Gut und sättigend: 3 Sterne

John Williams ist eine Wiederentdeckung. Sein Roman Stoner wurde erst posthum zum Welterfolg – Williams ist 1994 gestorben – und gehört heute zu den modernen Klassikern Amerikas. Es hat mich überrascht, dieses Buch über einen Farmerjungen, der an die Universität geschickt wird, um etwas über Landwirtschaft zu lernen, sich jedoch dann für die Literatur interessiert. Zu Arthur, dem Protagonisten in Nichts als die Nacht fand ich keinen so direkten Zugang, er ist ein irgendwie steifer Typ, gefangen in den eigenen Zwängen, vor allem im Konflikt mit dem übermächtigen Vater. Nun muss man wissen, dass John Williams Mitglied des Army Air Corps war und im Alter von 22 Jahren nach einem Flugzeugabsturz schwer verletzt im burmesischen Dschungel festsaß. Er hat dort wohl dem Tod ins Auge geblickt, und er hat dort dieses schmale Buch, sein erstes Buch, geschrieben über einen, der sich treiben lässt im Leben, der Konflikten ausweicht und sich doch eigentlich so viel wünscht. Das gibt der kurzen Erzählung eine intensive Kraft, und dennoch: Ich mochte Stoner lieber, viel lieber, wenn ihr also etwas von John Williams wiederentdecken möchtet, dann greift zu seinem Roman, der einem die Augen öffnet für das Gute im Alltag – und zwar auf völlig unesoterische Weise.

Als er sie ansah, wurde ihm wieder bewusst, wie offenkundig und grundlegend die Menschen voneinander getrennt sind. Hier saßen zwei Personen so nahe beisammen, dass ihre Körper sich berührten, und jeder war sich der Gegenwart des anderen bewusst, jeder war auf eigene Weise beflissen um den anderen bemüht, versuchten sie doch beide je für sich, die Schale des anderen zu einer inneren Wirklichkeit zu durchbrechen, versuchten zugleich dafür zu sorgen, dass der andere so leicht wie nur möglich in die jeweils eigene Schale vordringen konnte, und doch scheiterten sie elendiglich bei jedem Versuch.

Nichts als die Nacht von John Williams ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-28129-4, 156 Seiten, 18 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

Ich weiß nicht so genau, was mit Heinrich Steinfest los ist, und ich frage mich das schon länger. Seine Bücher sind derart merkwürdig, man kann sie keiner Kategorie zuordnen. Früher hab ich  alte Krimis von ihm gelesen, dann Das grüne Rollo, und das war schon recht gewöhnungsbedürftig, aber mit Die Büglerin schießt er endgültig den Vogel ab. Während der Lektüre hab ich ungefähr alle Emotionen durchlebt, die man so haben kann bei einem Buch: Ich war begeistert, angerührt, ich hab mich geärgert, ich war genervt. Alles nacheinander, alles gleichzeitig. Da gibt es Sätze, die mochte ich sehr, da gibt es Sprachbilder, die bewundere ich. Fein erzählt, mit einer sehr eigenen Sprachmelodie, wirklich wunderbar. Der Inhalt allerdings gibt Rätsel auf: Tonia Schreiber verschenkt ihr gesamtes Vermögen und wird Büglerin, weil sie sich selbst bestrafen möchte für die Rolle, die sie beim Tod ihrer Nichte gespielt hat. Dieser Tod ist hochgradig seltsam, Tonia selbst ist es auch, die gesamte Story ebenfalls, eigentlich passt nichts zusammen, alles ist einfach nur abstrus und unglaubwürdig. Einerseits reizt mich das Kuriose, weil es anders ist und originell – und weil mich doch der übliche Einheitsbrei ohnehin so schrecklich fadisiert –, andererseits denke ich zu oft: Also, Heinrich, im Ernst jetzt? Was erzählst du mir da für einen Blödsinn? Und es scheint kaum möglich zu sein, doch es gelingt ihm, das bis zum Ende noch zu steigern, der Schluss ist der Gipfel des Absurden. Ein Buch, über das man euphemistisch sagen könnte: Es ist … interessant.

Die Büglerin von Heinrich Steinfest ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3-492-05663-2, 288 Seiten, 20 Euro).

