Gut und sättigend: 3 Sterne

Greer„I do not know what joins the parts of an atom, but it seems what binds one human to another is pain“
Im Jahr 1953 ist die dunkelhäutige Pearlie eine brave Ehefrau und Mutter. Der Sohn leidet an Polio, der Gatte – so denkt sie – an einer Herzkrankheit, derentwegen sie ihn schonen muss. Der Krieg hat tiefe Spuren in den Menschen hinterlassen, und es wird nicht viel über Probleme oder Gefühle gesprochen. Als eines Tages der gutaussehende Buzz vor Pearlies Haus in San Francisco steht, beginnt eine turbulente Zeit: „I struggled, seeing myself as others passing on the boardwalk saw me: a colored woman, poorly dressed, eagerly talking with a handsome white man. No one would have known, from how he held my hand, that this man plannend to take my husband from me.” Buzz hat nur ein Ziel, das er mit viel Charme und viel Geld erreichen will: Er will Pearlies Mann Holland für sich. Und Pearlie, die ihren Mann schon als Jugendliche liebte und all die Kriegsjahre auf ihn wartete, kämpft mit sich. Was, wenn sie dem Glück der beiden im Weg steht? Darf sie Holland dazu zwingen, bei ihr zu bleiben? Kann er sie überhaupt lieben, wenn er offenbar homosexuell ist?

Andrew Sean Greer ist mir mit seiner wunderbaren Geschichte des Max Tivoli, inspiriert von F. Scott Fitzgeralds Benjamin Button, bekannt. Und als ich diesen Roman von ihm für wenige Euro ergattern konnte, habe ich zugegriffen. Der Autor entwirft darin die Geschichte einer Ehe und platziert sie im Nachkriegsamerika, gibt ihr den biederen Anstrich der 1950er-Jahre, stellt aber hinter die Fassade die Frage nach der sexuellen Orientierung des Ehemannes. An sich nichts Neues, dass eine Frau entdeckt, dass der Mann sich (auch) zu Männern hingezogen fühlt, immerhin aber in diesem Fall gut erzählt. Andrew Sean Greer lässt Ich-Erzählerin Pearlie über all ihre Gefühle, Zweifel und Sorgen berichten, er weckt Mitgefühl und Verständnis. Sie liebt ihren Mann Holland, und sie schämt sich, sie kann nicht mit ihm sprechen, weil ihre Erziehung und die Regeln der damaligen Zeit es ihr unmöglich machen. Sie setzt sich nicht über das hinweg, was ihr in den Weg gelegt wird, aber sie ist auch nicht gewillt, alles einfach hinzunehmen. Erst viele, viele Jahre später kommt traurigerweise zur Sprache, was längst hätte gesagt werden sollen.

The story of a marriage ist in meinen Augen kein besonderes, aber ein durchaus lesenswertes Buch. Es bietet kein inhaltliches Highlight, ist jedoch flüssig erzählt, mit einer sympathischen und nachvollziehbaren Stimme. Andrew Sean Greers Porträt einer afroamerikanischen Frau in den Nachkriegsjahren lässt keine neuen Erkenntnisse zu, aber das muss es ja auch nicht, der gesellschaftspolitische Hintergrund ist an sich interessant genug. Die Formulierungen sind elegant, die Beobachtungen klug. Und die Prise „Skandal“ tut ihr Übriges, um ein gewisses Prickeln hervorzurufen und dem Roman Spannung zu verleihen. Muss man nicht lesen, kann man aber.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
kein unbedingt faszinierendes Cover.
… fürs Hirn: die Frage nach unserer Verantwortlichkeit für das Glück der anderen. Und natürlich die Frage, ob wir die, die wir lieben, auch kennen.
… fürs Herz: die Liebe ist hier der Dreh- und Angelpunkt.
… fürs Gedächtnis: ein Lieblingszitat: „What is it like for men? Even now I can’t tell you. To have to hold up the world and never show the strain. To pretend at every moment: pretend to be strong, and wise, and good, and faithful. But nobody is strong or wise or good or faithful, not really. It turns out everyone is faking as best they can.“

Nicht mein Geschmack

NixA gate at the stairs von Lorrie Moore hab ich zunehmend als sehr verstörend empfunden. Zuerst rätselt man lange, worum es eigentlich geht, und als das Geheimnis ans Licht kam, fand ich es so schrecklich, dass ich kaum weiterlesen konnte. Die Handlungen der Personen waren für mich überhaupt nicht nachvollziehbar.

In Bed von David Whitehouse legt sich ein junger Mann ins Bett und beginnt zu fressen. Er steht nie wieder auf, wird dicker und dicker und dicker und … ja, sonst passiert eigentlich nicht viel.

In Ein schönes Attentat von Assaf Gavron entgeht der erfolgreiche Eitan Einoch gleich drei Mal einem Attentat in Tel Aviv. Das wirft ihn ein wenig aus der Bahn. Die zweite Stimme gehört dem Palästinenser, der die Attentate verübt hat. Mich konnte jedoch die rasante, wirre, sehr männliche Sprache nicht überzeugen, ich fühlte mich überrannt, und die coole Art der männlichen Protagonisten hat mich – in Anbetracht der ernsten Lage – eher angewidert.

