Gut und sättigend: 3 Sterne

„Wenn uns jemand wirklich kennt, sind wir ganz wir, was immer der andere auch weiß, und sei es die finsterste Wahrheit“
Bran wurde von seinem Volk, das er einst als Marschall führte, auf eine einsame Insel verbannt. Dort lebt er seit zehn Jahren, hat sich angepasst an den Rhythmus der Natur. Was er zum Leben braucht, fängt er im Meer, um Feuer zu machen, sticht er Torf. An die Einsamkeit hat er sich, so gut es geht, gewöhnt, aber er denkt noch oft zurück an jenen Mann, seinen Nachfolger, der ihn verraten hat, und jene Frau, die er liebte. Brans Methoden als Marschall waren brutal und ohne Rücksicht auf alte und kranke Mitmenschen, sie sollte das Überleben der Mehrheit sichern – und brach ihm selbst politisch das Genick. Als eines Tages auf seiner Insel, die in zwanzig Jahren im Meer versunken sein wird, sein einstiger Widersacher und Kriegsgegner Andalus angeschwemmt wird, beschließt Bran, dass es Zeit ist, nachhause zurückzukehren. Er geht davon aus, gefangen genommen und hingerichtet zu werden. Nur mit einem rechnet er nicht: dass ihn niemand erkennt. Oder tun alle nur so? Inszenieren sie ein großes Schauspiel, um ihn zu täuschen? Wo ist seine Frau? Und warum spricht Andalus nicht? Bran hat das Gefühl, verrückt zu werden – und liegt damit vielleicht gar nicht so falsch …

Alastair Bruce nimmt mich in seinem ersten Roman mit in eine sehr archaische Welt in einer Zeit vor der Industrialisierung, als die Menschen von der Bewirtschaftung des kargen Landes lebten und der Natur verbissen abrangen, was sie benötigten. Bran war einst ihr Anführer – aber war er es wirklich? Wie sehr kann er seinen Erinnerungen trauen? Der Autor präsentiert mir einen Ich-Erzähler, dem ich anfangs notgedrungen jedes Wort glaube, bis mir – genau wie ihm selbst – Zweifel kommen. Auf die Erzählstimme ist kein Verlass, und das macht die Sache spannend, aber auch sehr verwirrend. Ab dem Zeitpunkt, da ich mit Bran in sein früheres Zuhause zurückkehre, verliere ich immer wieder die Spur, denn ich kann aufgrund der Perspektive nur seinen Schritten folgen, und er kennt den Weg selbst nicht. Was für ein Spiel wird in diesem Roman gespielt? Kreuzen sich Traum und Realität? Bran trägt schwer an seiner Schuld, die niemand mit ihm teilen will, und an den Entscheidungen, die er einst getroffen hat. Es dreht sich viel um Moral und Gesellschaftsmodelle sowie um das gezielte Auslöschen unangenehmer Erinnerungen.

Bei der Lektüre funkt mir meine Vorstellungskraft immer wieder dazwischen und zeigt mir auf amüsante Weise, wie sehr bereits gesehene Bilder prägen: Ich stelle mir Bran stets wie Tom Hanks in Cast Away vor, er hat in meiner Fantasie sein Gesicht als moderner Robinson, obwohl die Geschichte in einer apokalyptischen Fantasiewelt mit eher mittelalterlichen Zügen spielt. Ansonsten aber wird die Figur für mich nicht richtig greifbar. Bran berichtet mir seine Version der Geschichte, die aber augenscheinlich nicht stimmt, er rechtfertigt sich, er wiederholt sich, und ich weiß nicht, ob das, was er sieht, tatsächlich existiert. Das bedeutet: Die Wand der Zeit ist ein sehr ungewöhnliches, bildreiches, spannungsgeladenes, aber auch unklares und anstrengendes Buch. Einerseits ist die Sprache mächtig, die Beschreibungen sind sehr detailliert, andererseits geschieht im ganzen Roman insgesamt recht wenig, die Handlung kommt nicht vom Fleck. Das ist sehr schade, denn mit ein bisschen mehr Drive und einer handfesten Auflösung hätte Alastair Bruce mich wesentlich mehr begeistert. So bleibt ein immerhin originelles, aber letztlich unbefriedigendes Leseerlebnis.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein wirklich schönes Cover.
… fürs Hirn: vermutlich kann jemand, der zehn Jahre allein auf einer einsamen Insel lebt, gar nicht anders, als seinen Verstand zu verlieren.
… fürs Herz: das kleine Mädchen.
… fürs Gedächtnis: mein Bestreben, den Durchblick zu behalten – und mein Scheitern dabei.

Die Wand der Zeit von Alastair Bruce ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-3-88897-774-9, 256 Seiten, 18,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

„Man erkennt sich selbst ja immer erst an seinen Taten, nicht an den hunderttausend Möglichkeiten, die es zuvor gab“
„Das Krankenhaus ist die Schleuse zwischen Leben und Nichtleben“, und hier treffen einander die Pariserin Hélène und der Amerikaner David. Sie beginnt gerade hoffnungsvoll mit einer In-vitro-Behandlung, er hat ein Trauma aus dem Krieg im Irak mitgebracht. Sporadisch laufen sie sich in der Klinik über den Weg, und nachdem sie erkannt haben, dass sie beide Gedichte lieben und sich sympathisch sind, nutzen sie alle paar Monate die Gelegenheit, sich zu unterhalten. Für beide läuft die Behandlung nicht wie geplant: Hélène erleidet mehrere Fehlgeburten, David kann seine depressiven Angstzustände nicht überwinden. Sie vertrauen sich einander an und werden zu „zwei Krüppeln, die sich gegenseitig stützen“. David macht Hélène über die Jahre hinweg Mut, sie begleitet ihn auf Spaziergängen und hört den Berichten von seinen grausigen Kriegserlebnissen zu: „Wissen Sie, woran ein Zivilist zu selten denkt, das ist, dass der Krieg nicht auf einem Sportplatz stattfindet, sondern mitten in der Welt, die dafür nicht gemacht ist. Da leben Menschen, Tiere, da gibt es eine Natur, und plötzlich rollen Panzer darüber hinweg, explodieren Häuser, wird die Erde umgepflügt und mit toten Menschen und Tieren gedüngt.“ Hélène und David sind Weggefährten, die einander helfen – und danach wieder auseinandergehen.

