Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

SchollUnd gäbe es Barmherzigkeit!
Emma hat’s ja wirklich nicht so leicht. Ihr Leben lang hat sie den langweiligen Job beim Notar Wiesel ertragen, damit ihr Hansi studieren konnte, dann wurde sie in die Pension genötigt, von ihrem Georg wegen einer anderen verlassen – und jetzt kriegt ihr Hansi auch noch ein Kind mit einer Türkin! „Ein Türkenbankert und noch dazu unehelich.“ Was sollen die Nachbarn sagen? Und erst der Friseur? „Eine schöne Familie ist das – die Enkeltochter in Italien und der Sohn isst Döner und wohnt zwischen lauter Teppichen. Nein, so hat sie sich das nicht vorgestellt, damals, im Stadionbad, als sie den schönen Georg schmachten hat lassen – weil man ja schließlich auf sich gehalten und nicht gleich nachgegeben hat, nur weil einer fesch war und Muskeln hatte.“ In Wahrheit aber hat Emma nicht die geringste Ahnung, was es bedeutet, wenn man es wirklich nicht leicht hat. Sarema schon. In ihrer Heimat Tschetschenien herrscht willkürliche Gewalt. Sie lässt sich von ihrem zukünftigen Ehemann entführen, um ihn heiraten zu können, und bekommt zwei Söhne, von denen einer durch eine verirrte Kugel stirbt. Die Tochter, die sie tief unter der Erde in einem Schutzkeller zur Welt bringt, hat keine Überlebenschance. Alle sterben, alle, werden erschossen, abgeholt, gefoltert. Auch Saremas Schwester Lisa verliert ihren Mann und ihr ungeborenes Kind. „Und so saßen die Schwestern in der Küche, und ihre Tränen liefen wie ein unendlicher Fluss, der sich nicht kümmert um das, was den Menschen geschieht.“ Als auch Lisa verschwindet, bleibt Sarema und ihrem einzigen Sohn nur die Flucht: Nach einer lebensbedrohlichen Reise landen sie in Österreich – wo keiner ihnen glaubt. Und keiner sie haben will. Als Emma bei einem Sturz verletzt wird, helfen Sarema und Schamil ihr und stehen ihr in den Wochen der Genesung bei. Als es jedoch darauf ankommt, brauchen sie im Gegenzug bei der verbohrten alten Frau nicht auf Hilfe zu hoffen …

Emma schweigt ist ein bitterer, realistischer Roman über das Elend von Asylbewerbern und die Vorurteile der fetten, intoleranten Österreicher. Die ehemalige ORF-Korrespondentin Susanne Scholl, die für ihre journalistische Arbeit und ihr menschenrechtliches Engagement ausgezeichnet wurde, schildert das Leid der Menschen in Tschetschenien derart schnörkellos, klar und eindringlich, dass mir teilweise die Luft wegbleibt. Das ist ein Leben, das mir fremd ist: voller Angst, Trauer und Gefahr. Denn ich habe das Glück, in Österreich geboren zu sein, Insel der Seligen, behütet, gut situiert, in Sicherheit. Susanne Scholl entwirft zwei Welten und lässt sie aufeinander krachen: Sarema, schweigsam, schwer traumatisiert, hilflos und allein, trifft auf Emma, deren vermeintliche Probleme gar keine sind. Die türkische Schwiegertochter passt ihr nicht, und ihren Ex-Mann Georg, den ein gerechter Schlaganfall ins Pflegeheim gebracht hat, besucht sie nur aus Rachsucht. Emma lässt sich von Sarema helfen, bekochen, waschen – und dankt es ihr mit Unfreundlichkeit und Vorurteilen. Am meisten voreingenommen gegenüber Sarema ist, wie es oft geschieht, ausgerechnet die türkische Freundin von Hansi. Der kleine Schamil, der schnell Deutsch lernt und ein ausgezeichneter Schüler ist, ist ebenso unerwünscht in diesem reichen Land wie seine Mutter und alle anderen im Asylantenheim.