Im Gegensatz zu den begeisterten Kritikern und Mara von buzzaldrins Bücher konnte ich Alan Hollinghursts Roman A stranger’s child nichts abgewinnen. Die Idee klingt gut und interessant, das erste Kapitel ist es auch, doch dann folgen große Zeitsprünge und alles, was passiert wird, wird im Nachhinein erzählt. Mir ist es lieber, wenn es erlebt wird und ich daran teilhaben kann, anstatt dröge Berichte von Nachkommen lesen zu müssen, die gar nicht dabei waren.

Kennt jemand von euch eins dieser Bücher? Seid ihr vielleicht anderer Meinung und fandet es toll?

Netter Versuch: 2 Sterne

Vigan„Und die Worte waren, als wären sie Flüssigkeiten, verdampft“
Mathilde ist eine taffe Frau. Seit dem Tod ihres Mannes sorgt sie allein für ihre drei Söhne und arbeitet Vollzeit in einer großen Pariser Firma in einer verantwortungsvollen Position. Doch nachdem sie ihren Chef Jacques offen kritisiert, verändert ihre Arbeitssituation sich schleichend zum Negativen: Mathilde wird ausgeschlossen, ausgebootet und gemobbt. Über Wochen und Monate hinweg gelingt es Jacques, seine ehemals wichtigste und engste Mitarbeiterin aufs Abstellgleis zu schieben – und zwar auf so geschickte Weise, dass diese sich gar nicht dagegen wehren kann. Was Mathildes Leben zuvor einen Sinn gab, wird ihr zum Gräuel: Ihr Arbeitsplatz wird ihr ganz persönlicher Alptraum, wo sie den ganzen Tag verbringen muss, ohne etwas zu tun zu haben. Sie ist der Verzweiflung nahe, denn als alleinerziehende Mutter braucht sie das Geld, das der Job bringt. Eher halbherzig wendet sie sich an eine Wahrsagerin, die ihr eine Veränderung für den 20. Mai verkündet. Es fragt sich nur, welcher Natur diese Veränderung sein wird …

Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin von Delphine de Vigan ist ein überaus deprimierendes Buch. Es ist düster und schwarz und traurig und frei von jeder Hoffnung. Einerseits finde ich es gut, dass die französische Autorin in ihrem zweiten Roman ein wichtiges und präsentes Thema in den Fokus stellt und eine Geschichte rund um Mobbing am Arbeitsplatz strickt. Andererseits ist mir das Wühlen im Schlamm von Mathildes Traurigkeit fast zu viel, wenigstens ein winziger Lichtschimmer hier und da wäre schön gewesen. Denn die zweite Figur im Buch, der mobile Arzt Thibault, lebt ebenso ein Schattendasein wie Mathilde. Beide bewegen sich im riesigen Maul von Paris, das jeden verschluckt, ohne ihm irgendeine Bedeutung zuzumessen, sie verbringen Stunden in der U-Bahn und im Auto, einsame, stille Stunden, sie sind allein und verzweifelt und mutlos. Mathilde steckt richtig in der Scheiße, sie ist einem berechnenden und auf Rache sinnenden Chef ausgeliefert, dem sie nichts entgegenzusetzen hat, weil sie keine Kraft aufbringt.

Mit dem erzählerischen Kniff, dass laut Wahrsagerin am 20. Mai etwas Besonderes passieren soll, richtet Delphine de Vigan alle Aufmerksamkeit auf diesen einen Tag und baut eine sehr große Erwartungshaltung auf. Sie will, dass ich glaube, dass etwas Bestimmtes geschieht – und ohne zu spoilern, was soll das wohl sein, wenn wir einen Mann und eine Frau haben, beide allein, und eine angeblich alles verändernde Begegnung – und je mehr sie das will, desto weniger glaube ich ihr. Denn ich habe das Gefühl, dass sie nicht ausbrechen wird können aus der Glasglocke der Melancholie, die sie über ihr Buch gelegt hat. Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin ist kein schlechte Buch, oh nein. Es ist ein Tränensee, ein Kloß im Hals, ein schwarzer Fleck auf einer weißen Bluse. Der einzig positive Aspekt, den man diesem Roman vielleicht abgewinnen könnte: dass man immer darauf achten muss, glücklich zu sein, damit es nie so weit kommt, dass man vergisst, wie das geht.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
schönes Kleid, schöner Hintern.
… fürs Hirn: Mobbing am Arbeitsplatz.
… fürs Herz: Traurigkeit und Ausweglosigkeit.
… fürs Gedächtnis: das Gefühl, dass Tränen aus dem Buch tropfen könnten, wenn man es schräg hält.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Westö„Es ist schon seltsam, welche Abdrücke manche Menschen in einem hinterlassen. Und dass Lücken so schwer wiegen können“
Drei junge Menschen in den 1968ern in Helsinki, verbunden durch ihre gemeinsame Musik: Der schüchterne, stotternde Ariel, die attraktive, draufgängerische Adriana und der Raufbold Jouni sind mit ihrer Band mäßig erfolgreich. Ariel hat ein Lied geschrieben, „Geh nicht einsam in die Nacht“, das ihnen einen Plattenvertrag einbringt, aber nicht die ersehnte Berühmtheit, und als die drei ihre Ausbildungen abgeschlossen haben und beginnen, die Welt zu erkunden, trennen sich ihre Wege. Adriana wird ein gut gebuchtes, aber sehr unglückliches Model, Ariel verschwindet spurlos im kriminellen Dickicht Schwedens, und Jouni verfolgt eine vielversprechende politische Karriere. „Sie waren beide nur Geist, Ari und Addi, solche Luftmenschen gibt es heute nicht mehr“, sagt er später zum eigentlichen Erzähler dieser Geschichte – Frank Loman, der über viele Jahre hinweg leidenschaftlich in Adrianas jüngere Schwester Eva verliebt ist und darüber hinaus noch eine persönliche Verbindung zu dem Trio hat, dessen Lebenswege er zu verfolgen versucht. Es dauert seine Zeit, aber schließlich bekommt er die Antworten, die er sucht – und sie überraschen ihn.