Netter Versuch: 2 Sterne

Nadia und Saeed müssen fliehen aus dem Land, in dem sie zuhause sind, weil es auf einen Bürgerkrieg zusteuert, weil es nicht mehr sicher ist. Sie sind verliebt, vielleicht, oder zumindest empfinden sie Zuneigung füreinander, so genau weiß man das nicht beziehungsweise kann man sich da schon mal irren, wenn man sich ständig in Gefahr befindet und einem das Adrenalin durchs Blut schießt. So weit, so gut, die beiden machen sich also auf den Weg in eine andere Welt, in der es ihnen hoffentlich besser geht, und: Ein Buch über Flucht zu schreiben in einer Zeit wie dieser, sollte das nicht eigentlich eine sichere Bank sein? Also hab ich gedacht, Mohsin Hamid, der kann das bestimmt, wenn der sich schon so ein Thema vornimmt, dann hat er dazu auch was zu sagen, dann lässt er all die Emotionen hochkochen, die mit Migration und Heimatlosigkeit verbunden sind. Dann zeigt er, wie es wirklich ist. Stattdessen hat der liebe Mohsin mich schwer enttäuscht, weil er es eben nicht sagt und eben nicht zeigt: Nadia und Saeed fliehen durch eine Tür. Einfach so, sie gehen durch Türen und kommen woanders heraus, das ist alles, daraus besteht ihre Flucht, und ich finde das, Entschuldigung, ein bisschen schwammig, ein bisschen feig, denn wenn man schon die Chance hat, gehört zu werden, sollte man das nicht verharmlosen, nicht so tun, als sei es leicht, ein Durchschlüpfen bloß, haha, eine Tür, nichts sonst, unglaublich eigentlich, dass Menschen dabei sterben. Was ist das, Mohsin, ein Märchen, eine Verarschung, ein Witz? Lest dieses Buch nicht, lest lieber ein gutes, eines, das die Sorgen und Nöte, die Angst und den Kummer von Menschen auf der Flucht ernst nimmt.

Exit West von Mohsin Hamid ist erschienen bei Dumont (ISBN 9783832198688, 224 Seiten, 22,70 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ich glaube, Kirsten Fuchs ist ein bisschen verrückt. Und ich glaube, das ist ganz gut so. Ich mag sie schon lange, habe einiges von ihr gelesen und folge ihr auf Twitter, wo sie so unbedarft-lustig aus dem Chaos erzählt, das unser aller Leben ist. Auf ihr neues Buch hab ich mich sehr gefreut, und es hat mich in einer Zeit erreicht, in der ich das dringend nötig hatte: ein bisschen Schmunzeln, ein bisschen Unernsthaftigkeit, ein bisschen was Verrücktes. Ich weiß nicht, wie die Frau das macht, so großartige Vergleiche und Sprachbilder zu schaffen, die irgendwie verquer sind und dabei sehr originell, die im Kopf bleiben und in den Mundwinkeln, die es automatisch nach oben zieht.

Aus dem Schweißgeruch könnte man einen Möbelpacker kneten, aus dem Biergeruch einen zweiten.

Wir sind mit voller Absicht nichts geworden, und das hat ja auch geklappt.

Sagen wir mal, das ganze Jahr fühlte sich an, als wäre ich wie Obelix als Kind in einen Topf mit Zaubertrank gefallen, nur dass mein Zaubertrank nicht stark machte, sondern ab dem fünfunddreißigsten Jahr unglücklich.

Solche Sätze schreibt Kirsten Fuchs, und ich finde die so gut, dass ich sie umarmen möchte. Mit dem ganzen Buch möchte ich ins Bett gehen, ich glaube, es würde Spaß machen, wir würden uns was zu sagen haben, aber auch lachen können miteinander. Doch wenn ihr jetzt denkt, Kirsten Fuchs sei eine Ulknudel und Signalstörung eine Sammlung klamaukiger Erzählungen, dann habe ich euch in die Irre geführt, denn das ist nicht der Fall. Die Kurzgeschichten haben durchaus Tiefgang, sie erzählen von Alkoholismus und Arbeitslosigkeit, von erster Verliebtheit und Missverständnissen.

Sätze wie

Nermin hatte jedes Mal einen Stacheldraht im Bauch, wenn sie an diese Lager denkt, denn ihre Eltern kamen auch damals in ein Lager, als sie ankamen, und irgendwie sind sie dann nie ganz angekommen.

stehen da nämlich auch drin, und jetzt werdet ihr mir hoffentlich zustimmen, dass Kirsten Fuchs einfach großartig ist – und dieses Buch auch.

