Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

LjubicVon der Frage nach der Schuld und der Unmöglichkeit, sie zu beantworten
„Ich sitze hier, damit niemand vergessen kann. Solange es Menschen gibt, die erzählen, bleibt die Erinnerung wach und die Hoffnung, dass die Schuldigen bestraft werden.“ Das sagt einer der Zeugen im Prozess gegen Zlatko Šimič vor dem Kriegsgericht in Den Haag, wo er angeklagt ist, weil er im jugoslawischen Krieg 42 Menschen in ein Haus gelockt haben soll, das auf sein Geheiß hin angezündet wurde. Nur ein Mädchen hat überlebt – und erzählt seine Geschichte. Unter den Zuhörern befindet sich der junge Robert, der extra aus Deutschland angereist ist. Robert liebt Ana, und Ana ist Zlatkos Tochter. Bevor er Ana kennenlernte, interessierte Robert sich nicht für seine kroatische Abstammung, jetzt tut es ihm leid, dass er Anas Sprache nicht beherrscht. Vielleicht hätte sie dann einen Weg gefunden, mit ihm zu sprechen, das Geheimnis rund um ihren Vater, das sie so sehr belastet, mit ihm zu teilen. Das ist nicht geschehen, und so sucht Robert in Den Haag eine Antwort auf die Frage, ob Anas Vater ein Verbrecher ist und wie er die Beziehung zu Ana retten kann.

„Ich weiß nicht, warum, aber es ist offenbar immer der Vater, an dem man sich ein Leben lang reibt, dessen Stimme bis ins Alter nachklingt.“ Dies ist sozusagen das Motto für Nicol Ljubić‘ Roman Meeresstille, in dem eine Vater-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt steht, die unter einer großen Schuld zerbrochen ist. Zum Ich-Erzähler macht der kroatische Autor, der in Berlin lebt, aber weder Vater Zlatko noch Tochter Ana, sondern deren Freund Robert, einen Außenstehenden, der durch seine Gefühle für Ana dennoch involviert ist. Er ist verwirrt und verletzt, er hat keinen Bezug zum Krieg in seiner Heimat, und er hadert damit, dass ihm ein Hindernis den Weg zu Ana versperrt, das er nicht aus dem Weg räumen kann: die Gräueltaten eines Fremden. Gemeinsam mit Robert sitze ich im Gerichtssaal und lausche den Schilderungen von den Grausamkeiten, die Zlatko begangen haben soll, höre die Schreie der Eingeschlossenen und das Knistern des Feuers. Wir sind entsetzt, Robert und ich, befremdet und abgestoßen, wir suchen nach der Wahrheit in den Aussagen der Zeugen und den Augen des vermeintlichen Verbrechers. Aber wir finden nur unsere eigenen Zweifel.

In Meeresstille fragt Nicol Ljubić nach der Unfehlbarkeit von Schuldzuweisungen und Urteilen. Sein Blick ist dabei hart und gnadenlos, und er fängt all das Schreckliche ein, das dieses Kriegsverbrechen ausgelöst hat: den Tod vieler unschuldiger Menschen, das Zerbrechen einer Familie, das Scheitern einer Beziehung in der nächsten Generation. Der Krieg, der vorbei ist, gärt noch in den Menschen, die getroffen wurden, er zeigt sich als Virus, das sich weiter überträgt und nicht bekämpft werden kann. Dieser Roman macht keine Späße, er meint es mit jedem Satz ernst. Er hat keine Zeit für Schnörkeleien und nette Wortspiele, und er hat keine Geduld für Poesie. Er will erzählen, damit nicht vergessen wird, er will berichten und mit dem Finger auf jene zeigen, die getötet haben – auch wenn es sich nicht beweisen lässt. Ein sehr trauriges, anklagendes, wichtiges Buch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
von der Farbgebung her gefällt mir das Cover, das Motiv selbst finde ich zu banal.
… fürs Hirn: die Probleme, die unser Rechtssytem aufwirft, die Frage nach der Möglichkeit, die Wahrheit aufzudecken, und das ewige Fortdauern von Schuld.
… fürs Herz: Roberts Liebe zu Ana.
… fürs Gedächtnis: der Schmerz aller Beteiligten.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Abonji„Es gibt immer einen Tag, an dem der Krieg vorbei ist, warum sollte dieser Tag nicht morgen sein?“
„Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten“, sagt die Mutter von Ildiko und Nomi, die seit vielen Jahren in der Schweiz leben und dort, wo die Gemeinschaft über ihren Verbleib abstimmt, eines Tages die Chance bekommen, ein Café zu führen. Sie arbeiten hart, die ganze Familie, sie arbeiten für Akzeptanz und Integration und Geld, sie arbeiten gegen die Vorurteile und gegen die Angst. Die Verwandten, die zurückgeblieben sind in Jugoslawien, leben anfangs ein wenig bescheidener und benachteiligter, aber dann leben sie plötzlich mitten im Krieg. Und Ildiko, die gerade dabei ist, einen Weg ins Erwachsenwerden zu finden, erinnert sich an die vielen Besuche in der alten Heimat als Kind, an Feste und Beerdigungen, an Mamikas Geschichten und den Geschmack von Limonaden, die es nicht mehr gibt, aber die Gefahren der Gegenwart ignoriert sie. Der Alltag von Vater, Mutter, Nomi und Ildi wird geprägt von der Arbeit im Café, von den Ansprüchen der Stammgäste, von Stoßzeiten und stickiger Luft – der Krieg zuhause bleibt außen vor, wird verdrängt. Sie können niemanden aus dem belagerten Land herausholen, sie können nur warten und hoffen.