Kjell Westö, der in Helsinki lebt, ist ein preisgekrönter finnlandschwedischer Autor, der auf 700 Seiten einen Generationen umspannenden, einprägsamen und sehr intensiven Roman vorlegt über das Wesen der Musik, die Zufälligkeit der Liebe und das Streben des Menschen nach Bedeutsamkeit. Ausgangspunkt sind die 1960er-Jahre, als drei junge Menschen sich selbst und ihre Möglichkeiten im Musikbusiness erkunden, und obwohl ihre Karriere bald versandet, ist diese Zeit doch von enormer Wichtigkeit für ihre späteren Leben. Sie sind ein Dreiergespann, das eng verbunden ist, obwohl nie mehr Sexuelles entsteht als ein launiges Hin- und Herspringen, es ist mehr ein gegenseitiges Beschützen – das ihnen jedoch letztlich nicht hilft. Ich-Erzähler Frank, dessen Perspektive 20 Jahre später einsetzt, bemüht sich, die Puzzlestücke zu einem erkennbaren Bild zusammenzusetzen, er will mehr wissen über diese drei Menschen, und er macht sich dazu an Politiker Jouni heran, der ihm – dem vermeintlichen Freund – irgendwann tatsächlich vieles erzählt, was sich zugetragen hat damals. In Kjell Westös Buch schwingen immer ein Hauch von Gefahr sowie eine Prise Melancholie mit, Helsinki wirkt düster, undurchschaubar und bedrückend. Wirkliches, bleibendes Glück erlebt keine der Haupt- und Nebenfiguren.

Ich lese sehr selten derart dicke Bücher, und es ist Kjell Westö hoch anzurechnen, dass er mich bis zum Ende fesseln konnte. Er schreibt sehr melodisch und mit einem feierlichen Ernst, alles scheint ihm wichtig, er ist sehr präzise. „Es gibt Geschichten, die geradeheraus und schlicht erzählt werden müssen. Sie sollen klingen, als wären sie niemals von Menschenhand berührt worden, als wären sie vom Himmel gefallen oder in einer Wolke aus Feuer und Schwefel aus der Unterwelt aufgestiegen.“ Das ist ihm beinahe gelungen – natürlich merkt man die Menschenhand. Aber es ist eine sehr talentierte Menschenhand, die weiß, was sie tut, wenn sie schreibt. Ein großartiges, sehr komplexes, zugleich leichtfüßiges und tiefsinniges Buch, das noch lange nachhallt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Düsternis passt zum Inhalt, der Titel ist für mich der bisher schönste in diesem Jahr.
… fürs Hirn: eine Vielfalt an Themen: Politik und Geschichte, Musik, Liebe, die Einsamkeit, der Tod – und unsere Sehnsucht danach, unsere Wurzeln zu kennen.
… fürs Herz: eine einzige große Lovestory gibt es nicht, dafür verschiedene Splitter der Liebe, Verbundenheiten, Freundschaften.
… fürs Gedächtnis: Lieblingszitat: „Manche Lieder sind so, sie wachsen in einen hinein. Oder man wächst in sie hinein. Denn wenn einen etwas anrührt, wer kann dann schon sagen, was sich bewegt und was stillsteht und annimmt? Wenn wir voneinander berührt werden, dann gibt es doch keinen, der eindeutig gibt, und keinen, der eindeutig nimmt? Ich weiß nicht, was die Schlösser in uns Menschen öffnet. Wüsste ich es, würde ich das schönste Lied der Welt schreiben und anschließend schweigen.“

Geh nicht einsam in die Nacht von Kjell Westö ist erschienen bei btb (ISBN 978-3-442-75282-9, 704 Seiten, 24,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Grannec„Essen Sie ein Stückchen Sachertorte. Unterzuckerung ist die Mutter der Melancholie“
Es ist keine leichte Aufgabe, die die junge Dokumentarin Anna Roth zu bewältigen hat: Sie soll Adele Gödel, die Witwe des begnadeten Mathematikers Kurt Gödel, überzeugen, den Nachlass des Genies dem Institut zu überlassen, für das Anna arbeitet. Adele ist im Altersheim und dem Tod näher als dem Leben, sie ist außerdem gehässig, fett und vulgär. „Sie sind genauso wie all die anderen verkniffenen Arschlöcher aus Princeton“, sagt sie, „Sie fragen sich, wie ein solches Genie eine so blöde Sau heiraten konnte.“ Anfangs hat die eher blasse und schüchterne Anna dieser Urgewalt von Frau nichts entgegenzusetzen, doch das ändert sich schnell, und sie bietet Adele die Stirn. Sie erreicht, dass die alte Dame sich öffnet und anfängt zu erzählen – von der ersten Begegnung mit dem Studenten Kurt, von den enormen Unterschieden zwischen ihnen, der Flucht vor den Nationalsozialisten, den Problemen mit der Schwiegermutter und Kurts Abdriften in den Wahnsinn sowie von gemütlichen Runden mit den Größen Princetons wie Albert Einstein. Anna ist fasziniert von der außergewöhnlichen Lebensgeschichte dieser Frau, die immer im Schatten ihres Mannes stand und sich für ihn aufopferte, ohne dass jemand es bemerkt hätte – nicht einmal er selbst.