Signalstörung von Kirsten Fuchs ist erschienen bei Rowohlt (ISBN 978-3737100441, 224 Seiten, 18 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Wenn man im Internet einigermaßen aufmerksam ist, kommt man an Kathrin Weßling gar nicht vorbei. Weil sie mit ihren Accounts nicht nur sehr präsent, sondern auch sehr erfolgreich ist, weil sie witzige Posts und Stories macht, weil sie Artikel schreibt – und dabei zielgenau den Finger in Wunden legt, die eigentlich keiner spüren will. Das macht ihre Veröffentlichungen so wichtig – und das gilt auch für ihren aktuellen Roman Super, und dir?, in dem sie etwas thematisiert, das auch alle gern wegignorieren würden: die Sinnlosigkeit des Hamsterrads, in dem wir laufen, den Stress, das drohende Burn-out. Ihre Protagonistin Marlene ist 31 Jahre alt, sie hat studiert, sie hat einen Freund, einen lieben, sie hat 532 Freunde auf Facebook und außerdem einen Trainee-Platz in einem bedeutsamen Unternehmen. Marlene hat alles richtig gemacht. Die Frage ist nur: Warum fühlt es sich dann nicht richtig an? Kathrin Weßling schreibt über eine, die gedacht hat, dass alles gut wird, wenn sie nur fleißig ist und motiviert und den Erwartungen gerecht wird, und die, als sie merkt, dass das nicht eintritt, nicht weiß, wohin mit dieser ganzen Enttäuschung. Marlene kommt mit dem Druck nicht klar, mit den Überstunden nicht und mit der Zwecklosigkeit ihres Tuns auch nicht. Da helfen die Drogen nicht weiter, mit denen sie sich über Wasser hält, wach macht, konzentriert, die aber natürlich Raubbau betreiben mit ihrem Körper und ihrem Leben. Ein rasantes, kluges, hochaktuelles Buch, das zu Recht viel Aufmerksamkeit bekommen hat – und noch mehr bekommen sollte.

Die Kantine ist der größte Konferenzraum in einem Unternehmen. So ist das jedenfalls bei uns. Es ist nicht bloß eine Kantine, es ist ein Laufsteg und ein Raum voller Aussagen: Das ist meine Stellung, das ist mein Gehalt, das sind meine Kollegen, und das fasst zusammen, wie geil ich bin. Und genau deshalb hasse ich sie sehr. Ich hasse die kleinen Tische, auf denen für die Tablets nicht genug Platz ist. Ich hasse das Anstehen, den Small Talk in der Schlange vor der Essensausgabe. Ich hasse die anderen, ich hasse mich. Und ich hasse das Essen. Das Essen, das man runterwürgt, während man eine Präsentation hält, die man selber ist.

Super, und dir? von Kathrin Weßling ist erschienen bei Ullstein (ISBN 9783961010103, 256 Seiten, 13 Euro).

 

 

Für Gourmets: 5 Sterne

„Maybe that’s what the world needed. A bit of shaking up“

These things are happening all at once. These things are one thing. They are the inevitable result of all that went before. The power seeks its outlet. These things have happened before, they will happen again.

Bei den jungen Frauen beginnt es zuerst, es beginnt plötzlich und überall auf der Welt: Sie können Impulse aus ihren Körpern senden, wie Elektrizität, sie können Funken sprühen lassen und Schmerzen zufügen. Sie können töten. Und diese Macht, die die jüngeren in den älteren erwecken, lässt das jahrtausendealte Gefüge kippen: Mit einem Mal sind die Frauen den Männern überlegen. Es dauert nicht lange, bis sie ihre neue Gabe nutzen, bis sie sich auflehnen und aufbegehren, sich wehren und die Ketten sprengen, in die das Patriarchat sie gelegt hat. Weltweit bricht eine nie dagewesene Revolution los, Frauen vereinen sich, befreien sich, stürzen Regierungen, beseitigen Diktatoren, zerstören Sexsklaven- und Menschenhandelringe, helfen einander. Aber sie tun, und das macht diesen Roman so clever, nicht nur Gutes, bei Weitem nicht, sie betreiben Missbrauch mit ihrer neuen Macht, setzen sie gegeneinander und gegen Männer ein, sie quälen aus Spaß, sie morden, sie vergewaltigen. Und die Frage ist: Ist es nicht letztlich egal, wer wem überlegen ist, verleitet eine Machtposition nicht automatisch dazu, die Schwächeren zu unterdrücken, kann es denn jemals Frieden geben zwischen den Geschlechtern?