Der preisgekrönte deutsche Autor Michael Kleeberg erzählt in Das amerikanische Hospital vom Krieg und den gewaltigen Lücken, die er ins Leben reißt, von dem brennenden Wunsch nach einem Kind und einem Körper, der ihn nicht erfüllen kann – und von zwei Menschen, die im Leid des anderen das eigene Spiegelbild erkennen. In diesem Sinne ist seine Geschichte voll des Kontrasts zwischen Menschlichkeit und Wärme einerseits und der harten Realität der Weltgeschichte andererseits. Der Roman lebt von den Gesprächen zwischen Hélène und David – und diese Dialoge sind wohlfeil, intelligent, voll von belesenen Anspielungen, gewitzt und philosophisch. Kurz: Im echten Leben gibt es wenige bis gar keine Menschen, die sich stets auf derart elegante Weise unterhalten – schon gar nicht, wenn einer davon eine Fremdsprache sprechen muss. Vielleicht sollte mich dieser Umstand nicht stören, weil ich ja auch wiederum keine alltäglichen 08/15-Dialoge lesen mag, aber er tut es. Ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser Roman allzu sperrig und konstruiert für mich ist.

Ich entwickle natürlich Sympathie für die zwei angeschlagenen Protagonisten, die sich in dem mitleidslosen, auf Ergebnisse ausgerichteten Betrieb einer Klinik wiederfinden und tapfer versuchen, nicht in ihre Einzelteile zu zerfallen. Aber ich fühle nicht mit ihnen mit. Michael Kleeberg hat die Perspektive eines Ich-Erzählers gewählt, der weder Hélène noch David ist, sondern ein außenstehender Beobachter, der bei keinem einzigen der im Krankenhaus stattfindenden Gespräche anwesend ist, sie aber bis ins Detail wiedergeben kann und der auch jede Gefühlsregung der beiden kennt. Als der Ich-Erzähler sich als jemand entpuppt, über den das ganze Buch lang in der dritten Person gesprochen wurde, bin ich ob dieses Tricks nicht überrascht, weil er meinen gefühlsmäßigen Eindruck, etwas stimme mit der verqueren, merkwürdig distanzierten Perspektive nicht, bestätigt. Nichtsdestotrotz ist Das amerikanische Hospital ein überaus kluges Buch, das sich an zwei unzusammenhängende, aber in ihrem Kern schmerzhafte Themen wagt: ein unerfüllter Kinderwunsch und schreckliche Gewissensbisse aufgrund der eigenen Beteiligung an einem Krieg. Zu lachen gibt es in diesem Buch für niemanden etwas, auch nicht zu lächeln. Dafür aber bereitet der Autor die wichtigsten moralischen Gedanken und Einwände, die Gegenargumente und möglichen Konsequenzen zur Thematik auf, und das ist sowohl interessant als auch informativ. Nur lebensecht und lebendig, das ist es nicht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
recht passendes, sehr pathetisches Cover.
… fürs Hirn: der Moment, in dem man vom Leben ausgebremst wird, weil es nicht so weitergeht, wie man es sich vorgestellt hat, weil man innehalten und sich neu ordnen muss.
… fürs Herz: die beschädigten Figuren von Hélène und David.
… fürs Gedächtnis: mein Gefühl, einem recht hölzernen Theater zuzuschauen, das nur dazu dient, einen moralischen Standpunkt zu vertreten.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Liebe, so banal und großartig wie jede
„Bis auf das Leben und seine zähe Konstitution hatte er so ziemlich alles, was man verlieren kann, verloren: Arbeit, Haus, Frau, Kind, Sparbücher, Haar.“ Sperber lebt an einem rauen Küstenort in der Bretagne, wo er sich eingerichtet hat in einem ereignislosen, faden Alltag. Dessen Tristesse wird jäh unterbrochen, als er eines Tages am Kai einer blonden Frau begegnet, die ihn – ohne ein Wort – küsst. Sperber ist verwirrt und zornig und voller Sehnsucht. Er will die Frau, sie möge Luchs heißen, zur Rede stellen. Er findet sie in Paris, doch die Worte verlassen ihn bei ihrem Anblick: „Sie gingen aufeinander zu. Und während sie nun voreinander standen und sich zum ersten Mal wirklich ansahen, wölbte sich bläulich über ihren Köpfen die Ahnung des noch zu lebenden Lebens, des zu Erfahrenden, der ungeheuren Vielfalt des miteinander Möglichen. Noch war das erste Wort nicht gesprochen. Noch standen sie auf einer Brücke im Nichts und hielten sich mit den Augen.“ Viel Zeit ist den beiden nicht vergönnt, das Schicksal zeigt ihnen, wie glücklich sie sein könnten – und schlägt ihnen hämisch grinsend die Tür vor der Nase zu.

Anne Weber ist eine sanfte und behutsame Erzählerin. Sie hat zwei Menschen entworfen – und mit den absurden Namen Sperber und Luchs ausgestattet, die tierische Eigenschaften heraufbeschwören –, denen das Romantischste passiert, was unsere Gegenwart kennt: Liebe auf den ersten Blick. Eine Zuneigung, die keiner Erklärung bedarf. Seelenverwandtschaft, die beide überwältigt. Das ist keineswegs neu oder originell – aber überaus kraftvoll und berührend erzählt. Ich mag gar nicht hinsehen, so kitschig ist der Entwurf, und ich muss es doch tun, weil Anne Weber mich mit einem glitzernden Netz aus weichen Sprachfäden eingefangen hat. Sie lächelt mich nonchalant an, weil sie weiß, dass sie schreiben kann. Niemals sonst hätte sie sich an ein derart ausgelutschtes Thema gewagt – und sich eine Liebe erdacht, die über Sperber, Luchs und mir zusammenschlägt wie das Meer. Eine Zufallsbegegnung, ein vermeintlich willkürlicher Kuss – und ich fange, natürlich, an zu träumen. Sperber und Luchs sind nicht länger müde, nein, die Liebe macht sie lebendig. Und die Sprache fängt diese Lebendigkeit perfekt ein, selbst die Bettszenen werden zum literarischen Ereignis.