Die Göttin der kleinen Siege von Yannick Grannec ist eine sehr facettenreiche, opulente Geschichte über das Leben von Adele Gödel an der Seite des Mathematikers, der den Unvollständigkeitssatz entwickelte und bis heute Rätsel aufgibt. Die französische Autorin feiert in diesem Debüt eine reale Liebe auf fiktionale Weise: Sie bezieht sich auf historische Tatsachen, die sie in einem Glossar belegt, und füllt die Lücken mit ihrer Fantasie. Und das macht sie richtig gut. Sie wechselt dabei zwischen Gegenwart und Vergangenheit: In der Gegenwart finden die Gespräche zwischen Anna und Adele statt, bei denen Adele mit ordinären Sprüchen zu provozieren versucht, sich lustig macht über Mauerblümchen Anna und ihr lebenskluge Ratschläge gibt à la „Einen Mann zu verführen ist nichts – ihn zu halten ist schwierig.“ Die Kapitel in der Vergangenheit widmen sich der fünfzig Jahre währenden Ehe von Adele und Kurt, ausgehend von ihrem ersten Treffen im Jahr 1928. Adele war eine Nachtclubtänzerin, die nichts von der Mathematik verstand, Kurt ein Student mit vielversprechenden Aussichten. Die Konstellation ist, wenn man von einer ernsten Beziehung und nicht von einer kurzen Liebelei ausgeht, eher merkwürdig, und Adele wird Zeit ihres Lebens das dumme Flittchen an der Seite des großen Denkers bleiben.

Die Ehe mit „Kurtele“ ist nicht einfach, im Gegenteil, er ist verschroben, neurotisch und paranoid, gleitet immer mehr ab in Geisteszustände, in die ihm Adele nicht folgen kann. Sie kümmert sich um ihn, gibt ihn niemals auf, obwohl er ihre Liebe nicht zu schätzen weiß. Schon zu Beginn gibt es einen Wortwechsel zwischen Adele und Kurt, der für ihr ganzes weiteres Leben gelten soll: „Ich werde Sie am Denken hindern. Ich rede viel“, sagt sie, und er entgegnet: „Das macht nichts. Ich höre eben nicht hin.“ Vor der Kulisse des Zweiten Weltkriegs, einer dramatischen Flucht und dem Aufbau einer neuen Existenz in Amerika entspinnt sich die Geschichte zweier Menschen, die wider aller Vernunft aneinandergebunden sind und sich nicht loslassen bis zum Tod. Ein wenig schade finde ich, dass Kurt mit der Zeit als Figur verblasst, aber es gehörte vermutlich zum wahren Wesen dieses Menschen, dass er schwer fassbar war. Hier gibt es – zwischen den ausufernden Gesprächen mit Einstein und Konsorten – einige Momente, in denen ich den Faden und das Interesse verliere, weil ich leider noch weniger von Mathematik verstehe als Adele. Generell aber hat Yannick Grannec mich mit diesem farbenprächtigen, überbordenden, sarkastischen und zugleich traurigen Roman sehr beeindruckt. Es ist eine Kunst, trockene Fakten zum Leben zu erwecken, und die Autorin hat Originalzitate geschickt in die Gespräche eingeflochten sowie die Hintergründe bestens recherchiert. Es fehlt an nichts: Eine übergroße Liebe, Verzweiflung, Geisteskrankheit, Europas Zerfall und die großen philosophischen Fragen der Menschheit vermengt die Autorin zu einem besonderen Leseabenteuer.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: sehr schlicht, der Flamingo hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: auweh – Mathematik ist mein blinder Fleck, aber die Autorin hat sich redlich bemüht, die Theorien so aufzubereiten, dass sie allgemein verständlich sind.
… fürs Herz: das ganze Buch, die Geschichte einer lebenslangen Liebe.
… fürs Gedächtnis: „Menschen im Allgemeinen langweilen mich schnell. Ich muss jemanden bewundern können.“

Die Göttin der kleinen Siege von Yannick Grannec ist erschienen im Verlag Lessingstraße 6 (ISBN 9783853000038, 480 Seiten, 21,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Knecht„Und eine größere Sensation als der erste Kuss existiert nun einmal nicht auf der Welt, danach geht es nur noch abwärts“
„Jetzt noch fünf Minuten für mich. Fünf Minuten unter der Bettdecke. Fünf Minuten Autonomie, bevor ich wieder nur Frau und Mutter bin, Mutter und Frau. Fünf Minuten, bevor ein Rudel hipper junger Eltern bei uns einmarschiert, mit denen ich hippe Jung-Eltern-Gespräche führen werde, als wäre ich genauso wie sie. Sie denken, ich sei genauso. Aber das bin ich nicht. Ich bin jemand, der sich jetzt gern irgendwo verkriechen und sündigen Gedanken nachhängen würde.“ Vor allem den Gedanken an ihren Liebhaber: Antonia Pollak hat nämlich eine Affäre, von der ihr Mann Adam und die begüterten Freunde nichts ahnen. Genauso wenig wissen sie über Antonias Vergangenheit Bescheid, die alles andere als glanzvoll ist und mit der lieblosen Mutter und den kriminellen Aktivitäten so gar nicht zu dem sauberen, bürgerlichen Leben passt, das sie heute führt. Antonia versteckt sich in der Sicherheit der Normalität, im Versorgungsalltag mit zwei kleinen Kindern, sie versteckt sich vor den alten Erinnerungen, vor ihrer eigenen Zügellosigkeit und der Gefahr. Als sie jemanden trifft, den sie von früher kennt, hat sie Angst, dass alles auffliegen könnte und ihre Geheimnisse ans Licht kommen. Das muss sie unbedingt verhindern, ohne dabei der Anziehungskraft des Unmoralischen erneut zu erliegen …