Chapeau, Naomi Alderman, für dieses unglaublich schlaue Buch, das mich massiv beeindruckt hat. Ich habe es weggesuchtet, hatte mehrfach – trotz 30 Grad am Strand – Gänsehaut und fand es unglaublich spannend. Ich liebe Bücher, die nicht das gewöhnliche 08/15-Setting haben, das mich als Vielleserin anödet, sondern die etwas Neues wagen, hinter denen eine echte Überlegung steckt, eine Idee. Und in diesem Fall wird diese Idee auch noch ebenso intelligent wie konsequent umgesetzt. Das beginnt mit E-Mails, die man sich zuerst nicht erklären kann und die erst am Ende des Buchs Sinn ergeben – und war für ein smartes, geniales Ende das ist! –, es geht weiter mit Zeichnungen und Abbildungen zwischen den Kapiteln, die aus einem Buch über Archäologie stammen könnten, auch das erklärt sich erst am Schluss, und ach, es ist einfach wunderbar. Ich mag es, wenn etwas derart durchdacht ist. Nicht nur wegen der Einschübe und des Endes, sondern wegen der gesamten Umsetzung: Da kommen Frauen vor, deren Gabe nicht so funktioniert, wie sie sollte, Menschen, die sowohl Männer als auch Frauen sind, da bedient sich die Werbeindustrie sofort der neuen Ordnung, da entstehen neue Sexspielarten und ein neuer Sprachduktus, der mit der Machtverschiebung einhergeht. Das sind kleine, aber wichtige Details, die dafür sorgen, dass alles rund und glaubwürdig wird. Naomi Alderman erzählt aus verschiedenen Perspektiven und über mehrere Jahre, nicht nur Frauen kommen zu Wort, auch ein Mann, aus ihren Sichtweisen wird die Veränderung beleuchtet, die die Welt verändert, dieser Erdrutsch, der alles ins Wanken bringt.

Teilweise finde ich das Ganze etwas zu gott- und religionslastig, aber gut, so waren die Menschen immer schon, sobald sie sich etwas nicht erklären konnten, haben sie einen Gott bemüht, einen Gott kreiert:

It is a gift. Who is to say it does not come from God?

Und ich habe mich gefragt: Wo will sie hin mit dieser Geschichte, wie kommt sie aus dieser Sache wieder raus? Der Schluss ist auf den ersten Blick merkwürdig, gewöhnungsbedürftig, auf den zweiten jedoch die einzig logische Möglichkeit. Und das macht das Buch umso besser für mich: Naomi Alderman behauptet nicht, dass alles gut wird, sobald die Frauen an die Macht kommen. Ganz im Gegenteil. Unbedingte Leseempfehlung!

The Power ist auf Deutsch unter dem Titel Die Gabe erschienen bei Heyne (ISBN 978-3-453-31911-0, 480 Seiten, 16,99 Euro).

 

Für Gourmets: 5 Sterne

„Es gibt so viele Sorten Traurigkeit, wie es Lebensstunden gibt“

Du fragst mich, ob ich irgendetwas über die Liebe weiß. Die Wahrheit ist: Ich weiß nichts darüber. Obwohl ich sie kennengelernt habe. Keiner weiß etwas über die Liebe. Und doch haben sie die allermeisten schon erlebt. Die Liebe kommt und geht, und man kennt sich vorher nicht aus, und man kennt sich nachher nicht aus, und am allerwenigsten kennt man sich aus, wenn sie da ist.

Das schreibt die Mutter ihrem Sohn Franz, der achtzehnjährig von zuhause, einem kleinen Ort am Attersee, nach Wien geht, um eine Lehre zu machen in einer Trafik. Über die Liebe will Franz wissen, was es zu wissen gibt, weil er sich verliebt hat zum ersten Mal und fast eingeht daran. Hinterrücks überfallen hat sie ihn, die Liebe, mitten im Prater war das, und jetzt kann Franz an nichts anderes mehr denken als an ein rundes böhmisches Mädel. Nicht nur die Mutter fragt er um Rat, sondern auch den Professor, niemand Geringeren als Sigmund Freud, den er in der Trafik kennenlernt. Auch der kann ihm nicht weiterhelfen, weil man die Liebe ganz allein aushalten muss. Bald schon gibt es ohnehin andere Nöte, weitaus gewichtigere Nöte, die den Professor, den Trafikanten und Franz selbst beschäftigen: Die Nationalsozialisten kommen an die Macht, die Stadt ist in Aufruhr, das ganze Land ist in Aufruhr, und noch ahnen sie nicht, in welcher Gefahr sie sich befinden.

