstrümpfe, zwei nackte Knie, bucklig und leicht gerötet, der Saum der schwarzen Lederhose, seitlich mit grasgrünem Seidenband verschnürt und mit gleichfarbiger Eichenlaubstickerei appliziert, die Hose nach oben hin stark in die Breite geschnitten wie ein Blumentopf, um den mächtigen aufwölbenden Leib aufzunehmen, und vorne mit einem ebenfalls reich bestickten Hosenlatz versehen, in dem eingehakt Duftingers linker Daumen seine Ruhestätte fand.” Alle Achtung! Oder, wie die Bayern sagen: sauber. Dieser Roman ist wie ein Wanderausflug: beschwingt und heiter, aber auch voller Abgründe. Ich-Erzählerin Camilla blickt zurück in die Vergangenheit, greift dabei aber immer wieder vor und heizt die Neugier an: “Bogenschütz war noch nicht so fett wie später auf den Fahndungsplakaten”, heißt es beispielsweise. Ein Manko ist, dass das Buch im letzten Drittel deutlich schwächer wird und am Ende ein paar Fragen offen bleiben, das hätte Steinbeis meines Erachtens besser lösen können. Interessant sind dagegen die historischen Fakten, die er eingebaut hat und die bewirken, dass der Roman authentisch wirkt und man nach seiner Lektüre tatsächlich belesener ist. Dass ich selbst in einer ländlichen Gegend von Österreich aufgewachsen bin und mein Elternhaus in Fußwegdistanz zu Bayern liegt, führt dazu, dass mir das Buch gleich sieben Mal so viel Spaß macht. Auch über die Dürrnberger Grenze wurde früher viel geschmuggelt – aber nicht so viel gemordet wie in Ettengrub. Empfohlen sei Pascolini allen, die einen persönlichen Bezug als Einheimische zum Dorfleben haben, denen, die gern in Bayern urlauben, und allen, die sich einfach nur amüsieren wollen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Farbkombination ist krass grell, der Hirsch logisch.
… fürs Hirn: wissenswerte Infos über Bayerns Geschichte.
… fürs Herz: am ehesten noch Camillas Familiendrama, aber eigentlich geht der Roman mehr an die Lach- als an die Herzmuskeln.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Österreich und Bayern sind sich ähnlich, ohne dass man genau sagen könnte, warum. In den letzten tausend Jahren haben die beiden Länder einander permanent mit Krieg, Elend und Brandschatzung überzogen, haben sich wechselseitig ihre nationalen Opfermythen gestiftet – mit der Sendlinger Mordweihnacht die einen den anderen und mit Andreas Hofers Heugabelguerilla die anderen den einen – , und erst als es gegen Preußen und ein noch gar nicht existierendes Gebilde namens Deutschland ging, kämpften sie Seite an Seite und verloren, woraufhin die einen begannen, die Deutschen als die anderen zu definieren, und die anderen nicht.”