Was für ein herrlich böses Buch! Ich habe mehr als einmal laut gelacht. Doris Knecht ist mit Besser ein unvergleichlich fieser, sarkastischer Roman gelungen über die schöne Scheinwelt der bessergestellten Jungfamilie: Hinter der Fassade aus Bugaboo-Kinderwagen, veganen Würstchen und Ausflügen in den Märchenpark wird belogen und betrogen, aus Berechnung geheiratet und sich ins beringte Fäustchen gelacht. Die Ich-Erzählerin Antonia ist unglaublich ehrlich und spricht Gedanken aus, die niemand jemals äußern würde: wie es ist, eine gepflegte Affäre zu führen, ganz undramatisch und professionell, dass einem andere junge Eltern entsetzlich auf die Nerven gehen können und dass man als Mutter manchmal fast durchdreht. „Ich habe immer verstanden, warum es vorkommt, dass Eltern ihre schreienden Säuglinge zu Gemüse schütteln. Ich glaube, alle Eltern verstehen es, sie reden nur nicht darüber. Kinder graben etwas aus einem heraus, von dem man nicht wusste, dass es da ist, dass man es hat, aber fast alle, auch wenn sie die superentspannten Mich-bringt-nichts-aus-der-Ruhe-Eltern geben, haben es in sich: die Wut, den einen Schlag, der für Ruhe sorgen wird. Alle haben sie es, mehr oder weniger vergraben.“ Die Wahrheiten, die Antonia so direkt auf den Punkt bringt, sind selbst nicht überraschend – aber die Art und Weise, wie sie so nackt auf den gedeckten Familientisch gepackt werden, ist es. Und überaus amüsant ist sie auch.

Die österreichische Autorin Doris Knecht nutzt ihre Sprache mit großem Können. Bosheit und Verzweiflung, Gleichgültigkeit und die Sehnsucht nach Liebe – sie porträtiert die widersprüchlichsten Gefühle so hervorragend, dass ich sie alle nachempfinden kann. Sprache ist eine Waffe, genau wie Humor, und in der perfekten Kombination zünden sie eine Granate nach der anderen: Selten gibt mir ein Roman die Möglichkeit, mich moralisch so gehen zu lassen und all meine Gehässigkeit heimlich auszuleben, schadenfroh zu sein und innerlich zu nicken, weil es eben genauso ist: Keine Frau kann immer lieb und brav und schön und nett sein, nein, wir sind hinterhältig und perfide und klug, aber meistens nur im Geheimen, sodass es keiner merkt. „Das Schicksal hat mich mit Geheimnissen reich beschenkt, ich weiß gar nicht mehr wohin damit, ich finde in mir schon keine Schrankfächer mehr, in denen ich noch mehr Geheimnisse verstauen und verstecken könnte. Vielleicht sollte ich mal das eine oder andere Geheimnis ausräumen, wegschmeißen, entsorgen. Vielleicht sollte ich endlich auf neue Geheimnisse verzichten, aber offenbar ist auch das eine Sucht, von der ich nicht loskomme.“

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nunja, in der Covergestaltung wäre da noch Luft nach oben gewesen.
… fürs Hirn: ganz wunderbar böser Humor! Eine Persiflage auf das Heile-Welt-Leben der Jungfamilien.
… fürs Herz: eher die dunkle Seite der Gefühle.
… fürs Gedächtnis: die Passage über den ersten Kuss, die sehr wahr und schlau und schön ist.

Für Gourmets: 5 Sterne

Krien„Es gibt Dinge, die können gleich erzählt werden, andere haben ihre Zeit, und manche sind unsagbar“
„Der Henner ist wirklich ein schöner Mann. Letztens im Laden fiel mir das auf: ein grober, massiger Körper, mit einer steten Kraft in den Bewegungen, doch das Gesicht ganz fein. Die Augen tief und ausdrucksvoll und dunkel, kleine Falten rundherum, ein bitterer Zug um den Mund, doch wenn er lächelt, ist davon nichts mehr zu sehen. Man sieht ihm das Trinken nicht an.“ Zu diesem wesentlich älteren Mann fühlt sich die 17-jährige Maria hingezogen. Sie lebt mit ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern, sie hat es ganz gut dort und lässt sich treiben, sie schwänzt die Schule und wägt ihre Möglichkeiten ab, jetzt, da die Mauer gefallen und die Grenze in den Westen offen ist. Maria liebt Johannes, aber vom Henner ist sie fasziniert, so sehr, dass sie sich ihm immer wieder nähert, obwohl er im Dorf ein Außenseiter ist und die Leute ihm misstrauen. Während Maria mit Johannes die Liebe kennenlernt, zeigt der Henner ihr die Lust: Er ist grob und rücksichtslos, er nimmt sie, tut ihr weh: „‘Mach mit mir, was du willst‘, flüstere ich ihm ins Ohr. Und das tut er dann auch.“ Das Mädchen verstrickt sich in seinen Lügen, sucht immer öfter nach Ausreden, um beim Henner sein zu können, ist ihm hörig. Es ist ein heißer Sommer, der – so liegt es lange schon in der flirrenden Luft – kein gutes Ende nehmen wird.