Als ich mit der Lektüre von Emma schweigt beginne, tut’s einen lauten Juchizer. Das ist mein österreichisches Seelchen, das sich so freut über den Schreibstil der Autorin, der mir sofort zuspricht. Weil ich die Wiener Wörter so mag, den Badewaschel, das Bankert, weil es ihr perfekt gelingt, die Gesinnung der Österreicher in Sprache zu fassen, weil ich mich halt daheim fühl in dieser Art zu erzählen. Auch inhaltlich gelingt es Susanne Scholl gleich, mich zu packen – in Österreich wie in Tschetschenien, wobei sich die Schicksale der beiden Frauen im Buch nicht stärker unterscheiden könnten. Ich schäme mich für die Politiker, für all die Leute, die so dumm sind in ihrer Ausländerfeindlichkeit, für die schrecklichen Bedingungen, unter denen Asylbewerber bei uns leben müssen. Die Autorin klagt jedoch nicht mit erhobenem Zeigefinger an, das ist auch nicht notwendig. Es ist ausreichend, zu erzählen – die Wahrheit ist anklagend genug. Ein sehr charmantes, gleichzeitig sehr aufwühlendes, berührendes, schmerzvolles Buch, eine Mischung aus Wiener Schmäh und herzzerreißender Resignation. Sehr lesenswert.

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Emma schweigt von Susanne Scholl ist erschienen im Residenz Verlag (ISBN 9783701716234, 180 Seiten, 19,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Einen Bericht über die Festnahme von Susanne Scholl in Tschetschenien lesen.
Susanne Scholl auf Twitter folgen.
Euch die Rezension von Die Presse zu Gemüte führen.
Das Buch auf ocelot.de bestellen.

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Gut und sättigend: 3 Sterne

Agren„Man versucht zu schlafen, meint, dass die Knochen durch die Haut schaben. Es ist kalt, kalt, ständig kalt“
Im Jahr 1958 ist Leo Ǻgren zusammen mit einer finnischen Schriftstellerdelegation in Russland, wo er in einer heruntergekommenen Trinkstube einen Mann namens Leo Nilheim trifft. Der lädt ihn ein auf einen Tee und eine Geschichte, seine eigene nämlich, die er in dieser Nacht erzählt. Er berichtet von einer harten, langweiligen Kindheit voller Hunger: „Die neue Generation, die Zukunft der Sowjetunion, wuchs unterernährt, zerlumpt und verwildert heran.“ Die Mutter kannte er nie, den Vater und die Großmutter verlor er fast gleichzeitig. Über ihren Tod spricht er abgeklärt, fast schon spöttisch: „Großmutter war nämlich sehr religiös. Wenn wir einen Verwandten an der alten Dorfkirche beisetzten, gehörte sie immer zu denen, die am eifrigsten die Stirn auf den Boden schlugen und sich bekreuzigten. Schließlich begruben wir auch sie.“ Auf diese Kindheit, deren größtes Abenteuer wohl die Deportation des bissigen Ebers Rasputin nach Sibieren war, folgen der Einzug und der Kampf an der karelischen Front, wo Leo von den Finnen gefangen genommen wird. „Drei Tage wanderten wir durch das eisige Karelien, dieses unglückliche, umkämpfte Land.“ Er sieht Berge von Leichen, isst Rinde, friert – und überlebt. Die aber, die er vorher kannte, sind gestorben.

Leo Nilheims Geschichte ist ein schmales Büchlein, in dem der schwedischsprachige finnische Autor Leo Ǻgren, der 1984 verstorben ist, vom Zweiten Weltkrieg erzählt – allerdings „von der anderen Seite“. Er lässt einen Russen berichten, der aufgewachsen ist mit der Verehrung Stalins und dem Hunger, der an die Ideale der Sowjetunion glaubt und in den Krieg gegen die Deutschen bzw. die Finnen ziehen muss. Wie der Kampf der Deutschen an der russischen Front endete, ist bekannt, aber freilich ist es nicht so, als hätten die russischen Soldaten ihren Spaß gehabt. Leo Nilheim ist alt und müde, er ist ein resignierter Erzähler, der in jener einen Nacht längst Vergangenes heraufbeschwört: Kälte, bittere Kälte, Einsamkeit, Todesangst, Hunger. Da er überlebt hat, schildert er alle Widrigkeiten als etwas, das man besiegen konnte, doch der Schrecken ist in jedem Satz spürbar. Zwei fremde Männer sitzen beisammen, der eine breitet sein Leben auf dem Tisch aus, der andere bleibt stumm und schaut es sich an. Ein wenig schade finde ich, dass die Erzählung gar so kurz geraten ist und ein wenig unvermittelt endet, andererseits bin ich beeindruckt, dass sie trotz der Kürze so kraftvoll und erschütternd ist. Ein kleines Stück Zeitzeugnis, das Einblick gibt in Ereignisse, die begraben liegen unter Tonnen von Schnee und Jahrzehnten des Vergessens – und an die wir uns doch stets erinnern sollten.

Leo Nilheims Geschichte von Leo Ǻgren ist erschienen im Osburg Verlag (ISBN 978-3-95510-038-4, 160 Seiten, 17,99 Euro).