Robert Seethaler kann etwas, das nicht viele können: Er erzählt mit einer beneidenswerten Leichtigkeit. So easy hört sich das an, so fließend, dass man gar nicht merkt, dass es da um die großen, um die größten Themen überhaupt geht, um die Liebe, um den Tod, um den beginnenden Holocaust. Alles kann er erzählen, alles, ohne dass es schwer zu sein scheint, und deswegen mag ich ihn so. Ich hab schon einiges gelesen von diesem Autor, der zu Recht von Kritikern wie Lesern geliebt und mit Preisen bedacht wird, dieser Titel hat mir bislang noch gefehlt. Und vielleicht, ich kann mich nicht entscheiden, vielleicht ist es sein bester. Weil meine österreichische Seele schon auf den ersten Seiten gelächelt und sich aufgehoben gefühlt hat. Weil Sigmund Freud lebendig wird und man denkt: Ja, doch, das könnte so passiert sein, warum denn auch nicht. Weil die Briefe zwischen Franz und seiner Mutter so bodenständig und simpel, dabei jedoch so tiefgehend sind, dass ich mich frage, wie es möglich ist, dass ein Autor eine solche Kunst beherrscht. Weil Robert Seethaler so wenig Worte braucht, um so viel zu sagen. Weil es ein Buch ist, von dem ich mir wünsche, ich hätte es selbst geschrieben.

Und am Ende hatte ich Tränen in den Augen.

Vielleicht könne man da und dort ein Zeichen setzen, hatte der Professor gesagt, ein kleines Licht in der Dunkelheit, mehr könne man nicht erwarten.

Der Trafikant von Robert Seethaler ist als Taschenbuch erschienen bei Kein & Aber (ISBN 978-3-0369-5645-9, 256 Seiten).

 

Bücherwurmloch

Vor einer Weile habe ich spontan dazu aufgerufen, unter dem Hashtag #büchermeer Bücher mit dem Wort MEER im Titel zu posten, und ich hatte nicht gedacht, dass das schwierig sein könnte, ganz im Gegenteil: Ich war gerade am Meer, im Urlaub, am Strand, am Wasser, mir war das alles so präsent, Bücher sind mir auch gleich ein paar eingefallen, und dann haben die Leute geschrieben: Ich grüble und suche und finde nichts. Viele haben dennoch mitgemacht, haben schöne, kuriose, traurige Bücher gezeigt, die am Meer spielen, da waren wunderbare Titel dabei und auch solche, die ich noch nicht kannte.

Das Thema hat mich nicht ganz losgelassen. Bücher, die das Wasser zum Inhalt haben, vielleicht auch im Titel haben, wie viele besitze ich selbst davon eigentlich? Ist das Meer wirklich nicht so stark vertreten in Romanen? Wieder zuhause aus dem Urlaub, hab ich mich ebenfalls daran gemacht, mein Regal zu durchforsten: 35 Titel habe ich gefunden, die mit Schwimmen zu tun haben, die das Meer als Kulisse haben oder im Titel, immerhin mehr als ein Zehntel all meiner Bücher, vielleicht ja doch nicht so wenig. Und hier sind sie. Sie sind alle gut, sonst hätte ich sie nicht mehr hier. Sie sind, wenn ihr noch eine Reise ans Meer vor euch habt, vielleicht empfehlenswert als Urlaubslektüre, sie sind aber auch lesenswert, wenn ihr zuhause bleibt, im Garten, auf dem Balkon, mit den Füßen im Wasser oder mit einem Glas in der Hand.

Herman Koch: Sommerhaus mit Swimmingpool
Yann Martel: Life of Pi
Dina Nayeri: A teaspoon of earth and sea
Albert Sánchez Pinol: Im Rausch der Stille
Kerstin Ekman: Geschehnisse am Wasser
Tojne Heimans: Irrfahrt
Juli Zeh: Nullzeit
Nicola Keegan: Swimming
Margaret Mazzantini: Das Meer am Morgen
Sina Pousset: Schwimmen
Roy Jacobsen: Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte
Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße
Mathias Jügler: Raubfischen
Ernest Hemingway: The old man and the sea
Roy Jacobsen: Weißes Meer
Silvia Overath: Robbe schwimmt rückwärts
Ruth Cerha: Bora. Eine Geschichte vom Wind
Carla Guelfenbein: Nackt schwimmen
Marco Balzano: Damals, am Meer
Tor Even Svanes: Ins Westeis
John von Düffel: Wassererzählungen
Alessandro Baricco: Oceano mare
John Irving: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker
John Griesemer: Rausch
Nicol Ljubic: Meeresstille
Katharina Hartwell: Das fremde Meer
Yoko Ogawa: Schwimmen mit Elefanten
Zsuzsa Bánk: Der Schwimmer
Francesca Melandri: Über Meereshöhe
Ian McGuire: Nordwasser
Sarah Kuttner: 180° Meer (nicht im Bild)
Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen (nicht im Bild)
Carmine Abate: Zwischen zwei Meeren (nicht im Bild)
Annika Reich: 34 Meter über dem Meer (nicht im Bild)
Favel Parrett: Der Himmel über uns (nicht im Bild)