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Reise in die Zukunft der DDR
“Wo sind wir denn?” “In einem Land, das Raufutter verzehrende Großvieheinheit zu einer Kuh sagt.” Ganz klar: Das ist die DDR. Allerdings nicht die DDR der Zeit vor 1989, sondern die DDR im Oktober 2011. Denn statt einer Wiedervereinigung gab es 1990 eine Wiederbelebung. Die Grenze ist zu, Egon Krenz seit 22 Jahren an der Macht, die Menschen im Osten fahren mit Rapsöl betriebende Phobos und leben davon, dass die Erdölpipelines aus Russland über ihren Grund führen. Martin Wegener arbeitet bei der Volkspolizei und bekommt einen ebenso mysteriösen wie aufsehenerregenden Fall aufgehalst: Ein ehemaliger Berater von Krenz, inzwischen über 80, wurde erhängt, die Sympolsprache deutet auf die Stasi. Der Westen gerät in Aufruhr, die Geschichte dröhnt durch die Medien, und der Osten kann nicht – wie sonst – alles unter den Teppich kehren. Im Gegenteil: Martin Wegener bekommt mit Richard Brendel einen westdeutschen Kollegen an die Seite gestellt, der alles hat, was ihm fehlt: “Brendel verbuchte Dienstgrad, Westherkunft, Statur, Bonbonparfum und ein schmal geschnittenes Filmschauspielergesicht inklusive blauer Augen auf seinem Siegerkonto. Und als Bonus einen Dienstwagen, nach dem sich ganz Ostberlin umdrehte.” Wegener dagegen trägt Cordhosen, spricht im Geiste mit seinem verschwundenen Mentor Josef Früchtl, und die Frau, die ihm weggelaufen ist, Karolina, liebt er traurigerweise noch immer. “Ein DDR-Mensch hat immer nur die Wahl zwischen Schlaganfall und Kopfschuss”, bekommt Wegener erklärt und erlebt es am eigenen Leib: Wie soll er die Wahrheit herausfinden in einem Land, in dem es gar keine Wahrheit gibt, sondern eine offizielle und eine inoffizielle Version der Realität? Was hat Karolina mit der ganzen Sache zu tun? Wer ist Freund, wer Feind und wer bespitzelt eigentlich wen? Ein heilloses Chaos entsteht rund um den Mord, der die Konsultationen – die Annährerung von Ost und West, bei der es um viele Erdölmilliarden geht – gefährdet, und Martin Wegener, ein tollpatschiger, in die Jahre gekommener Kerl mit Bauch, steckt mittendrin: “Ihr wisst mehr, als ich je wissen werde, ihr steht hinter den Kulissen, ihr verschiebt die Wände, ihr führt Regie. Ich stolpere über die Bühne. Aber, meine schnurrbärtigen, halbglatzigen, braunblonden, verwarzten, verwanzten Freunde, ich stolpere in unvorhergesehene Richtungen.”

Mit Plan D hat Simon Urban eine ulkig wirkende, aber erschreckend reale Parallelwelt entworfen. Sehr konsequent und aufs Detail bedacht präsentiert er eine DDR der Gegenwart, die modern geworden und doch – im Geiste, in den Idealen – veraltet geblieben ist. Sein Protagonist Martin Wegener ist ein liebenswerter Hampelmann, der daran gewöhnt ist, dass der Staat ihn nach Belieben herumschubst, der aber in geeigneten Momenten mit Scharfsinn und genialen Einfällen überrascht. Nichts darf er wissen, nichts soll er herausfinden, alle Ermittlungen dienen nur dazu, den Schein zu wahren, man bemühe sich um eine Auflösung: “Dieser Fall ist ein schwuler Flötenspieler, und wir sind die schlauen heterosexuellen Ratten, die sich die rosa Öhrchen zuhalten, kapiert?” Die politische Situation in Plan D ist endlich mal ein origineller, humorvoller Rahmen für einen durchaus klischeebehafteten Ermittler.

Simon Urban ist Werbetexter bei Jung von Matt, und man merkt es an den spitzen Pointen, an seinem Wortwitz, an den schlagkräftigen Wortkreationen. In seinem ersten Roman hat er sich allerdings vom Werbetextergräuel, immer “kurz und knackig” schreiben zu müssen, befreit: Er wartet stellenweise mit Sätzen auf, die ein wenig zu lang und zu gewunden sind; das verursacht einige Durststrecken im Buch. Auch ist mir manches – Respekt vor der umsichtigen Planung und lückenlosen Umsetzung – gar zu verhirnt, zu konstruiert und gewollt. Vermutlich ist das jedoch ein unangenehmer, aber nötiger Nebeneffekt einer so authentischen und doch erfundenen Welt. Wie in einem klassischen Verwirrspiel öffnet dieser einfallsreiche Autor einen doppelten Boden nach dem anderen, lässt bespitzeln und doppelt bespitzeln, verdächtigen, verraten – bis niemand mehr sicher ist, auch der Leser nicht. Das ist kompliziert, aber dennoch ein Geniestreich. Insgesamt zeigt sich Plan D als komödiantischer, erheiternder, satirischer Krimi mit schön zynischen Seitenhieben auf Politik, Liebe und Wahrheit. Lässig, böse, verrotzt geschrieben, mit einigen Schwachstellen, über die man hinwegsehen kann. Ich würde eventuell sogar eine Fortsetzung lesen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
ein gruseliges, futuristisches, passendes Cover.
… fürs Hirn: alles! Die ganze Vorstellung einer DDR im Jahr 2011, ein einziger Gehirnkrampf, ein Schauspiel, eine Fantasiewelt!
… fürs Herz: die tragische Figur Martin Wegeners, der bei allen Klischees – Unattraktivität, Staatsdienst, unerwiderte Liebe – zu den sympathischsten Ermittlern der jüngeren Literatur gehört.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat:
“Haben Sie eine Frau?”
Kayser sah nicht überrascht aus. “Ich hatte eine.”
“Und?”
“Funktionierte nicht. Hab sie umgetauscht gegen eine elektrische selbstreinigende Wandfotze mit Echthaar.”
“Ihr seid glückliche Leute, da drüben im Westen.”