Allzu rasch bereitet Anne Weber allen Träumereien ein Ende. Was sie tut, bringt Sperber und mich zur Verzweiflung, gar so sinnlos erscheint es. Und als er sich in einer jenseitigen Traumwelt verliert, mag ich ihm nicht folgen, weil ich fremde Traumwelten verwirrend, unzugänglich und überaus anstrengend finde, vor allem, wenn sie sich mit der Realität verschränken und alle Grenzen verschwimmen. Am Ende des Buchs habe ich das Tal der Herrlichkeiten notgedrungen längst verlassen, aber ich kehre gern an den Anfang zurück, an den Kai, zu der Einsamkeit, die von einem Kuss aufgebrochen wurde, zu der Wortkunst der Autorin. Nie geht im Leben etwas gut, niemals – aber hoffen darf man, hoffen und die Augen vor der Wahrheit verschließen. So lange es geht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
eine gewagte, auffällige Farbkombination.
… fürs Hirn: wenn du glaubst, es könnte Happy Ends im Leben geben – dann hör auf damit.
… fürs Herz: Herz und Hirn leben getrennt, denn das Herz wünscht sich trotzdem ein gutes Ende.
… fürs Gedächtnis: der schwere, erzerne, melodische Sprachklang, der tief geht.

Tal der Herrlichkeiten von Anne Weber ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-10-091062-2, 252 Seiten, 18,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„So herzstechend schön ist das Glück erst, wenn man sich dessen Abwesenheit vorstellt“
„Wenn das Glück keine Ruhe gab, dachte Dimsch in diesem Augenblick, wenn es ihm auf der Nase herumtanzte und sich ihm aufdrängte, listig meist als Wunsch getarnt, wenn die Sehnsucht nach Glück also unvermeidbar schien, es selbst aber launenhaft und flüchtig, so würde er sich nicht länger narren lassen. Fortan würde er verhindern, dass sich das Glück entzog, kaum in Besitz geglaubt. Fortan, Dimsch beschloss es eisern, würde er das Glück in die Enge treiben, es sich zu eigen machen, bändigen gnadenlos.“ So beginnt Sebastian Dimschs Suche nach dem Glück, bei dem er – seinem Charakter als ordentlicher Versicherungsbüromann – sehr systematisch vorgeht. Dimsch will endlich wissen, was es ist, das Glück, und deckt sich mit Literatur zum Thema ein. Einen Haufen Bücher von Philosophen, Psychologen und unbekannten Weltverbesserern nimmt er mit in die Arbeit, wo er genug Zeit hat, sie in aller Ruhe zu studieren, denn Dimsch – offiziell Abteilungsleiter Marketing und Statistik einer großen Versicherung – wurde wie seine zwei Mitarbeiter in ein abgelegenes Kammerl versetzt, wo nie jemand nach ihm sucht. Was ihn anfangs ärgerte, kommt ihm jetzt ganz gelegen: Er beschäftigt sich mit Platon und Sokrates, Konfuzius und Kant, ohne dass ihn jemand stört. Statt Anzug trägt er nun Jeans und alte Pullis, und während Chefin Irene und Marketingleiter Rainer ihn als lahmarschig und entbehrlich abstempeln, finden Dimschs Kollegen zunehmend Gefallen an seinen hilfreichen und aufmunternden E-Mails, in denen er seine neu entdeckten Erkenntnisse über das Glücklichsein mit ihnen teilt. Doch dann will auch die Firma was von Dimschs profitablen Wissen haben: Er soll eine Glücksversicherung entwerfen und den Kunden für teures Geld individuelles Glück verkaufen. Notgedrungen nimmt er die Herausforderung an – aber glücklich macht sie ihn nicht …

Der österreichische Schriftsteller Thomas Sautner hat mit seinem Protagonisten, dem Glücksmacher Sebastian Dimsch, eine alltagsheldentaugliche Figur geschaffen, die mir auf Anhieb sympathisch ist. Dimsch trinkt gern Bier, findet seine Kinder anstrengend, liegt auf der Schlagfertigkeitsskala im Minusbereich, verknallt sich auf den ersten Blick in die Büronachbarin – und wird in der Versicherung zum Handlanger degradiert, wogegen er sich wehrt, indem er einfach auf die Arbeit pfeift. Statt jeden Tag sinnlos die Zeit im Büro abzusitzen, verbringt er sie lieber mit der Suche nach dem Glück. Worin besteht es, warum ist es so unbeständig? Bei den Philosophen findet er Antworten, die ihn nachdenklich machen. Und ich werde bei der Lektüre dieses Buchs zu dem kleinen Mäuschen in seinem Büro, schaue ihm beim Lesen über die Schulter, flitze auf geheimen Wegen zur cholerischen Chefin und belausche sie beim Pläneschmieden, beobachte Eva und Rainer beim Knutschen und Dimschs Mitarbeiter bei ihrem äußerst schrägen Zeitvertreib. Quietschvergnügt und bestens unterhalten bin ich, eine sehr glückliche Maus, denn ich fühle mich in Thomas Sautners österreichisch-verquerem Stil heimisch, ich mag die feine Ironie und genieße die gewitzten Sätze ebenso wie die originellen Einfälle. Einen kleinen Dämpfer bekommt mein Mäuseglück gegen Ende des Romans, weil ich mir von der Glücksversicherung etwas mehr – wie im Klappentext angekündigt – Überraschung erwartet habe. Wer das aber nicht tut, wird sich mit dem Glücksmacher sicher rundum amüsieren – und dabei etwas lernen. Denn auf lockere, heitere Weise serviert Thomas Sautner deftige Kost: Jeder darf sich angeregt fühlen, über das eigene Leben, die noch offenen Wünsche und das persönliche Glück nachzudenken. Nehmen wir den Alltag zu ernst und die Arbeit zu wichtig? Können wir das, was wir haben, genug schätzen? Sebastian Dimsch gibt feixend den Rat: Mach’s wie die Maus – sei entspannt und genügsam, freu dich über die kleinen schöne Dinge im Leben, und wenn dir was nicht in den Kram passt, dann scheiß drauf.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover finde ich eher langweilig.
… fürs Hirn: bin ich glücklich? Wie kann ich es werden? Ein lesenswerter Roman, der ganz nebenbei dazu einlädt, das Leben umzukrempeln.
… fürs Herz:Protagonist Dimsch mit seiner tollpatschig-klamaukigen Art.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: „Unser Glück dauert immer nur einen Moment, sofort danach zerstören wir es mit unseren Gedanken. Genial wäre eine Moment-Schutzmaschine. Ja, sobald ein Moment des Glücks auftaucht, müsste man ihn beschützen vor unseren Gedanken.“