Und hier sind noch 9 Titel, die ebenfalls mit dem Meer oder Wasser zu tun haben, die ich gelesen habe, die allerdings nicht mehr in meinem Regal stehen:
Kathrin Gross-Striffler: Ans Meer
Josh Weil: Das gläserne Meer
Catherine Poulaine: Die Seefahrerin
Edgar Rai: Etwas bleibt immer
Matt Bondurant: The Night Swimmer
Claudie Gallay: Die Brandungswelle
Natasa Dragnic: Jeden Tag, jede Stunde
Caterina Bonvicini: Das Gleichgewicht der Haie
Majgull Axelsson: Eis und Wasser, Wasser und Eis

Bücherwurmloch

9 Tage, 10 Bücher: Das ist die Bilanz meines Sommerurlaubs 2018. In den Urlaub nehme ich seit vielen Jahren ausschließlich Taschenbücher und dadurch automatisch Backlist-Titel mit, wegen des Gewichts natürlich, aber auch, weil ich da oft die Zeit nutzen möchte, um endlich mal wegzulesen, was sich im Regal angesammelt hat. Auch englische Titel packe ich ein, ebenfalls im Taschenbuchformat, weil ich die nicht so schnell lesen kann und mich sozusagen selbst austricksen will. Diesmal waren nur vier der zehn Titel von Autoren, die ich nicht kannte, die anderen sechs sozusagen Wiederholungstäter. Das ist ungewöhnlich für mich, die ich ja eigentlich eine Ein-Buch-pro-Autor-Politik verfolge. Und habe ich das bereut? Aber ja. Sehr sogar.

10 Bücher also, und wie viele davon mochte ich? Zwei. Nur zwei! Aber immerhin zwei. Typisch Mariki, denkt ihr wohl, die Alte motzt ja immer, die ist nie zufriedenzustellen, und da habt ihr Recht. Die gelesenen Urlaubstitel sind von unten nach oben in ihrer Reihenfolge geordnet:

Applaus für Bronikowski von Kai Weyand hat mich positiv überrascht, das ist eine nette, kuriose kleine Geschichte. Nicht viel Tiefgang, aber auch nicht zu oberflächlich, mit einem Protagonisten, der seltsam genug ist, um interessant zu sein. Er arbeitet in einem Bestattungsinstitut, und was ihm da so zustößt bzw. einfällt, ist kurzweilig zu lesen.

The Power von Naomi Alderman ist GROSSARTIG! Ein originelles, smartes, durchdachtes Buch, das mich absolut gefesselt hat, ich konnte es nicht weglegen. Was für eine Story und vor allem: was für ein Ende! Dazu wird es demnächst einen eigenen Beitrag geben.

Der Hals der Giraffe von Judith Schalansky fand ich gut, aber gar nicht so gut, wie alle gesagt haben. Ich mochte das Zynische, das Nüchterne daran, diese ausgebrannte Abgeklärtheit einer alternden Lehrerin, diesen endlosen Monolog über die Dummheit der Schüler, über ihre Grenzen und auch die eigenen. Generell ist mir nur einfach zu wenig passiert in diesem Buch, ich hab gewartet, dass die Handlung in die Gänge kommt, und das tut sie nicht, dass Gefühle entwickelt werden, wie der Klappentext ankündigt, dass es es gewisse Einfälle gibt, die es aber eben nicht gibt. Ja, ein kluges, sehr lesenswertes Buch, wenn auch nicht so sensationell wie erwartet.

Hausaufgaben von Jakob Arjouni hat mich regelrecht geärgert: Was für ein erstaunlich dummes und vor allem widerwärtiges Buch! Ich finde ja generell Romane über Inzest ein bisserl grauslich, eh klar, wer nicht, aber wenn dieser Missbrauch derart abgeschmackt und entschuldigend dargestellt wird wie in diesem Buch, macht mich das wütend. Eine dämliche, sinnlose, eklige Geschichte ohne jegliche Entwicklung. Und das ist nach Cherryman jagt Mr. White und Chez Max, die beide gut waren, nur umso unverständlicher.

