Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Mohamed„Ich finde ja, die Verrückten sind besonders schön“

Drei Frauen:
Kawsar ist alt und trauert um ihren verstorbenen Mann und ihre tote Tochter.
Filsan ist Soldatin mit großen Plänen.
Deqo ist noch ein Kind und stammt aus dem Flüchtlingslager.

Ein Ereignis:
Eine politische Veranstaltung der Regierung in einem Stadion in Hargeisa in Somalia.

Ein Zwischenfall:
Deqo gehört zu einer Gruppe kleiner Flüchtlingsmädchen, die im Stadion tanzen. Als sie von den Wachen misshandelt wird, geht Kawsar dazwischen, um sie zu schützen. Deqo flieht in die fremde Stadt, Kawsar wird ins Gefängnis gebracht, wo Filsan sie verhört und niederschlägt – wobei Kawsar sich die Hüfte bricht.

Die Folgen:
Deqo genießt die neue Freiheit und schlägt sich erstaunlich gut durch, muss aber stets um ihr Leben fürchten. Sie wird von freundlichen Prostituierten aufgenommen, die allerdings flüchten, weil die Panzer näher rücken. Als der Bürgerkrieg ausbricht, ist Deqo auf sich gestellt. Kawsar liegt bewegungsunfähig mit gebrochener Hüfte und wunden Stellen in ihrem Bungalow. Sie hat den Gedanken an ihren Mann und ihre Tochter nichts entgegenzusetzen. Ihre Nachbarinnen und Freundinnen versorgen sie, müssen sie jedoch im Stich lassen, als die Soldaten kommen. Kawsar will nicht mitgetragen werden, sondern zuhause sterben. Filsan, die treue Soldatin, die von ihrem Vater von klein auf militärisch gedrillt wurde, tötet bei einem Einsatz drei unschuldige Männer – und verliert in der Folge zunehmend die Kontrolle. Brutal und ohne Gnade schlägt das Militär jeden Aufstand nieder, und Filsan steckt mittendrin.

Und dann …
… als der Krieg beginnt, stehen sich die drei Frauen überraschend gegenüber.

Nadifa Mohamed schreibt in Der Garten der verlorenen Seelen über ihre Heimat: Sie ist in Hargeisa geboren. Aufgewachsen ist sie jedoch in London, studiert hat sie in Oxford, und ihr erster Roman Black Mamba Boy wurde mit Preisen bedacht. Ihr zweites Buch ging aus den Geschichten ihrer Mutter hervor, und ich will es authentisch nennen, denn ich habe ihr jedes Wort geglaubt. Nadifa Mohamed erweckt mit Worten ein Land zum Leben, das ich nur aus den Nachrichten kenne, besetzt mit den Schlagworten Hunger, Krieg und Tod. Davon handelt dieser Roman auch – aber nicht nur. Weil die somalischen Frauen in erster Linie dasselbe suchen wie alle Frauen weltweit: Liebe, Anerkennung, Zufriedenheit. Allerdings sind die Hindernisse für sie so gut wie unüberwindbar. Die Ausgangssperre, die Willkür des Militärs und die ständig gegenwärtige Bedrohung lähmen die Menschen in Hargeisa. Man fällt als Frau sehr schnell in Ungnade in der somalischen Gesellschaft – Kawsar hat einen grausam beschnittenen, unfruchtbaren Schoß, Deqo darf als Mädchen nicht einmal einen Laden betreten, um sich etwas zu essen zu kaufen, und als Filsan die Avancen eines Vorgesetzten abwehrt, ist ihre Karriere beinahe vorbei. Gefährlich, kräftezehrend und herausfordernd ist das Leben in Somalia – vor allem für die Frauen.

Das vorherrschende Gefühl bei der Lektüre von Der Garten der verlorenen Seelen ist bei mir das grenzenlose Glück, im fetten, reichen Europa geboren zu sein, in dem es für mich als Frau selbstverständlich ist, zu studieren, zu entscheiden, zu tun, was ich will. Die Diskrepanz könnte größer kaum sein – Deqo, Filsan und Kawsar haben keine dieser Möglichkeiten. Natürlich ist dieser Roman ein politischer, alle Ereignisse sind beherrscht vom beginnenden Bürgerkrieg. Gleichzeitig tut sich eine versteckte Welt im Alltäglichen auf, und Nadifa Mohamed zieht mich mit auf den Markt, ins Flüchtlingslager, in die überfüllten Arrestzellen, zu den duftenden, mit Schmuck behängten Huren. Ein schillernder Kosmos, in dem alle versuchen, das Beste aus dem wenigen zu machen, das sie haben. Und Nadifa Mohamed hat definitiv das Beste aus dem gemacht, was sie hat: großes schriftstellerisches Talent, Hintergrundwissen über ein mir fremdes Land, eine authentische Erzählstimme. Es ist ihr gelungen, die Atmosphäre Hargeisas mit ihren Geräuschen, Gerüchen und Gefahren in meinem Wohnzimmer heraufzubeschwören, sie hat ihren Roman perfekt strukturiert, und sie hat sich dankenswerterweise in Sachen Pathos zurückgehalten, sodass das Buch – bis auf das Ende vielleicht, aber da drücke ich schnell ein Auge zu – nicht überaus kitschig ist. Sondern traurig, dramatisch, sehr berührend und literarisch ausgereift. Ausgezeichnet!