Der Glücksmacher von Thomas Sautner ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03510-5, 256 Seiten, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

„Es heißt, die Windböen an Sturmtagen seien die Toten, die keine Ruhe finden“
„Ich gehöre zu den Leuten, die man nicht sieht“, sagt die Ich-Erzählerin und sorgt auch ganz absichtlich dafür, dass das so bleibt: Sie verkriecht sich in La Hague, einer rauen Küstenstadt in der Normandie, lebt dort zusammen mit einem Bildhauer und seiner Schwester in einer WG. Sie verdient ihr Geld damit, die Vögel beim Kommen und Gehen zu beobachten, und sie ist gern allein. Sie hat einen Verlust erlitten, der sie ausgebrannt hat, die Liebe gibt es nicht mehr in ihrem Leben. Als der rätselhafte Lambert im Dorf auftaucht, ist bald klar, dass er nicht so fremd ist, wie er scheint: Er war als Kind schon hier und hat als Jugendlicher das Schlimmste erlebt, denn seine Eltern und sein kleiner Bruder sind bei einem Ausflug im Meer ertrunken. Nun will Lambert das Haus verkaufen und Abschied nehmen. Doch zuvor braucht er endlich eine Antwort auf die Frage, die ihn seit 40 Jahren quält: Hat der alte Théo damals tatsächlich das Licht im Leuchtturm ausgemacht? Ist er schuld am Tod von Lamberts Familie? Die Protagonistin spürt, dass Lambert ein Einsamer ist wie sie und fühlt sich von ihm angezogen. Nicht Verliebtheit entsteht zwischen ihnen, aber doch eine Art Einverständnis. Und sie entdeckt Überraschendes bei dem Versuch, Lambert zu helfen …

Die Brandungswelle von Claudie Gallay ist ein sehr melancholisches Buch. Die Ich-Erzählerin ist in dem rauen Küstenort keine Einheimische, aber sie verschmilzt perfekt mit dem Grau, dem Nebel, der Meeresgischt, sie hat in La Hague ein Zuhause für ihre Einsamkeit gefunden, die sie hier zelebrieren kann. Und ihre Geschichte war in Frankreich ein Bestseller, der sich auch in zahlreiche Länder verkaufte. Es geht um Abschied und Neuanfang, um den Tod und das Allein-Zurückbleiben. Und es geht um das Meer, das seine Toten niemals wieder zurückgibt. Die Brandwungswelle ist ein Roman, der von der Inszenierung und Hochstilisierung der Traurigkeit, der Abgeschiedenheit und der deprimierenden Atmosphäre lebt. Diese alles umfassende düstere Stimmung spiegelt sich in Sätzen wie: „Man sagt hier, der Wind sei manchmal so stark, dass er den Schmetterlingen die Flügel fortreiße“ oder „Am Abend, im Hof, das Sternenlicht in den Wellen. Zitternde Lichter. Wie ertrunken.“ Dominierend in Die Brandungswelle sind die Naturgewalten, denen der Mensch wenig entgegenzusetzen hat und denen er immer wieder seine Liebsten opfern muss. Dominierend ist auch der Schmerz, den dieser Verlust verursacht. Die Ich-Erzählerin trägt schwer an diesem Schmerz und daran, dass die Liebe sie verlassen hat – in Form jenes Mannes, den sie mit Du anspricht: „Ich wäre gern erstickt und mit dir begraben worden.“ Sie kann nicht verhindern, dass sie den ihr fremden Lambert, zu dem sie sich hingezogen fühlt, weil er ebenso leidet wie sie, mit ihrem verstorbenen Mann vergleicht: „Es hätte zehn seiner Hände gebraucht, um daraus eine einzige von deinen zu machen.“

Die Brandungswelle zieht mich hinunter. Derart schwermütig ist das Buch, dass ich ab einem bestimmten Zeitpunkt merke, wie ich mich mit aller Kraft gegen den eisernen Anker stemme, der mich auf den Meeresgrund sinken lässt. Ich will zurück ans Licht, ich mag nicht mehr. Dabei trifft Melancholisches meinen Lesegeschmack prinzipiell sehr gut – aber ich ertrage es nicht, 550 Seiten lang deprimiert zu sein. Andere Leser meinten im Austausch, es ginge bei diesem Roman eben um die Stimmung – aber dass die Stimmung gewaltig trübsinnig ist, das habe ich ja auch nach wenigen Seiten schon verstanden. Und inhaltlich bietet mir Die Brandungswelle nicht viel anderes als – durchaus plastische – Landschaftsbilder vom Meer, von Höhlen und den darin brütenden Vögeln, viele griesgrämige Einwohner und ein sehr wohl interessantes Rätsel, das ich aber gelöst habe, lange bevor das Buch zu Ende ist. Claudie Gallay schreibt sehr feinsinnig, eindrucksvoll und melodisch, und ich habe an ihrer schönen Geschichte nur auszusetzen, dass sie mir zu sehr mit grauen Schlieren durchzogen und mit depressiven Schüben durchwirkt war. Ich habe mich stellenweise sehr wohlgefühlt in dieser eleganten Sprache – und mich andernorts gelangweilt. Da nirgends Licht zu sehen war in dieser Finsternis, war die Reise übers Meer mit Claudie Gallay für mich sehr anstrengend. Ich weiß aber, dass Die Brandungswelle viele begeisterte Leser hat – verdienterweise, wie ich finde. Ich bin womöglich einfach zu ungeduldig.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
eine sehr schöne Idee mit den Wellen, die in der Form aussehen wie ein Mensch.
… fürs Hirn: die Trauer darum, jene Momente nicht ungeschehen machen zu könen, die uns viel gekostet haben.
… fürs Herz: sehr viel Schmerz, Traurigkeit, Einsamkeit, aber auch ein vorsichtig glimmendes Licht am Leeresufer.
… fürs Gedächtnis: die alles überschattende Schwere.