Dieser Roman ist nominiert für den „M Pionier“-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Man kann sich heute voneinander verabschieden und sieht sich möglicherweise nie wieder”
Der innere Aufruhg, dem der Architekt Ignacio Abel sich ausgeliefert sieht, kommt dem äußeren gleich, der seine Heimat Madrid erschüttert: Der spanische Bürgerkrieg zerrt im Jahr 1936 an der Stadt. Ignacio selbst ist rettungslos verloren in seiner leidenschaftlichen Liebe zur Amerikanerin Judith Biely. Ihretwegen hat er seine Frau Adela und seine Kinder Miguel und Lita vernachlässigt, hat ihre Leben an den Abgrund eines Stausees gedrängt und sie sogar zurückgelassen im gefährlichen Madrid, in dem zu jener Zeit ein Klopfen an der Tür den Tod bringen kann. “Aber jetzt war Madrid, wenn die Nacht hereinbrach, dunkler und gefährlicher und menschenleerer als ein mittelalterlicher Wald, und die Menschen waren wie Schakale, primitive Horden, nicht mit Keulen oder Steinäxten bewaffnet, sondern mit Gewehren.” Ignacio ist nach Amerika aufgebrochen – offiziell, um für das Burton College eine Bibliothek zu bauen, inoffiziell, um vor den Unruhen zu fliehen, und in Wahrheit, um nach seiner Geliebten zu suchen. Sie ist ihm abhanden gekommen kurz vor seiner Reise, die sie gemeinsam hatten antreten wollen, sie hat sich von ihm abgewendet wegen der Konsequenzen, die ihrer beider Affäre für Ignacios Familie hatte, und ist in den Straßenkrawallen Madris verschwunden oder – wie Ignacio hofft – nach Amerika heimgekehrt. Er erinnert sich an ihr erstes Kennenlernen, an seine sofort entflammende Begeisterung für die schöne junge Frau: “Ihre Gesichtszüge waren klar, wie mit einem feinen Stift gezeichnet: blasse Sommersprossen auf den Wangen und eine helle Haut, die das Gold von sonnenbeschienenem Weizen ihres Haars und das Graugrün der mandelförmigen Augen mit einem Hauch von Schläfrigkeit in den Wimpern noch verstärkte.” Er denkt an ihre gestohlenen Stunden zu zweit, die Poesie ihrer Gespräche und Briefe, die aphrodisierende Wirkung der ständigen Gefahr. Ignacio Abel ist unterwegs, um seine Geliebte zu finden – und hat auf dieser Reise viel Zeit, die aufrührenden Ereignisse Revue passieren zu lassen.