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Der Garten der verlorenen Seelen von Nadifa Mohamed ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-66313-0, 269 Seiten, 19,95 Euro).

Was ihr tun könnt:
Lesen, was im Perlentaucher zu dem Roman gesagt wird.
Euch die Meinung des Zeit-Rezensenten zu Gemüte führen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Welche Bücher mit Bezug zu Afrika ich auch gut fand:
Hundert Tage von Lukas Bärfuss
Little Bee von Chris Cleave
The Long Song von Andrea Levy

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

LjubicVon der Frage nach der Schuld und der Unmöglichkeit, sie zu beantworten
„Ich sitze hier, damit niemand vergessen kann. Solange es Menschen gibt, die erzählen, bleibt die Erinnerung wach und die Hoffnung, dass die Schuldigen bestraft werden.“ Das sagt einer der Zeugen im Prozess gegen Zlatko Šimič vor dem Kriegsgericht in Den Haag, wo er angeklagt ist, weil er im jugoslawischen Krieg 42 Menschen in ein Haus gelockt haben soll, das auf sein Geheiß hin angezündet wurde. Nur ein Mädchen hat überlebt – und erzählt seine Geschichte. Unter den Zuhörern befindet sich der junge Robert, der extra aus Deutschland angereist ist. Robert liebt Ana, und Ana ist Zlatkos Tochter. Bevor er Ana kennenlernte, interessierte Robert sich nicht für seine kroatische Abstammung, jetzt tut es ihm leid, dass er Anas Sprache nicht beherrscht. Vielleicht hätte sie dann einen Weg gefunden, mit ihm zu sprechen, das Geheimnis rund um ihren Vater, das sie so sehr belastet, mit ihm zu teilen. Das ist nicht geschehen, und so sucht Robert in Den Haag eine Antwort auf die Frage, ob Anas Vater ein Verbrecher ist und wie er die Beziehung zu Ana retten kann.

„Ich weiß nicht, warum, aber es ist offenbar immer der Vater, an dem man sich ein Leben lang reibt, dessen Stimme bis ins Alter nachklingt.“ Dies ist sozusagen das Motto für Nicol Ljubić‘ Roman Meeresstille, in dem eine Vater-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt steht, die unter einer großen Schuld zerbrochen ist. Zum Ich-Erzähler macht der kroatische Autor, der in Berlin lebt, aber weder Vater Zlatko noch Tochter Ana, sondern deren Freund Robert, einen Außenstehenden, der durch seine Gefühle für Ana dennoch involviert ist. Er ist verwirrt und verletzt, er hat keinen Bezug zum Krieg in seiner Heimat, und er hadert damit, dass ihm ein Hindernis den Weg zu Ana versperrt, das er nicht aus dem Weg räumen kann: die Gräueltaten eines Fremden. Gemeinsam mit Robert sitze ich im Gerichtssaal und lausche den Schilderungen von den Grausamkeiten, die Zlatko begangen haben soll, höre die Schreie der Eingeschlossenen und das Knistern des Feuers. Wir sind entsetzt, Robert und ich, befremdet und abgestoßen, wir suchen nach der Wahrheit in den Aussagen der Zeugen und den Augen des vermeintlichen Verbrechers. Aber wir finden nur unsere eigenen Zweifel.

In Meeresstille fragt Nicol Ljubić nach der Unfehlbarkeit von Schuldzuweisungen und Urteilen. Sein Blick ist dabei hart und gnadenlos, und er fängt all das Schreckliche ein, das dieses Kriegsverbrechen ausgelöst hat: den Tod vieler unschuldiger Menschen, das Zerbrechen einer Familie, das Scheitern einer Beziehung in der nächsten Generation. Der Krieg, der vorbei ist, gärt noch in den Menschen, die getroffen wurden, er zeigt sich als Virus, das sich weiter überträgt und nicht bekämpft werden kann. Dieser Roman macht keine Späße, er meint es mit jedem Satz ernst. Er hat keine Zeit für Schnörkeleien und nette Wortspiele, und er hat keine Geduld für Poesie. Er will erzählen, damit nicht vergessen wird, er will berichten und mit dem Finger auf jene zeigen, die getötet haben – auch wenn es sich nicht beweisen lässt. Ein sehr trauriges, anklagendes, wichtiges Buch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
von der Farbgebung her gefällt mir das Cover, das Motiv selbst finde ich zu banal.
… fürs Hirn: die Probleme, die unser Rechtssytem aufwirft, die Frage nach der Möglichkeit, die Wahrheit aufzudecken, und das ewige Fortdauern von Schuld.
… fürs Herz: Roberts Liebe zu Ana.
… fürs Gedächtnis: der Schmerz aller Beteiligten.