Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

HustvedtEin nachdenkliches Buch
Vor Jahren habe ich mir Siri Hustvedts What I loved zu Gemüte geführt und es sehr gemocht, ein kluges und trauriges Buch. Ich muss gestehen, dass ich Hustvedt lieber lese als ihren Mann Paul Auster, ich mag ihren Stil, der sehr klar ist und nachdenklich. Ab und zu schweift sie für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr ins Überintellektuelle ab. Vielleicht ist das ein New Yorker “Must”? Da es sich aber in Grenzen hält, kann ich es verschmerzen – wie in The Sorrows of an American, in dem der Psychiater Erik in der Ich-Form von seinen Patienten, seiner Schwester Inga und seiner Nichte Sonia, seinem verstorbenen Vater Lars und seiner Untermieterin Miranda, in die er sich verliebt, erzählt.

Im Nachlass findet Erik Tagebücher und Notizen seines Vaters sowie einen mysteriösen Brief einer gewissen Lisa. Um sich seinem Vater näher zu fühlen, liest Erik dessen Aufzeichnungen über das Leben auf einer Farm und die Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg, und er sucht mit Inga nach jener Lisa. Die Familie stammt ursprünglich aus Norwegen. Inga hat mit eigenen Problemen zu kämpfen: Ihr Mann, der Schriftsteller Max, ist gestorben, sie vermisst ihn sehr. Und dann ist da noch die Jamaikanerin Miranda mit ihrer Tochter Eglantine, die Erik immer mehr bewusst machen, wie einsam er ist.

The Sorrows of an American ist ein leises, vorsichtiges Buch über Liebe und Verlust, über den Kampf mit der Vergangenheit und gegen die Einsamkeit. Siri Hustvedt schreibt sehr bedacht und selten ohne Hintergedanken, sie lässt ihre Protagonisten viel grübeln und viel fühlen. Inhaltlich ist die Geschichte nicht unbedingt preiswürdig, aber sie ist gut erzählt, gut strukturiert und gut recherchiert. Hier geht es mehr um die Sprache, um das Einfühlen in die Figuren, um das Mitleiden mit ihnen. Mir hat es richtig gut gefallen, das ist genau mein Geschmack.

Lieblingszitat: That is the strangeness of language: it crosses the boundaries of the body, is at once inside and outside, and it sometimes happens that we don’t notice the threshold has been crossed.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

DonovanEine fesselnde Geschichte um Einsamkeit und Rache
Als besondere Empfehlung einer befreundeten Leseratte ist dieses Buch bei mir gelandet: Und ich wusste gar nicht, was ich erwarten sollte außer Schnee und Einsamkeit. Davon gibt es auch eine Menge in diesem abgeschiedenen Wald in Maine: Hier lebt Julius Winsome in einer einsamen Hütte, zusammen mit seinem Hund Hobbes und über 3000 Büchern, die ihm sein Vater vererbt hat. Sein ganzes Leben hat Julius bereits in dieser Hütte verbracht, er kennt den Wald, er kennt den Himmel, die Tiere, die Jäger. Er ist ein friedfertiger und belesener Mann. Doch als Hobbes erschossen wird, ist es mit Julians Friedfertigkeit vorbei. Er spürt plötzlich ein völlig neues Gefühl. Das Bedürfnis nach Rache.

Es überrascht mich selbst, dass ich Donovan seine Geschichte aus dieser fast menschenleeren Ödnis glaube. Es gelingt ihm auf verblüffende Weise, aus seinem Protagonisten einen kaltblütigen Killer zu machen, ohne dass man als Leser die Sympathie für ihn verliert. Autor und Leser stehen auf der Seite des Mörders. Das macht aus diesem Roman eine spannende und faszinierende Studie einer methodischen Racheaktion. Und hinter allem steht die Liebe, unabhängig von ihrer Form. Schön sind auch die eingebundenen Hinweise auf die Literatur, mit der sich Julius vor der Kälte schützt. Und der Autor hat gut recherchiert: Informativ und gleichzeitig nicht uninteressant schreibt er vom Krieg, vom Schießen, vom Jagen, vom Töten. Geschickt dehnt er die fesselnden Momente durch Einschübe mit allgemeinen Informationen.