Dieses Buch ist ein Fluss. Es ist – man spürt es förmlich – aus dem bekannten spanischen Autor Antonio Muñoz Molina hinausgeflossen; aus Wortkaskaden besteht es, aus Satzbächen, Kommatawasserfällen, aus Metaphernströmen. Manchmal ist dieser Fluss reißend und voller Strudel, manchmal zieht er friedlich, ruhig und schön vorbei. Im 18. Roman dieses preisgekrönten Schriftstellers gibt es keine Einschränkungen für diesen Wortstrom, er schmückt ihn aus mit Adjektiven und Vergleichen, lässt ihn sich einen Weg bahnen durch die Grammatik, lässt den Leser atemlos auftauchen am Ende der Sätze: “Das Rot des Granatapfels wurde zu einer Farbe von glänzendem Leder; das staubige Gold der Quitte bekam mit wachsendem Halbdunkel zunehmen Glanz, reflektierte das Licht nicht mehr, sondern strahlte es aus; über den Apfel glitt das Licht hinweg wie über eine Kugel aus lackiertem Holz, erlangte jedoch eine gleichsam flüssige Dichte auf der Oberfläche der Trauben.” Luft holen. Mit einer überbordenden, elegant-melodischen Sprache lädt dieser Autor den Leser zum Schwelgen ein, kein Detail spart er aus, keine Regung ist ihm zu unwichtig. So erklären sich die 1002 Seiten dieses Buchs und der sogartige Leseeindruck, das Hineingesaugtwerden in den Wortwasserfall. Inhaltlich stellt der spanische Bürgerkrieg, mit dem Francos Diktatur begann, einen interessanten Rahmen dar; eine unsichere, bedrohliche Zeit, in der sich für Ignacio Abel ein ganz persönliches Drama abspielt: “Seit Monaten schon kann man sich bestimmter Dinge nicht mehr sicher sein, zum Beispiel ob jemand, an den man sich gut erinnert, den man vor ein paar Tagen oder einigen Stunden erst gesehen hat, noch lebt.” Das Außen und das Innen spiegeln einander in diesem elegischen Buch – während die Stadt um ihn herum zerbricht, findet Ignacio auch sein eigenes (Gefühls-)Leben in Trümmern vor. Mit der Blindheit der Liebe geschlagen, ignoriert er die Gefahr, in der er – und seine Familie – sich befindet, handelt nur nach seinem egoistischen Herzen. Ein Wermutstropfen ist das Ende des Romans, das mit bei all der langatmigen Vorbereitung ein wenig zu kurz geraten und daher enttäuschend erscheint. In jedem Fall muss man als Leser für Die Nacht der Erinnerungen etwas mitbringen, das uns heutzutage vermeintlich “fehlt”: Zeit. Zeit, um sich einzulassen auf die wahnsinnig schöne, anstrengende, verschnörkelte Sprache, um sich treiben zu lassen auf diesem Fluss, um an seinen Ufern zu ruhen. Ein Ausnahmewerk.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
ein schlichtes, kraftvolles Cover.
… fürs Hirn: viel Hintergrundwissen über die politische Lage Spaniens 1936 und den Bürgerkrieg.
… fürs Herz: Adelas böser, enttäuschter und doch liebevoller Brief, den Ignacio auf seiner Reise bei sich trägt.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Die zerbrechlichsten Dinge haben eine außergewöhnliche Fähigkeit zu überdauern, zumindest im Vergleich zu den Menschen, die sie herstellen und handhaben.”

Die Nacht der Erinnerungen von Antonio Muñoz Molina ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04499-0, 29,99 Euro, 1008 Seiten).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Dem Schicksal mit einem Schulterzucken begegnen
“Vielleicht war etwas in der Luft, was sich veränderte, ich weiß es nicht, aber ich behielt die Sonnenbrille auf. Ich beschloss, sie ständig zu tragen, zumindest tagsüber. Ich mochte den Abstand, den sie erzeugte.” Dem Schuldirektor allerdings ist der renitente 13-Jährige, der die Sonnenbrille nicht abnehmen will, ein Dorn im Auge. Audun verweigert sich und will nicht reden, weder über die Brille noch über seine Familie, auch nicht über den Umzug vom Land in die Stadt. Audun lebt mit seiner Mutter im Arbeiterviertel von Oslo, frühmorgens trägt er die Zeitung aus. Obwohl niemand ihm wichtig ist, findet er einen Freund im politisch interessierten Arvid. Den kann er dringend gebrauchen, hat er doch sonst niemanden, der ihn stützt: Die Schwester ist ausgezogen und lebt bei ihrem Freund, einem Schläger, der Bruder tödlich verunglückt, der prügelnde Vater verschwunden, aber noch nah wie eine unsichtbare Bedrohung. Audun begeistert sich für Literatur von Hemingway und anderen, schmeißt aber trotzdem ein Jahr vor dem Abschluss die Schule hin, um in einer Druckerei am Fließband zu arbeiten. Die Perspektiven für eine unbeschwerte Zukunft sind dürftig mit Voraussetzungen, wie Audun sie mitbringt, und doch kämpft er sich durch, mit eisernem Willen und schnellen Fäusten, um vielleicht ein bisschen glücklich zu werden.