Der Trafikant von Robert Seethaler war ein Buch, das ich lange schon lesen wollte, weil ich Seethaler sehr mag und dieses eine noch nicht kannte. Es geht um einen jungen Kerl darin, der ins Wien des beginnenden Nationalsozialismus kommt, es geht um seine erste Liebe und um seine Freundschaft zu Sigmund Freud, um Mut geht es und darum, ein Zeichen zu setzen, sei es auch noch so klein. Ein grandioses, stilles und dabei so berührendes Buch, auch dazu werde ich noch gesondert etwas schreiben.

The English teacher von Lily King hat mich außerordentlich fadisiert. Und das ist ein Drama, weil ich Vater des Regens sowie Euphoria von dieser Autorin genial fand, zwei gefühlvolle, unkitschige, ausgezeichnete Bücher. Ich sollte es endlich mal lernen und dabei belassen, ich sollte nicht noch was vom selben Autor lesen, wenn ich schon was mochte. Dieser Roman, den sie davor geschrieben hat, ist einfach nur langweilig: Eine Mutter lebt mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn auf dem Campus der Schule, an der sie unterrichtet, einen Vater gibt es nicht, und als sie heiratet, geschieht das nicht aus Liebe und auch aus keinem anderen Grund. Das ist alles recht merkwürdig und unverständlich, es geschieht auch sehr wenig, und die Erklärung für ihr Verhalten, die am Ende noch schnell serviert wird, ist derart vorhersehbar und klischeehaft, ich war wirklich enttäuscht.

Wo drei Flüsse sich kreuzen von Hannah Kent war okay. Nicht besonders herausragend, aber schlecht auch nicht, kann man schon lesen, wenn man möchte. Die Autorin, die sich mit dem historischen Irland bestens auskennt, erzählt darin von einem Kind mit Behinderung, das die unwissenden, abergläubischen Menschen für ein Feenkind halten und dem sie die Fee austreiben wollen. Das ist gut geschrieben, allerdings frei von Überraschungen und interessanten Wendungen. Burial Rites derselben Autorin fand ich um Welten besser.

They both die at the end von Adam Silvera war ein Spontankauf, ich habe es mitgenommen, weil ich den Titel so originell fand. Es ist ein Jugendbuch mit folgender Story: Zwei Achtzehnjährige bekommen eines Nachts den Anruf, den jeder fürchtet, sie werden darüber informiert, dass sie innerhalb der nächsten 24 Stunden unweigerlich sterben. Über eine App namens Last Friend finden sie zusammen und versuchen, so viel Leben wie möglich in die Zeit zu stopfen, die ihnen noch bleibt. Das ist eine coole Idee, finde ich, gut geschrieben ist es auch, wenn natürlich eher leicht und nicht gerade raffiniert. Die Botschaft, sein Leben zu leben, weil man nie weiß, wann es zu Ende ist, ist mir zu aufdringlich, aber das liegt freilich in der Natur der Sache.

Das Museum der Stille von Yoko Ogawa ist ebenfalls ein Buch, bei dem ich dachte: Das hättest du dir sparen können, Mareike, du hast schon drei wirklich gute Titel von Ogawa gelesen, war das nicht genug? Offenbar nicht, und dann kam dieses hier, und ich fand es blöd. Richtig blöd, nicht so poetisch, schön und entspannend wie die anderen, wie etwa Der Herr der kleinen Vögel und Das Geheimnis der Eulerschen Formel. Die Idee mit dem Museum voller Erinnerungsstücke von Verstorbenen, die gefällt mir sehr, doch die alte Protagonistin ist immer nur am Schimpfen und zerstört den Zauber, die Morde erscheinen mir absolut unglaubwürdig und vor allem sinnlos, der Ich-Erzähler ist kaum greifbar und bis zum Ende blass. Schade!

Der Klang der Trommel von Louise Erdrich hat mir ebenfalls wieder mal vor Augen geführt, dass nicht jeder Roman einer Autorin, die ich vergöttere, mir gefällt. Wie sehr habe ich Das Haus des Windes und Ein Lied für die Geister geliebt! Dann beginne ich diesen Backlist-Titel und denke schon nach wenigen Seiten: Ich kotz gleich. Emotionslos, langweilig, ohne den einmaligen Zauber, den die anderen Bücher haben, erstaunlich belanglos. Nein, einfach nur nein.