Winter in Maine ist ein gnadenloses, ein originelles und sehr eindrucksvolles Buch. Die unglaublichen Ereignisse in der Ruhe der Abgeschiedenheit entwickeln einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann, der zum Weiterlesen zwingt. Und man muss nachdenken über diese Geschichte, ob man will oder nicht. Sehr lesenswert!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

HuxleyÜberraschend sarkastischer Klassiker
In meiner Schulzeit haben wir uns im Deutschunterricht mit nichts beschäftigt, auf dem nicht Goethe oder Schiller stand, trotzdem hatte ich natürlich schon das eine oder andere über Brave New World gehört und wusste, worum es geht: Überrascht hat mich dennoch der wunderbar zynische Ton des Buchs, das eine albtraumhafte, ins Extreme verzerrte Zukunft entwirft. Denn in dieser Zukunft leben nur gezüchtete, herankonditionierte und perfekt manipulierte Menschen, die alles miteinander teilen, niemals krank sind, immer jung und schlank bleiben und brav kosumieren. Dies ist das Bild einer Gesellschaft, wie sie sein könnte, würden alle Bestrebungen um Konsum, Jugendwahn und Konfliktlosigkeit bis an ihr Ende verfolgt werden.

Natürlich gibt es einen, der sich nicht so recht einfügen mag ins Kollektiv, Bernard Marx, ausgebrütet als Alpha-Plus, passt nicht ins Schema. Er findet kein Vergnügen an der Droge Soma und auch nicht am Jeder-mit-jedem-Sexleben, er hat Sehnsucht nach Gefühlen, er will etwas spüren. Mit Lenina Crowne, einem braven Beta-Mädchen, angepasst und glücklich, reist er in ein Reservat, in dem noch echte Menschen leben, die – oh my Ford – Eltern haben, eine Mutter, einen Vater, echte Wilde, die an einen Gott glauben und heiraten. Dort lernen sie den jungen John kennen, der im Reservat aufgewachsen ist und noch eher dem gleicht, was wir unter einem Menschen verstehen. Er ist das Gegenstück zur sogenannten Zivilisation – und als er die schöne neue Welt betritt, nimmt das Drama, wie könnte es anders sein, seinen Lauf.

Es ist wohl gleichgültig, zu welcher Zeit man Brave New World liest – man findet stets genügend erschreckende Parallelen zur momentanen Gesellschaft. Aber Huxley drückt dem Leser nicht einfach nur moralisch-ethische Ansichten aufs Aug, er erzählt auch eine Geschichte und präsentiert eine rasante Handlung. Natürlich regt dieses Buch zum Nachdenken an, geschickt stellt Huxley die beiden Positionen “unglücklich, aber frei” und “konditioniert, aber sorglos” einander gegenüber. Was wollen wir? Ein Leben, das wir getreu nach Richtlinien, Medien und Konsumgedanken leben in einer künstlichen Welt ohne Bücher und ohne Blumen? Oder die Einsamkeit der Willensfreiheit, der Fehlentscheidungen, in einer Welt voller Gefühle, Farben und echter Erlebnisse? Brave New World ist völlig zu Recht ein Klassiker, den man gelesen haben sollte.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

GallowayMitten im Krieg spielt einer Musik
Es herrscht Krieg in Sarajewo, die Stadt ist belagert von Scharfschützen, die nach Belieben erschießen, wer ihnen vors Gewehr läuft. Das Leben der Menschen hat nichts mehr gemein mit einem normalen Alltag – ihre Stadt ist zerbombt und zerrissen, sie haben kein Wasser, keinen Strom. In dieser Situation geschieht es, dass ein Cellist sich jeden Tag um Punkt 16 Uhr hinaus setzt auf die Straße und ein Adagio spielt, 22 Tage lang, zum Gedenken an 22 getötete Menschen. Er schert sich nicht um die Gefahr, in die er sich begibt. Es ist ihm nichts mehr geblieben, worum er fürchten könnte.

Überraschend an The Cellist of Sarajevo ist, aus welchen Perspektiven Steven Galloway seine erschütternde Geschichte erzählt: Obwohl er im Mittelpunkt der Ereignisse steht, ist der Cellist selbst eher eine Randfigur. Der Autor lässt Kenan berichten, der sich auf den Weg macht, um für seine Familie Wasser zu holen – und was so einfach klingt, ist in Wahrheit eine Reise ins Ungewisse, von der er nicht weiß, ob er sie überleben wird. Wir folgen Dragan durch die zerstörte Stadt, er ist auf dem Weg zur Bäckerei, viele Kilometer liegen vor ihm, und wo die Scharfschützen lauern, die seinem Marsch ein Ende setzen könnten, kann er nur ahnen. Arrow dagegen ist eine junge Frau, die sich der Verteidigung der Stadt verschrieben hat – sie tötet die “Männer auf den Hügeln”, welche die Stadt belagern. Und weil sie die Beste ist, wird sie für eine bestimmte Aufgabe auserwählt: Sie muss den Cellisten beschützen.