Der Norweger Per Petterson wurde für sein Werk – darunter die Romane Pferde stehlen, Im Kielwasser und Ich verfluche den Fluss der Zeit – mehrfach ausgezeichnet. Völlig zu Recht, denn seine Prosa ist kraftvoll, schlicht und schlau, seine Charaktere sind stets nordisch verschroben, schweigsam, stark. In Ist schon in Ordnung porträtiert er einen Halbstarken, der – mithilfe von Schlaghose und Rockmusik – verschmelzen will mit der Umgebung, gleichzeitig aber Distanz wahrt, eine Sonnenbrille trägt, sich raushält, um nicht verletzt zu werden. Hat er doch genug Verletzungen ertragen müssen bisher: “Kann sein, dass meine Mutter hübsch ist, es fällt mir schwer, das zu beurteilen. Auf dem Land habe ich einmal gesehen, wie sich auf der Straße ein Mann nach ihr umgedreht hat, aber vielleicht war auch nur ihr Lippenstift verschmiert, oder sie hatte an dem Tag ein blaues Auge. Das hatte sie manchmal. Ich auch. Wenn mein Vater lange genug am Stück zu Hause war, hatten wir alle eins.” Alkohol und Gewalt dominieren den Alltag (nicht nur) in den norwegischen Durchschnittsfamilien, und dieses Buch zeigt ganz schmutzig und direkt, ungeschönt und frei von Humor die Schäden an Körper und Seele, die jeglicher Missbrauch an Kindern hinterlässt. Per Pettersons Hauptfigur Audun ist ein typischer Teenager, zutiefst verunsichert und auf Zuneigung angewiesen, gleichzeitig aber wegen der Umstände frühzeitig eigenständig und unabhängig.

Subjektiv gesehen muss ich sagen, dass für mich keines von Pettersons anderen Werken an das unsagbar schöne Pferde stehlen heranreicht, ich seinen schnörkellosen, selbstgenügsamen Stil aber sehr mag. Dieses Buch, im Original bereits 1992 erschienen, nennt die Times “sensibel, klar und messerscharf”; es ist voller Resignation und Hoffnung, voll Wut und Bitterkeit. Stärke bezieht Audun – wie alle von uns von Zeit zu Zeit – aus dem Schulterzucken, mit dem er Schicksalsschläge abtut, den Kragen hochgeschlagen und die Zigarette im Mundwinkel, was hilft es, was bleibt anderes, als mit nonchalanter Wegwerfbewegung zu sagen, Leck mich am Arsch, ist schon in Ordnung.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover erinnert an James Dean und Konsorten, lässt das Raubeinige, Dreckige, Gleichgültige, das den Kern dieses Romans ausmacht, erahnen.
… fürs Hirn: das Wissen, dass Auduns familiäre Situation keine Ausnahme, sondern die Regel ist.
… fürs Herz: der Mut, mit dem Audun sich durchbeißt, die Gefühle hinunterschluckt und weitermacht, immer, immer einfach weitermacht.
… fürs Gedächtnis: jene Zeit im Sommer, die Audun ganz allein in einem Pappkarton unweit seines Zuhauses verbringt.

Ist schon in Ordnung ist erschienen im Carl Hanser Verlag (ISBN 978-3-446-23640-0, 19,90 Euro, 224 Seiten).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Auseinandersetzung mit einem mutterlosen Leben
“Mit dem Weggehen hast du schon angefangen, als ich noch klein war.” Lorenzos Mutter ist viel unterwegs, anfangs nur für kurze Zeitspannen, dann immer öfter und länger. “Es wurde immer komplizierter, Platz zu finden, wo ich die Souvenirs, die du mir mitgebracht hast, hinstellen konnte, ohne sie übereinanderstapeln zu müssen. Sie kamen aus allen Ländern, aus jedem Winkel des Planeten, mein Zimmer wurde mit jeder Reise mehr zu einer Landkarte deiner alltäglichen Abwesenheit.” Die Mutter hat ein Schlankheitsei erfunden, in das man sich setzt, um dünner zu werden, ein Erfolgshit im Angesicht des Schlankheitswahns. Sie präsentiert es auf der ganzen Welt, um es zu verkaufen, gemeinsam mit ihrem Kompagnon Anselmi, der – das ahnt schon der kleine Lorenzo – weit mehr ist als ein Geschäftspartner. Den Sohn lässt die Mutter zuhause bei ihrem Lebenspartner, der nicht sein Vater ist und doch der einzige Papa, den er kennt: “Das Warten auf deine Rückkehr war für uns beide der einzige Zustand, der unser Zusammenleben in derselben Wohnung rechtfertigte.” Und als die Mutter schließlich ganz ausbleibt, als sie weggeht für immer, um ihre Firma im Zuge der EU-Erweiterung und der allgemeinen Goldgräberstimmung im Osten nach Rumänien zu verlegen, zieht dieser Mann Lorenzo auf, als wäre er tatsächlich sein Sohn. Viele Jahre später stirbt die Mutter, und Lorenzo fährt nach Bukarest, um sie zu begraben, um seine Füße dorthin zu setzen, wo sie gegangen ist, um sie zu verstehen und loszulassen.