Für Gourmets: 5 Sterne

„Die Geschichte ihres Exodus ging in Fetzen wie ein Drachen in einem zu heftigen Wind“
Farid ist noch ein Kind, doch er hat schon das Schlimmste gesehen: Gaddafis Truppen haben ihm den Vater ermordet, gebrannt hat das Dorf, geflüchtet ist er mit seiner Mutter Jamila. „Großvater Mussa sagte, die wahren Beduinen würden in der Wüste sterben, in einen Sandwirbel gehüllt, etwas Besseres könne man sich gar nicht wünschen. Gott habe sie in die Irre geschickt, um sie wieder eins werden zu lassen mit ihrem Schicksal.“ Das plant Gott auch mit Farid und seiner Mutter – doch in die Irre schickt er sie auf dem offenen, angsteinflößenden Meer, und er ist gnadenlos. So gnadenlos wie die Menschen, die einander zermetzeln, zerstören, verjagen. Farid ist so unschuldig wie ein Grashalm und kommt trotzdem unter die Räder. So erging es auch Angelina viele Jahre zuvor, die als Kind italienischer Eltern in Libyen aufwuchs und vertrieben wurde. Sie hat dasselbe Meer überquert und landete in Sizilien, wo sie die Sehnsucht nach der Wüste, nach dem Kerzenwachs und ihrer ersten großen Liebe Ali nie stillen konnte. Für ihren Sohn, den 18-jährigen Vito, ist die Mutter wie das Meer: „der gleiche klare Blick, die gleiche Ruhe und innen der Sturm“. Ans Meer geht Angelina nicht mehr, sie will nicht schwimmen in dem Wasser, in dem die Menschen aus den Schlepperbooten hilflos ertrinken wie Fliegen in Zuckerbrühe. „Gedanken sind böses Gas“ – und ihre Folgen sind noch viel böser. Denn auf „dem Grund jeder westlichen Zivilisation liegt ein Unheil, eine kollektive Schuld“. Das hat Angelina am eigenen Leib erfahren, und nun spürt es Farid: Noch ist er am Leben, aber dieses Leben ist im Spiel der Mächtigen nichts wert, gar nichts.

Margaret Mazzantini, die mich vor Jahren mit Non ti muovere begeisterte, gehört zu den großen Bestsellerautorinnen Italiens – absolut zu Recht. In ihrem neuen schmalen Werk, dessen wenige Seiten bis zum Bersten gefüllt sind mit Emotionen, Leid, Angst und Traurigkeit, zeigt sie mir ein fremdes Land, in dem es heiß ist und sandig: Libyen. Sie zeichnet dieses Land für mich in so blendenden Farben, dass ich es sehen, hören, riechen kann. Mussolini schickte die Italiener hierher, sie machten sich die Erde zu eigen, bauten sich eine Heimat auf, integrierten sich. Viele von ihnen waren Juden. In diese Zeit setzt die Autorin die kleine Angelina, deren Wurzeln in Libyen festgewachsen sind – bevor sie ausgerissen werden, als Gaddafi an die Macht kommt und die Italiener nicht mehr im Land haben will: „Natürlich hatten nicht sie die Beduinen in den Konzentrationslagern niedergemetzelt, sie hatten nur gearbeitet, hatten Libyen verschönt, hatten Brunnen und Abwasserkanäle gebaut.“ Gehen müssen sie trotzdem. Angelinas Eltern verkraften das niemals, sie selbst bleibt Zeit ihres Lebens ein verpflanzter Baum, der nicht mehr wächst. Dieser Geschichte zur Seite stellt die unfassbar talentierte Schriftstellerin die Erzählung des kleinen Farid, der sich nicht für die Politik in Libyen interessiert, sondern für die Ziege, die sich ihm immer wieder annähert. Jener Gott, an den sein Großvater Mussa glaubt, hat Farid zur falschen Zeit an den falschen Ort gebracht: Farid hat keine Chance. Hilflos und mit Tränen in den Augen muss ich zusehen, wie der Durst immer größer und der kleine Körper immer schwächer wird.

Margaret Mazzantini trifft mich mit diesem Buch wie mit einem Faustschlag mitten ins Gesicht. Sie bricht mir die Nase. Und das Herz. Dies ist ein Roman, der weit über die Schmerzgrenze geht: Er greift direkt in mein Menschsein, in mein Mitgefühl, meine Seele. Ich möchte mich niederknien und übergeben vor Wut und vor Trauer. Ein Meer trennt zwei Länder, und seit Generationen spielen die Mächtigen metaphorisch gesehen Schiffe versenken – und wie immer sterben die Unschuldigen. Die Ungerechtigkeit drückt mich nieder, denn das Wasser, das Farid retten könnte, versickert in meiner Badewanne, in meiner Blumenerde, in meinem Geschirrspüler. Ich fühle mich schuldig. Deshalb ist Das Meer am Morgen ein unendlich wichtiges, ein herausragendes Buch, das gelesen werden sollte, damit seine Botschaft gehört wird, die Botschaft von der Sinnlosigkeit unseres Tuns. Auf nur 128 Seiten entwickelt dieser Roman eine ungeheure Wucht und lässt mich direkt in den Abgrund schauen. Die Worte sind klar, direkt, schnörkellos, schön. Sie schneiden wie Rasierklingen. Und die beste Literatur vermag genau dies. Lest dieses Buch. Bleibt nicht gleichgültig, niemals.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
perfekt.
… fürs Hirn: dieses Buch ist Pflicht!
… fürs Herz: die Tränen kommen ganz ohne mein Zutun.
… fürs Gedächtnis: die vielen feinen, stimmigen Sprachbilder, die den tiefgehenden Inhalt so leichtfüßig transportieren.