Mit ihrem Roman Tauben fliegen auf hat die in Serbien geborene Autorin Melinda Nadj Abonji, die seit ihrem fünften Lebensjahr in der Schweiz wohnt, 2010 sowohl den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis gewonnen. Sie konnte mit Sicherheit aus dem Fundus ihrer eigenen Erfahrungen mit der Schweizer Fremdenfeindlichkeit schöpfen, die als Freundlichkeit oder Gleichgültigkeit getarnt ist. Sie erweckt jene Welt am Balkan zum Leben, die – zumindest in Teilen – verschwunden ist und aus der so viele Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz stammen, weil sie fliehen mussten vor dem Bürgerkrieg mitten in Europa. In uferlosen, überbordenden Sätzen taucht Ich-Erzählerin Ildiko ein in das Land ihrer Kindheit, schmeckt die traditionellen Gerichte der in Serbien beheimateten Ungarn, hört Mamikas Lieblingslied im Ohr: „Wenn ich ein Fluss wäre, wäre Schmerz mir fremd, zwischen Bergen und Tälern würde ich leise fließen …“ und vermischt die Gefühle jenes Lebens, das sie aufgrund der Auswanderungsentscheidung ihrer Eltern nie geführt hat, mit der Realität des Alltags in der Fremde – die inzwischen genauso Heimat ist.

Tauben fliegen auf ist ein Buch voller Wehmut und Sentimentalität, voller Sehnsucht nach etwas, das man nie hatte. Der Klappentext zitiert die NZZ und nennt Melinda Nadj Abonjis Schreiben „die zeitgemäße Form, über Emigration, entschwindende Heimat und das Leben im Dazwischen“ zu erzählen. Dieser Roman ist gefüllt mit Sätzen, in denen ich ertrinke, weil mir die Luft ausgeht, lange bevor ein Punkt am Ende in Sicht ist. Die Ich-Erzählerin ist eine genaue Beobachterin, die nicht immer prägnant formuliert, aber stets trifft: „In dieser Zeit habe ich gelernt, dass es Menschen gibt, die liefern Gesprächsstoff, und die andern, die brauchen ihn.“ Weitaus nüchterner und weniger poetisch als das thematisch vergleichbare Buch Die undankbare Fremde von Irena Brežná ist dieses Buch – aber nicht weniger gut. Dieser Roman ist wie das Statement einer Generation, die sich weit entfernt hat von ihren Wurzeln, diese aber nicht vergessen kann. Beeindruckend, gefühlvoll, schön.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist gut gemacht, der Wagen hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: noch ein Buch über dieses Thema – mag sein, aber es ist ausgezeichnet und verdient es, gelesen zu werden. Davon abgesehen, dass das Thema nun einmal ein wichtiges ist.
… fürs Herz: Ildikos erste Liebe.
… fürs Gedächtnis: die Sprachgewalt.