 

Für Gourmets: 5 Sterne

„Der Welt, der war das egal“
Ihr müsst wissen, ich glaube nicht an die Menschheit. Ihr müsst wissen, ich hasse die Menschen, ich bin zutiefst enttäuscht von ihnen, jeden Tag aufs Neue enttäuschen sie mich, ich bin voller Wut und Traurigkeit und Resignation. Und das ist kein Misanthropie-Statement als trendige Modeerscheinung, ganz im Gegenteil, so geht es mir, seit ich ungefähr vierzehn bin, und es ist nicht schön. Es ist schrecklich, es tut weh. Nur sehr selten begegne ich jemandem, der mich versteht. Meistens bekomme ich zu hören: „Jetzt tu doch nicht so“, oder: „Es gibt ja auch Gutes“, und: „Das meinst du doch nicht ernst.“ Ich wünschte, es wäre so, ich würde gern glauben, dass es Gutes gibt, ich würde das gern nicht ernst meinen, aber wie, ich frage euch, wie soll das gehen, wenn die Menschen gierig sind und grausam, wenn sie einander abschlachten und verhungern und ertrinken lassen, wenn sie einander ausbeuten und verraten und keine Gnade kennen, niemals. Es gibt keine Selbstlosigkeit auf dieser Welt, kein Teilen, keinen Zusammenhalt, es gibt keine Hoffnung.

Dann hat mir jemand etwas geschenkt mit einem Zitat aus diesem Buch darin, und ich kann kaum ausdrücken, wie sich das angefühlt hat. Es war, als hätte derjenige gesehen, wie ich bin und warum, hätte mir ins Innerste geschaut und mich erkannt. Aber ohne darüber zu urteilen, ohne mir zu sagen, wie ich doch eigentlich zu denken habe. Ich habe mich zutiefst erschrocken. Und ich wollte dieses Buch lesen, unbedingt. Jetzt, im Nachhinein, bereue ich das ein wenig, weil es meinen Menschheitshass so sehr befeuert hat. Weil es mich zum Weinen gebracht hat, aber nicht, wie ihr vielleicht denkt, zwei, drei stille Tränen der Rührung, nein. Ich habe geschluchzt und richtig geheult, ich habe gedacht: Ich ertrage das nicht, nie im Leben ertrage ich das.

Und doch bin ich froh, dass ich es gelesen habe, weil Sibylle Berg eine Meisterin ist, ein Genie, ich verneige mich tief vor ihr. Nur sie kann mit einem derart nüchternen, klaren Blick auf die Menschheit schauen und beschreiben, wie sie funktioniert, wie sie ausgrenzt und verlacht, wie sie tötet, manchmal schnell, mit gezielten Hieben, manchmal langsam, mit Liebesentzug und Ignoranz. Sie kann das mit Worten, die treffend sind und die einzig richtigen, sie kann das mit Sätzen und Bildern, die die Welt zeigen in all ihrer Düsternis und Lieblosigkeit.

Du blödes kleines Leben, mit deinem Geruch nach allem möglichen, nach Erde und Holunder, oder nach Wasser auf sonnenheißen Steinen, und das ist nun bald alles weg, und unschuldig ist doch keiner gewesen. Du kurzes kleines Leben, in dem es keinem gelingt herauszufinden, wie man dich ohne Schaden übersteht, du einzige Kränkung, du einziges Vorführen der eigenen Unwichtigkeit, da empfindet doch keiner Respekt für all die Anstrengungen und die Schläge und die Krankheiten und die Ängste.

Es geht um einen Menschen in diesem Buch, der Toto heißt, der nicht Mann ist und nicht Frau, der dick ist und vielleicht nicht schön, wenn man denn Schönheit überhaupt definieren kann, der singen kann oder womöglich auch nicht, und ist das wichtig? Ist es bedeutsam, wie Toto aussieht, was Toto kann, sollte Toto nicht einfach geliebt werden, so, wie Toto ist? Niemand, wirklich niemand liebt Toto, ein ganzes Leben lang nicht, nirgends, sie finden Toto abstoßend, lachhaft, es gibt kein Licht für Toto, keinen einzigen leuchtenden Augenblick.

Vielen Dank für das Leben ist grausam und authentisch und echt, es ist traurig, unfassbar traurig, es ist schwarz und scharf und klug und pointiert. Es ist, wie die Menschen sind: gnadenlos. Und es tut weh.

Vielen Dank für das Leben von Sibylle Berg ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-14341-7, 400 Seiten, als Taschenbuch 9,90 Euro).