Das Meer am Morgen von Margaret Mazzantini ist erschienen im Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9684-4, 128 Seiten, 16,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Das Leben der Anderen
Diego kehrt wegen einer Augenerkrankung aus Shanghai nach Italien zurück, um sich operieren zu lassen. Er quartiert sich in der leerstehenden Wohnung seiner Eltern ein, die lange schon tot sind, seine Schwester lebt ebenfalls im Ausland. Diego ist ruhelos, verloren, einsam: „Nirgendwo erwartete mich etwas. Mein ganzes Leben lang war ich unterwegs gewesen, von einem Ort zum nächsten, so als würde ich mit jedem Ortswechsel um einen Zentimeter wachsen. Doch an diesem Abend fühlte ich, dass ich nicht mehr weiterwachsen konnte.“ Ablenkung von seinen Problemen findet Diego in der Besonderheit des elterlichen Telefons: Wird jemand im Haus angerufen, klingelt es – und Diego kann das Gespräch mithören. Zu seinem Glück telefonieren die Bewohner viel, und so lauscht er selbstvergessen ihren Berichten: Er erfährt, dass die schmächtige Agnese ihrem Freund die Nase gebrochen hat, dass die junge Giulia jede Mahlzeit auskotzt und dass Marta Brustkrebs hat. Diego hört diesen fremden Menschen jedoch nicht nur zu – er begegnet ihnen auch und drängt sich in ihr Leben. Während Marta sich über seine Aufmerksamkeit freut, hat Diego großes Interesse an Agnese. Er weiß mehr über sie, als Agnese ahnt – aber das Wichtigste weiß Diego über die junge Frau noch nicht …

Die italienische Bestsellerautorin Federica de Paolis greift in ihrem vierten Roman Ich höre dir zu eine geniale Idee auf: Ein Mann, der Ich-Erzähler Diego, kann die Gespräche seiner Nachbarn mithören. Und zwar nicht nur einseitig, weil es durch die Wände dringt oder weil jemand, wie heute allgemein üblich, neben ihm ins Handy brüllt – nein, Diego hört alles. Geheimnisse dringen an sein Ohr, die ihn nichts angehen und deshalb umso mehr faszinieren. Vor allem, da es sich um große Geheimnisse handelt, die entweder mit Sex oder mit dem Tod zu tun haben. Es ist ihm ein Leichtes, sich den Menschen, die er ausspioniert, zu nähern – und er braucht diese Menschen dringend, denn er ertrinkt in seiner Einsamkeit. So leer erscheint ihm sein Leben, dass er gar nicht merkt, dass er zwei Jahre jünger ist, als er denkt – alles ist ihm einerlei und nichts verändert sich, er könnte auch schon älter sein. Federica de Paolis zeichnet das Bild eines Mannes, der stets wie wild herumgehastet ist – und dann plötzlich, mitten im Schwung, abgebremst wird von der Glaswand, gegen die er knallt: von der Erkenntnis, dass er eigentlich ein ganz anderes Leben führen will. Die Autorin macht es ihrem Schützling aber nicht einfach: Sie vergrößert die Geheimnisse und weitet sie auf seine Familie aus.

Und hier verbirgt sich das Problem, das ich mit diesem pfiffigen, amüsanten und originellen Roman habe: Es gibt bestimmte Arten von Geheimnissen, die so klischeehaft sind, dass sie nicht einmal mehr in Seifenopern vorkommen sollten. Ein solches wird hier aufgedeckt, und ich winde mich vor Entsetzen und Enttäuschung. Denn abgesehen von dieser Kurve nach unten ging es mit diesem abgedrehten, melancholischen und ebenso leichten wie tiefgründigen Buch für mich anfangs steil nach oben. Die Figuren sind liebenswerte Chaoten, denen das Schicksal ein Bein stellt. Ich höre ihnen gern zu – und bin am Ende froh, dass mein Telefon nur ganz normal funktioniert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Frau mit Zopf gefällt mir, auch wenn ich ihr Abbild nicht mit dem Inhalt in Verbindung bringen kann. Die Coverfarbe finde ich bedenklich.
… fürs Hirn: man beschütze mich vor solchen Familiengeheimnissen!
… fürs Herz: so einiges, denn jeder der Charaktere hat mit gravierenden Problemen zu kämpfen.
… fürs Gedächtnis: die gute Romanidee.

Ich höre dir zu von Federica Paolis ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0475-0, 288 Seiten, 16,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Das Korsett des Alltags
Eine Frau – von ihrem Vater als Kind „Katinka“ gerufen – hat eine entzückende Tochter namens Paula und führt mit Theaterkritiker Micha eine harmonische Ehe. Bis sie ihn eines Tages aus heiterem Himmel verlässt, in die Straßenbahn steigt, bis zur Endhaltestelle am äußersten Rand Berlins fährt und dort die heruntergekommene Kneipe namens Hellersdorfer Perle betritt. Am Tresen sitzt ein älterer Mann mit Hörgerät und Stock, der eine unerklärliche Faszination auf die Frau ausübt. Er befiehlt ihr, einen Rock zu tragen, wenn sie das nächste Mal kommt – und sie gehorcht. Von da an befiehlt der Mann der Frau so einiges, das sie befolgt: ein wahnsinnig enges Korsett anzulegen, zu Fuß durch halb Berlin nachhause zu gehen und sich willenlos von ihm nehmen zu lassen. Während ihre Freundin, die Schauspielerin Tina, sie mühevoll dazu überredet, in den Alltagstrott mit Micha zurückzukehren, merkt Katinka, dass nichts mehr so ist wie zuvor. Zwar will sie ihrem Kind ein glückliches Zuhause bieten – aber sie will auch zügellosen Sex mit dem Mann, den sie nie beim Namen nennt. Nun ist klar: Sie kann eine Zeitlang ein Doppelleben führen und beides haben, aber früher oder später muss sie sich entscheiden.