Lorenzos Reise des italienischen Schriftstellers Andrea Bajani ist ein Buch der leisen Töne, zurückhaltend in seiner Anklage, sanft in seiner Traurigkeit. Ich-Erzähler Lorenzo spricht direkt mit seiner Mutter in diesem Roman, als wäre sie anwesend, hier, neben dem Leser, er redet sie an mit du, eine ungewöhnliche und in diesem Fall perfekte Erzählform. Schwerfällig wird die Sprache nur immer dann ein wenig, wenn Lorenzo von früher berichtet, denn das Deutsche stellt dafür nur das sperrige Plusquamperfekt zur Verfügung. Das kann man aber weder dem Autor noch der Übersetzerin zu Lasten schreiben, und so ist Lorenzos Reise ein inhaltlich wie sprachlich gelungener, weil ausbalancierter und fein nuancierter Stimmungsroman. Es geht um ein großes Gefühl in diesem Buch, um eine Liebe, die eines jeden Leben bestimmt – ob sie nun da ist oder nicht -, um eine Person, die die Schicksalsfäden zieht: die Mutter. Eine Mutter-Kind-Beziehung ist mit unendlich vielen Emotionen und aufgrund ihrer Wichtigkeit mit zahlreichen Tabus behaftet, und in uns allen ist tief verankert, dass eine Mutter ihr Kind nicht im Stich lässt. Ein Vater, ja, ein Vater geht, aber eine Mutter bleibt bei ihrem Kind, hütet, schützt, nährt und liebt es. Umso mehr schmerzt den Leser, wie allein Lorenzo war ohne seine Mutter, obwohl er nie um Mitleid heischt. Während sie zu Beginn jeden Sonntag anrief, war es zum Schluss nur noch einmal im Jahr, und jetzt, da sie tot ist, wandelt der Sohn in Rumänien auf den Spuren einer Frau, die er gar nicht kannte. Ihr Kompagnon Anselmi ist ein präpotentes Arschloch, ihr Fahrer Christian ein mitfühlender, aber distanzierter Kerl, und ihr einziger Freund, der Bestatter Viarengo, konnte sie nicht vor dem Verfall retten.

Das Ausmaß ihres Scheiterns schlägt die scharfen Krallen der Ironie in Lorenzos Gefühlswelt, ihre Einsamkeit macht ihren Weggang und seinen Schmerz sinnlos. Dennoch hadert Lorenzo nicht, er sucht nicht, weil es nichts zu finden gibt in diesem Land, das seiner billigen Arbeitskräfte wegen ausgebeutet wird, und Abschied hat er schon lange genommen: “Und so schauten wir einfach in die Ferne, denn ich mochte ihn nicht fragen, was dir passiert war, und er war nur aufgestanden, weil er die Frage nicht auf den Knien liegen haben wollte wie einen Blindgänger.” Lorenzos Reise ist ein Roman über Alleinsein und Verlust, über Niederlagen und den Stolz, diese nicht eingestehen zu können, über Familienbande, die nicht halten, und über das, was nach dem Tod bleibt von uns: nichts.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja, immerhin ist ein Kind auf dem Cover, wenn auch zu sehr verdeckt von dem überdimensionalen Teller.
… fürs Hirn: die Beschreibung der arroganten Italiener, die glauben, ganz Rumänien habe nur auf sie, ihre grandiosen Geschäftsideen und das klimpernde Kleingeld in ihren Hosentaschen gewartet.
… fürs Herz: die Szene auf dem Sofa, als Lorenzo und seinem Papa bewusst wird, dass die Mutter nicht mehr kommen wird, nie mehr.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Er hat mit seiner Ruhe unsere ganze Wohnung neu möbliert, wenn er da war, gingen wir alle ganz langsam, so wie die Astronauten auf dem Mond.”

Lorenzos Reise ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-24866-2, 14,90 Euro).