„‘Die Lüge zerfrisst den Menschen inwendig‘, sagt Oma Traudel immer.“ Und trotzdem sind es oft die Lügen, an die wir uns klammern, die wir nicht loslassen, obwohl sie uns zerstören. Das zeigt die deutsche Autorin Daniela Krien in ihrem Debüt Irgendwann werden wir uns alles erzählen auf geradezu meisterhafte Weise. Ihre Ich-Erzählerin, die 17-jährige Maria, ist ein kluges, aber eher antriebsloses Mädchen, das sich auf dem Hof seines ersten Freundes eingenistet hat, um der erdrückenden Traurigkeit der Mutter zu entkommen. An der Schwelle zwischen Kindheit und Weiblichkeit begegnet Maria einem Mann mit tragischer Vergangenheit und mysteriöser Aura – und lässt sich ganz bewusst von ihm gefangen nehmen. Sehr eindringlich und wirkungsvoll erzählt Daniela Krien von diesem Bann, in den Maria gerät, von gewalttätigem Sex, von der Einsamkeit und den Versuchen, sie zu besiegen. Maria sehnt sich, sie sehnt sich so sehr danach, eine Frau zu sein, geliebt zu werden, das eigene Herz zu spüren, jeden Tag. Der Henner ist 23 Jahre älter, ein undurchschaubarer Genosse, den die Autorin in den Halbschatten stellt, sodass man ihn nie klar erkennen kann und das Misstrauen wach bleibt.

Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist ein grandios geschriebener Roman, heiß und aufregend wie ein Sommer, brutal und heftig wie ein Gewitter. Ich liebe es, wenn ein Buch mich zu sich saugt und zum Lesen zwingt, wie dieses es getan hat, weil es eigenwillig, spannend, erotisch und verstörend zugleich ist. Die wilde Mischung aus Erwachsenwerden, hartem Sex, Deutschlands Politik und der Suche nach Liebe findet durch die Feder von Daniela Krien eine erstaunlich konsequente, glaubwürdige und interessante Stimme im Gedankenstrom einer Siebzehnjährigen. Figurenzeichnung, Handlung und Stil sind genial, die Atmosphäre ist aufgeladen, es knistert, es stürmt und kracht. Rau und roh und entfesselt ist dieses Buch, das ich jedem ans Herz legen möchte, der sich nicht vor Blitz und Donner fürchtet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die drückende Hitze wird auf dem Cover sichtbar.
… fürs Hirn: die Faszination darüber, dass Gefahr so neugierig macht.
… fürs Herz: die berühmte Anziehungskraft der Bad Boys, die Gefühle, eine Mischung aus Gewalt und Zärtlichkeit
… fürs Gedächtnis: Respekt vor der Autorin.

Netter Versuch: 2 Sterne

SteinEinen Jux wollt‘ er sich machen
„Am Morgen des Weltuntergangs lag Wien wie ausgestorben da.“ Nichts kann die Stadt, das Land, die Welt ausrichten gegen den Kometen, der auf die Erde zurast. Sie haben es versucht, die klugen Wissenschaftler auf der Mondstation – die in einer unkomplizierten Reise erreichbar ist – , aber recht viel mehr, als den Tag des Weltuntergangs auszurechnen, konnten sie nicht tun. Nach wie vor wird Europa von Monarchen beherrscht, das von Wien aus regierte Kaiserreich ist der Nabel der Welt – denn einen Ersten Weltkrieg hat es nie gegeben, auch keinen Zweiten oder irgendeine andere politische Entwicklung, die darauf gefolgt wäre. Amerika ist ein hinterwäldlerischer Kontinent voller Cowboys und Goldgräber. Während k. u. k. Hofastronom Dudu Gottlieb auf dem Mond, einer deutschen Kolonie, weilt und nach einer Lösung für das Kometen-Problem sucht, betrügt seine Frau Barbara ihn mit dem russisch-stämmigen Studenten Alexej, einem Jungspund, der ganz berauscht ist davon, dass er mit dieser Dame von Welt und ihren gesellschaftlich angesehenen Freunden verkehren darf. Soll er es genießen, solange er kann – bevor das Ende kommt.

Der Komet von Hannes Stein ist der pure Wahnwitz. Der deutsche Autor, der in Österreich aufgewachsen ist und in Amerika lebt, hat ein folgenreiches historisches Ereignis genommen – das tödliche Attentat auf Kronprinz Franz Ferdinand 1914, das den Ersten Weltkrieg auslöste – und gestrichen. Franz Ferdinand bleibt am Leben, fährt „wieder z’haus“, und für Hannes Stein eröffnet sich eine große Spielwiese voller Möglichkeiten. Er macht Wien zu Europas Mittelpunkt und verweigert den USA die technische Entwicklung, die Monarchen bleiben an der Macht, der Mond ist eine deutsche Kolonie und in Österreich wimmelt es von Psychoanalytikern, Künstlern, Angehörigen verschiedener Habsburg-Völker und blasierten Wichtigtuern im Dunstkreis des kaiserlichen Hofs. Dieses Buch ist voller Schmäh. Allerdings gibt es, was diesen Schmäh und mich betrifft, ein kleines Problem. Ich kann den Humor sehen, er liegt groß und deutlich und rot angemalt zwischen all den Seiten vor mir, er ruft mir zu, dass ich lachen soll, allein – ich kann nicht. Humor, die zugleich einfachste und komplizierteste Sache, ist allumfassend und individuell. Und während Hannes Stein mir Witz nach Witz erzählt, finde ich kaum einen davon witzig.