Katja Oskamp stellt in ihrem teils recht provokanten Roman die Frage: „Was wäre, wenn man allem Vertrauten den Rücken zukehrte, einfach so? Wenn man sich auf das Unerhörte einließe?“ Dann gibt sie mit ihrer Geschichte rund um die Ich-Erzählerin eine Antwort. Sie entspinnt einen Faden und verfolgt eine der vielen Möglichkeiten: Was kann alles passieren, wenn man es zulässt? Der Frau passiert eine Begegnung mit einem unattraktiven, älteren Mann, dem sie sich nicht entziehen kann. Und die Affäre mit ihm ist ihr sehr willkommen, denn sie fühlt sich in ihrer ruhigen, liebevollen Beziehung mit Micha kaltgestellt. Ganz plötzlich wird ihr langweilig, und sie will das, was sie hat, nicht mehr. Das ist verständlich, das ist menschlich, und auch ich kann mich – wie vermutlich jeder – zumindest ein Stück weit mit ihr identifizieren. Es geht also in Hellersdorfer Perle um das uralte Rätsel: Wenn das Feuer der ersten Liebe erloschen ist und man vor der Asche steht, wie kann man es wieder entfachen? Soll man es überhaupt versuchen? Oder lieber woanders ein neues entzünden? Das zu beurteilen, vermag weder Katja Oskamp noch ich. Sie bastelt aus dem Problem, vor dem viele Paare stehen, einen überraschenden, wilden, lasziven Roman, in dem geknurrt, geleckt und gevögelt wird – und in dem alle verletzt werden. Denn so einfach, wie es klingt, ist es freilich nicht, die eigene Ehe und das mühsam aufgebaute Glück zu zerbrechen. Es tut weh. Wobei es mich doch ein wenig wundert, dass im Verlauf der Handlung das, was zuvor unaussprechlich war – Sex mit einem anderen – auf einmal so normal wird. Die Frau ist unentschlossen, unfair und egozentrisch, Ehemann Micha gibt sich resigniert, lasch und völlig frei von Kampfgeist. Originell wird die Geschichte durch Katja Oskamps Schachzug, Katinkas Objekt der Begierde nicht wie ein junges Model, sondern wie einen alten Haudegen aussehen zu lassen, der noch dazu herrisch und unfreundlich ist. Klarerweise fällt es mir schwer, dessen Anziehungskraft nachzuvollziehen. Die Sexszenen sind in meinen Augen teilweise prickelnd und teilweise abstoßend. So bleibt abschließend zu sagen: Ich fand es aufregend, der Frau bei ihren Fahrten durch das nächtliche Berlin und ihrer Suche nach einem Abenteuer zu folgen – aber ich war sehr froh, dass ich dann nachhause zurückkehren konnte.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schön anrüchig.
… fürs Hirn: die Aufgabe, sich auf ewig mit der Frage zu quälen, ob die Monogamie sinnvoll ist.
… fürs Herz: eher wenig, die Herzen werden gebrochen.
… fürs Gedächtnis: mein eigener Widerwille beim Gedanken, mit einem Mann, der älter ist als mein Vater, ins Bett zu gehen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Ist die Erinnerung an vergangenes Glück eine glückliche oder eine traurige?

Vier Männer, die einander nicht kennen, hängen eine Nacht lang auf dem Bahnhof einer indischen Kleinstadt fest, ihr Zug fährt erst am Morgen. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sie alle von ihrer ersten oder bedeutsamsten Liebe: von jenen Frauen, in die sie unglücklich verliebt waren oder die sie geheiratet haben. Die vier Männer unterscheiden sich stark voneinander, was den sozialen Hintergrund, die Herkunft und den Charakter betrifft, aber eines eint sie: Jeder von ihnen hat Momente erlebt, die es wert sind, erinnert zu werden. Und so vergehen die kalten Nachtstunden mit dem Wiederbeleben dieser Erinnerungen. Makhanlal berichtet von jenem schönen Mädchen, dessen Eltern sich trotz Armut weigerten, ihn als Schwiegersohn zu akzeptieren, und Gagan erzählt von Pakhi, die ihn mehr liebte als er sie. Doktor Abanis Geschichte dagegen hat ein gutes Ende, während Bikasch eine völlig verklärte Liebe erlebt hat. Als der Morgen graut, beendet er seinen Monolog – und die vier gehen auseinander, jeder versunken in seine Gedanken.

Buddhadeva Bose ist ein 1974 verstorbener bengalischer Autor von großer Bedeutsamkeit für den bengalischen Sprachraum. Im Original erschien Das Mädchen meines Herzens im Jahr 1951. Es bildet daher bestens die damaligen Verhältnisse in Indien ab. Der Autor lässt vier verschiedene Männer, die jedoch allesamt der mittleren bis gehobenen Klasse bzw. Kaste angehören, aus ihrem Leben berichten. Sie tauchen ein in ihre Vergangenheit und graben jenen Schatz aus, der dort unter dem Schutt der Jahre verborgen liegt: eine Liebe. Es spielt keine Rolle, welchen Verlauf die Liebesgeschichte nahm. Sehr intim ist diese Nacht für die einander Unbekannten, die sich nie wiedersehen werden, nachdem sie etwas derart Persönliches miteinander geteilt haben. Mit unserem mitteleuropäischen Anforderungen an die romantische Liebe darf man die vier Geschichten in diesem Buch nicht beurteilen, denn in einem Land, in dem Ehen arrangiert werden, entscheidet nicht das Herz über den Fortgang einer Verliebtheit. Das ist sehr spannend und interessant zu lesen. Das Mädchen meines Herzens ist, wie könnte es sein, ein kleines Buch fürs Herz: sentimental, ruhig, mit einem Augenzwinkern, das der zeitliche Abstand mit sich bringt, wenn man auf sich selbst in früheren Jahren zurückblickt und erkennt, dass man seither viel dazugelernt hat. Denn letztlich ist das Aufbrechen der Erinnerung nur ein Spiel, wir gebrauchen sie, verändern sie, und ich mag die feine Ironie von Buddhadeva Bose, die bestens in diesen Worten eingefangen ist:
„Die Erinnerung bleibt. Sie ist das Einzige, was einem bis zum Ende bleibt.“
„Und welchen Wert hat die Erinnerung?“
„Nicht den geringsten!“, warf der Mann aus Delhi heiter ein. „Stört bei der Arbeit, raubt einem die Zeit und verdirbt das Gemüt. Kommen Sie, trinken wir Kaffee!“