Dass Steven Galloway nie emotional oder gar sentimental wird, macht dieses Buch umso ergreifender. Durch die Augen der Menschen, die ihr Leben lang in Sarajewo gewohnt haben und die Stadt lieben, macht er den Kriegszustand, die Trauer, die Wut greifbar, er bricht die Kriegshandlungen herunter auf das tägliche Leben in einer belagerten Stadt – in der ein Schritt vor die Tür den Tod bedeuten kann. Es gibt keine Politik, keine Fronten, keine Erklärungen in diesem Buch, die Handlung ist davon freigeschält – nur die “Männer auf den Hügeln” sind übrig und der Hass. Denn die Umstände dieses fiktiven Romans sind nicht erfunden – selbst den Cellisten hat es wirklich gegeben. Einziger Minuspunkt ist, dass er entgegen der Erwartungen keine eigene Rolle bekommt, sondern an ihm nur die Fäden zusammenlaufen. Davon abgesehen ist The Cellist of Sarajevo ein sehr beeindruckendes, sehr trauriges, sehr empfehlenswertes Buch.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein Epos, ein Erguss, ein Ereignis 
Man denkt ja gerne mal von sich, dass einen kaum noch etwas überraschen kann. Aber dieses Buch … das hat mich überrascht, ist mir im Kopf herumgespukt, hat mich tagelang nicht losgelassen. Und ich versuche immer noch zu ergründen, warum. Empfohlen und geliehen hat es mir eine Freundin, die schon von der Sogwirkung des Romans berichtet hat. Zum einen fällt da der Ton dieses Buchs auf, der so heiter daherkommt und doch heißen Zynismus durchblicken lässt. Und dann ist da der geschickte Aufbau, der manches andeutet, erst später erklärt und den Leser ganz zum Schluss verstehen lässt – so, wie es sein soll. Was aber macht diese unglaubliche Faszination von Vernimm mein Flehen aus?

Wir sind in Kanada und es ist das ausgehende 19. Jahrhundert, als James die Libanesin Materia – ein Kind noch, nicht einmal 13 Jahre alt – heiratet. Doch die Liebe der beiden verblüht schneller als eine Margerite, James konzentriert sich auf die wunderschöne und begabte Tochter Kathleen, aus der eine große Sängerin werden soll. Der Erste Weltkrieg kommt, Materia entfernt sich immer mehr von der Welt und verliert sich in arabischen Erinnerungen. Sie bekommt mit James zwei weitere Töchter, Mercedes und Frances. Später kommt dann noch die kleine körperbehinderte Lily dazu. Sie ist es, die diese Familie nach all den Tragödien, die ihr zustoßen, zusammenhält, denn James, Mercedes und Frances stellen jeder ihr Leben – bewusst oder unbewusst – in den Dienst der kleinen, friedfertigen Lily.

In den Bann ziehen zum einen der Inhalt der Geschichte, die alles in sich vereint, was eine Familie an Ereignissen bieten kann und auch Tod und Selbstmord als normal mit einbezieht, zum anderen das geheimnisvolle Kichern, das hinter jedem Satz zu stecken scheint. Ann-Marie MacDonald benutzt aufregende, nie gehörte Metaphern, sie lässt Erinnerungen schimmeln und wechselt mit den Verben sätzeweise zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sie würzt das alles mit arabischen Ausdrücken ohne Erklärung und steckt die Geschichte in das Korsett des katholischen Glaubens, der allein immer für Mystisches gut ist. Vernimm mein Flehen ist so angefüllt mit überraschenden Wendungen, dass man nie weiß, was im nächsten Kapitel auf einen zukommt – das übt einen richtigen Zwang auf mich aus, bräuchte ich nicht Schlaf, ich würde die ganze Nacht weiterlesen. Dieses Buch ist ein dermaßen überschwemmender verbaler Erguss, dass ich mich frage, ob in der Autorin eigentlich noch ein einziger Gedanke übrig geblieben ist. Von den üblichen, generationenumspannenden Familienromanen ist dieses Buch weit entfernt, es gleicht einem langen, verstörenden Traum, in dem einfach alles möglich ist … und logisch erscheint. Dieser Roman ist eine Zumutung – und extrem lesenswert.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Rätselraten auf hohem Niveau
Damals, als ich Krimis noch mochte und las, war ich ein großer Fan von Elizabeth George – sie war (und ist!) in meinen Augen eine der besten Krimiautorinnen überhaupt. Mit 18 habe ich in Englisch mündlich über ihre Bücher maturiert – man könnte also sagen, wir haben eine ganz besondere Beziehung. Besonders atmosphärisch werden ihre Bücher dadurch, dass sie auch sämtliche Nebenpersonen in die aufwändigen Plots einspinnt. Da die komplexen Beziehungsstrukturen der Protagonisten in allen Romanen weitergeführt werden, sollte man unbedingt mit dem ersten (und einem der besten) Teil (A great deliverance) der Serie beginnen.