Dabei sollte mir als Österreicherin dieser spezifische und beißend perfide Humor eigentlich liegen, aber der Roman ist mir zu schwülstig, zu gewollt, ich fühle mich, als lauere auf jeder Seite eine neue Anspielung auf Geschichtliches oder Philosophisches wie ein Prügel, der mir das Lachen aufzwingen soll. Ich reagiere seltsam rebellisch und schmunzle höchstens. Manchmal frage ich mich auch, ob ich für den einen oder anderen satirischen Hinweis zu dumm und ungebildet bin – auch nicht schön. Die Ausgangsidee ist grandios, das Buch und ich kommen jedoch nicht in Schwung. Hannes Stein hat einen sehr ausschweifenden Stil, ergeht sich in langatmigen Wortergüssen, schreibt schwierige Briefe und lässt die Figuren mäßig interessante Dialoge führen. Ich mag Hannes Steins Fantasie und Kreativität, den Ehrgeiz, mit dem er seine Parallelwelt bis ins Detail geplant hat. Sie ist herrlich absurd und abwegig, wobei sie natürlich ganz genau so beschaffen sein könnte – hätte das 20. Jahrhundert einen anderen geschichtlichen Weg genommen. Mich hat der Ausflug in diese Parallelwelt nicht ganz so begeistert wie erhofft, aber bei vielen anderen Lesern wird das bestimmt gelingen: Die Zeit und Profil beispielsweise sind voll des Lobes, Mara von buzzaldrins Bücher fand auch Gefallen am Roman.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
Wien bei Nacht, bedroht von einem Blumentopf.
… fürs Hirn: viel, viel Denkarbeit, Politik, Weltgeschichte, Judentum, endlose Arroganz und bergeweise Ironie.
… fürs Herz: ein bisschen Sex und die Schwärmerei eines jungen Mannes.
… fürs Gedächtnis: am ehesten große Verwirrung.

Der Komet von Hannes Stein ist erschienen im Galiani Verlag (ISBN 978-3-86971-067-9, 272 Seiten, 18,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Rudis„Im Leben gibt es nur zwei Wege. Der eine führt nach oben. Der andere auch. Aber auf dem Umweg über unten“
„Sicher ist nur, dass ich in dem Moment, wo ich auf der Welt keinen mehr hatte, hier stecken geblieben bin“ – und zwar in Liberec in Tschechien, wo Fleischman seit seiner Geburt lebt. Seine Eltern sind bei einem Unfall gestorben, und der vulgäre Jégr, ein entfernter Verwandter, hat den Jungen bei sich aufgenommen. Er betreibt das höchste Hotel der Stadt, in dem kaum jemals Gäste schlafen, sich aber dennoch einige schräge Vögel herumtreiben: Patka, der eine vermutlich hochgiftige Substanz als „Happy“-Serum verkauft, der alte Franz, der nach Liberec zurückgekehrt ist, um zu sterben, oder die Zimmermädchen Ilja und Zuzana, von denen eine hinter Fleischman her ist – der sich jedoch nur für die Wetterfee aus dem Fernsehen interessiert. Fleischman hat keine Ambitionen, er schafft es nicht, aus Liberec zu entkommen, und auch die Therapie bei einer Psychologin bringt ihn nicht weiter. Jégr, der ihn einen „unfähigen Einhandflötisten“ nennt, geht ihm mit Bemerkungen wie „Wer Fußball nicht liebt, vögelt nicht“ furchtbar auf die Nerven, er zieht sich zurück in seine eigene Welt, in der er sich am liebsten mit Wetterbeobachtungen beschäftigt und allein ist: „Wenn ich könnte, würde ich für einen Moment alle Menschen ausschalten, damit ich in der Stadt ganz allein sein könnte. Und hören könnte, ob die Stadt ein Herz hat …“

Grand Hotel von Jaroslav Rudiš ist ein skurriles Buch. Ich-Erzähler Fleischman berichtet von seiner Kindheit, die mit dem Tod der Eltern ein abruptes Ende fand, und von seinen Tätigkeiten als Mädchen für alles im Hotel, das die ganze Stadt überragt. Seine Beschäftigung mit dem Wetter ist eine einsame, er hat sich selbst der hübschen Fernseh-Meteorologin versprochen, die natürlich unerreichbar bleibt – seine Briefe an sie werden stets nur mit Autogrammkarten beantwortet. Seine Anekdoten über das Leben im fast leerstehenden Hotel sind ein Sammelsurium aus lustigen Begebenheiten, schrägen Dialogen und traurigen Einblicken in das Leben von einem, der eigentlich nur jeden Tag herumbringt, ohne zu wissen, wohin das Leben ihn führen soll. Deshalb führt es ihn auch nirgendwohin, und ich gestehe, dass ich zwischendrin ein bisschen das Interesse verliere an dieser Selbstdarstellung eines niedergeschlagenen jungen Mannes. Generell aber habe ich das Buch des tschechischen Autors gern gelesen, weil es eine gute Mischung aus absurd, witzig und melancholisch bietet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja … ein schönes Blau immerhin.
fürs Hirn: dass einem manchmal das Leben zu eng werden kann.
… fürs Herz: keine Lovestory, nur eine schwache Schwärmerei.
… fürs Gedächtnis: für mich nicht allzuviel.