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schön gemacht, wäre mir aber ohne Empfehlung nicht aufgefallen.
… fürs Hirn: die kulturellen Unterschiede.
… fürs Herz: das ganze Buch.
… fürs Gedächtnis: der kuriose Ausflug in bengalische Gepflogenheiten.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Selig sind die Verrückten
„Es war Zeit für einen Urlaub, deshalb fälschten Mr. und Mrs. Fang Papiere für die ganze Familie.“ Klingt schräg? Ist es nicht. Für Buster und Annie war es in ihrer Kindheit Alltag, sich als jemand anderes auszugeben und an den völlig verdrehten Happenings teilzunehmen, die ihre Eltern inszenierten. Für die komplett wahnsinnigen, international durchaus anerkannten Künstler muss Kunst lebendig sein, und sie lieben es, die Einzigen zu sein, die wissen, was vor sich geht. In Einkaufszentren und Flugzeugen, auf offener Straße und in Museen führten sie sich zusammen mit Kind A und Kind B auf wie Gestörte, um die Leute zu verwirren. Als Kinder mussten Buster und Annie singen, vor der Polizei wegrennen, heulen, schreien, vor einem brennenden Haus auf ihre Eltern warten, die sich drinnen befanden. Ihr bester Freund war die nie enden wollende Peinlichkeit. Inzwischen sind beide erwachsen, und obwohl sie großes Talent haben, will sich der Erfolg nicht so recht einstellen: Annie war schon für den Oscar nominiert und steht im Moment aufgrund von Nacktfotos im Aus; Buster hat einen tollen Roman geschrieben, seinen zweiten wollte nur leider niemand mehr lesen. Beide sind vor ihrer Kindheit auf der Flucht, und beide tragen die traumatischen Erlebnisse immer mit sich: „Deine Familie scheint sich darauf getrimmt zu haben, so auf die Welt zu reagieren, wie es zu ihrer Kunst passt, und nun kannst du mit Menschen in der realen Welt nicht mehr umgehen. Jede Unterhaltung scheint für dich nur der Vorspann zu etwas Entsetzlichem zu sein“, hat eine Frau einmal zu Buster gesagt. Als er und Annie aus diversen Gründen Unterschlupf brauchen, kehren sie nach vielen Jahren nachhause zurück. Doch obwohl sie auf alles vorbereitet sind, haben sie absolut keine Vorstellung davon, was ihre Eltern nun wieder ausgeheckt haben …

Kevin Wilsons Roman mit dem langen Titel ist eine Sammlung absurdester Einfälle, wie sie mir noch nie untergekommen sind. Abwechselnd erzählt er von Annies und Busters nur halb glücklichem Leben in der Gegenwart und den seltsamen Happenings von Mr. und Mrs. Fang in der Vergangenheit. Diese treten übrigens nicht in der Reihenfolge ihrer Erstaufführung auf, im Gegenteil – das allererste Happening, bei dem Annie noch ein Baby war und das die ganze Idee ins Rollen brachte, kommt in der Mitte des Buchs. Es ist mir daher ein Rätsel, was den Verlag zu dem deutschen Titel bewogen hat. Im Original heißt das Buch The Family Fang, was ich nun im Vergleich zum Inhalt auch nicht gerade originell finde. Davon unabhängig hat Kevin Wilson sich bei der Konstruktion der Fang’schen Inszenierungen ordentlich ins Zeug gelegt und viel Fantasievolles zu Papier gebracht, was beim Lesen sehr viel Spaß bringt. Wenn ich versuche, mich an Busters oder Annies Stelle zu versetzen, kribbelt die Scham auf meiner Haut, weil Hunderte Leute mich anstarren und meine Eltern sich gebärden wie Irre. Es ist dem Autor gut gelungen, glaubhaft darzustellen, welche Traumata ihre Kindheit als „Werkzeuge“ ihrer Eltern bei den zwei Protagonisten ausgelöst hat. Sehr verblüfft bin ich über seine Idee im weiteren Verlauf der Handlung, weil ich nie vorhersehen kann, was als Nächstes geschieht, und davon bestens unterhalten werde. Das Buch hält noch viel mehr Überraschungen parat, als ich geahnt habe. In diesem Sinne sei ihm sein großer Erfolg vergönnt! Etwas schade ist, dass Kevin Wilson sich derart auf diesen überdrehten, alles einnehmenden Kunstaspekt konzentriert hat, dass seine Figuren in meinen Augen ein wenig gelitten haben. Die Charaktere funktionieren sozusagen nur in Bezug auf die Happenings und das Familiengeflecht, als Einzelfiguren bleiben besonders die Eltern recht platt und undefiniert. Das ist aber andererseits nicht allzu dramatisch, weil ich ohnehin genug damit zu tun habe, den verqueren Geschehnissen zu folgen. In jedem Fall hab ich das Buch sehr gern gelesen und lege es allen ans Herz, die verrückte Familiengeschichten mögen – eine dermaßen verrückte kennt ihr noch nicht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja, da wäre noch Luft nach oben gewesen.
… fürs Hirn: der Wahnsinn, der pure Wahnsinn!
… fürs Herz: Annie und Buster, die bei allem Witz auch wirklich verletzt werden.
… fürs Gedächtnis: das eine oder andere total bescheuerte Happening, etwa als Annie und Buster so tun, als würden sie mit Gesang für ihren kranken Hund Geld sammeln und dabei von ihren Eltern als schlechte Sänger beschimpft werden.

Die gesammelten Peinlichkeiten unserer Eltern in der Reihenfolge ihrer Erstaufführung von Kevin Wilson ist erschienen bei Luchterhand (ISBN 978-3-630-87401-2, 382 Seiten, 14,99 Euro).