Für Gourmets: 5 Sterne

Bengtsson„Aber wenn man keine Wahl hat, fällt es viel leichter, mutig zu sein“
Sie sind der König und der Prinz, sie sind Vater und Sohn, sie leben ohne Namen und verweilen nie lang an einem Ort. Der Vater nimmt jede Art von Arbeit an und erbettelt sich mit seinem Charme alles, was er braucht, um die Wünsche des Jungen zu erfüllen – bis auf einen: zur Schule gehen zu dürfen. Stattdessen erteilt er ihm selbst Unterricht, vor allem in der Kunst zu überleben. Der Junge ist noch zu klein, um die Probleme des Vaters zu verstehen, er ist viel allein mit sich, seinem Zeichenblock und einer Art Fantasiewelt. Der Vater, der König, ist für ihn ein Held, den er mit der Kraft der Kinder liebt, jener Kraft, die ihn so viel kostet, dass er selbst beinahe untergeht. Auch viele Jahre später, als Vater und Sohn nach einem schrecklichen Ereignis längst getrennt sind und der zum Mann gewordene Junge vom Leben herumgeweht wird wie ein Blatt vom Frühlingswind, ist er noch ausgezehrt von seiner Kindheit. Aber so ist es mit der Liebe: Es ist immer, immer noch ein kleines bisschen davon übrig …

Ich bin ein Detektor, ein Spurenleser, ein Trüffelschwein. Ich schnüffle, suche, grabe nach literarischen Perlen und jenen Buchschätzen, die einen Abdruck hinterlassen, die mich erschüttern. Und dann kommt einer wie Jonas T. Bengtsson, legt eine Miniaturbombe in mein Herz – und zündet sie. Der dänische Autor hat mit Wie keiner sonst einen Roman geschrieben, der nicht schmeichelt und streichelt, sondern schneidet. Messerscharf sind die Beobachtungen, schmerzhaft traurig die Geschehnisse. Jonas T. Bengtssons Worte sind schnörkellos und klar, und wenn sie klingen, erinnert ihre Melodie an das Scheppern von zerbrochenem Glas. Das Leben des Ich-Erzählers ist ein Flickwerk, und weil er zu Beginn ein Kind ist, kann er das nicht sehen. Er erklärt sich das Verhalten des Vaters auf seine eigene Art, eine gute, kindliche Art, und er ist getragen von der Liebe des Vaters, die ihn alle Entbehrungen verschmerzen lässt. In Büchern, in denen ein kindlicher Erzähler erwachsen wird, ist stets mit zunehmendem Alter der Zauber verwirkt – so auch hier, doch ich bin gewappnet und wechsle von der Welt der Fantasie zur Realität eines jungen Künstlers, der sagt: „Ich werde die ganze Welt zeichnen, sonst gerät sie aus den Fugen.“

Es gibt Bücher, bei denen warte ich die ganze Zeit nur auf die Auflösung des Geheimnisses, das sie bergen. Und es gibt Bücher wie dieses, bei denen ich von Anfang an weiß, dass ich nie erfahren werde, was passiert ist. Jonas T. Bengtsson spielt mit mir, lässt Streichhölzer in der Dunkelheit aufflammen, die wieder verlöschen, ehe ich wirklich etwas erkennen kann. Das ist in Ordnung, weil es zu diesem verschrobenen, mysteriösen, beklemmenden Roman passt und weil ich das Gefühl habe, dass ich gar nicht alles sehen will. Ich erfahre zumindest genug, um das furchtbare Ganze dahinter zu erahnen. Jonas T. Bengtsson erzählt vom Leben am Rand der Gesellschaft, von Einsamkeit und dem engen Band zwischen einem Vater und seinem Sohn. Die Abhängigkeit des einen ist in jeder Zeile spürbar, die Verrücktheit des anderen blitzt nur gelegentlich auf. Sprachlich gesehen ist der Autor ein Chirurg, der schonungslos seine Figuren seziert und kein Mitleid mit ihnen zeigt. Alles, was geschieht, tut weh, uns allen, und wenn ich könnte, würde ich ihnen ein Königreich bauen, dem Vater und dem Sohn, in dem nur sie beide wohnen dürfen, in dem sie in Sicherheit sind für immer. Dies ist ein Buch, das sich wie ein Splitter in den Leser bohrt, ein großartiges, traurig-schönes, bemerkenswertes Buch, ein Buch wie keines sonst.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein wunderschönes, sehr passendes Cover.
… fürs Hirn: Schmerz, Verrat, die Verlorenheit eines Kindes und die allmächtige Gewalt der Realität.
… fürs Herz: die trotzig standhaltende Liebe zwischen Vater und Sohn.
… fürs Gedächtnis: dass dies für mich das bisher beste Buch des Jahres 2013 ist.

Wie keiner sonst von Jonas T. Bengtsson ist erschienen bei Kein & Aber (ISBN 978-3-0369-5668-8, 448 Seiten, 22,90 Euro).