Dass es diesen Teil – ich habe das Zählen längst aufgehört, glaube aber, dass es der 15. ist – überhaupt geben wird, daran habe ich wirklich gezweifelt. Zuvor (in With no one as a Witness) hat George ihrem Inspektor Lyney alles angetan, was sie ihm überhaupt nur tun konnte, sie hat ihn systematisch zerstört und es war nicht klar, ob er wieder aufstehen würde. Was also kann sie tun mit einer so völlig nackten Figur, der sie alles genommen hat? Sie lässt ihn gehen, er wandert, ungewaschen, ungepflegt, ohne Geld, ohne Ausweis, ohne Plan, entlang der Südwestküste Englands. Und dort – wie könnte es anders sein – wird er zurückgeworfen auf seine Bestimmung, denn er findet eine Leiche. Es handelt sich dabei um den 18-jährigen Santo Kerne, der beim Klettern abgestürzt ist. Schnell stellt sich heraus, dass das – surprise – kein Unfall war.

Während Lynley mit den Erinnerungen an sein eigentliches Leben, an seine Liebe, kämpft, sucht Polizistin Bea Hannaford nach dem Mörder. In feinster Krimimanier bietet George eine ganze Palette von Verdächtigen: Da wären Santos Eltern, aneinander gekettet durch eine krankhafte Hassliebe, seine Schwester, seine Exfreundin und ihr Verehrer, dann gibt es noch eine Tierärztin, die mehr verschweigt, als sie erzählt, und einen alten Mann aus der Vergangenheit. Das ist Rätselraten auf hohem Niveau, spannend und gut konstruiert. So richtig aufs Neue begeistert bin ich aber erst auf Seite 400, als endlich Barbara Havers zum Ermittlungsteam an der Küste Cornwalls stößt. Ich liebe sie abgöttisch, diese unmodische, unattraktive und unkonforme Figur, die in diesem Roman zwar nicht allzu viel zu sagen hat, aber trotzdem unverzichtbar ist.

Es gab eine Zeit, da wollte ich mir Elizabeth George abgewöhnen, weil ich überessen und ein bisschen enttäuscht war. Jetzt bin ich wieder voll dabei. Serviert mir den nächsten Gang!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

PattisonIntelligente Krimis aus Tibet
Eliot Pattisons Krimis sind mehr als spannende Romane: Sie sind eine Anklage gegen das chinesische Regime, das Tibet überfallen hat und die tibetische Kultur systematisch zerstört. Zentrale Figur seiner Krimis ist Shan, ein Chinese, ehemaliger investigator aus Beijings höchten Kreisen, der in Ungnade fiel und im tibetischen gulag landete. Man sollte bei dieser Reihe mit dem ersten Band beginnen, um den Ereignissen folgen zu können. Shan wird zwar entlassen, ist aber ein Illegaler, ein outlaw, genau wie Lokesh und Gendun, tibetische Mönche auf der Flucht vor der chinesischen Public Security. Tibet verändert Shan. Und Pattisons Bücher verändern mich. Auch dieser fünfte Teil fesselt mich und bedrängt mich dermaßen, dass ich nachts von den Ereignissen im Buch träume.

Diesmal gelangen Shan, Lokesh und Gendun in das entlegene Dorf Drango auf dem Berg des Drachen. Hier leben die Tibeter in nächster Nähe zu illegalen Bergarbeitern, die Gold aus dem Berg abbauen. Mehrere grausame Morde sind auf dem Berg geschehen – doch der Amerikaner Hostene, der vermeintliche Schuldige, war nicht der Täter. Shan soll den wahren Mörder finden – und er hat nicht viel Zeit. Eliot Pattison ist ein Meister darin, Spannung aufzubauen. Viele Geschehnisse in seinen Büchern sind roh und brutal. Gleichzeitig legt er eine Sanftheit in manche Worte, dass man Gänsehaut bekommt. Es gelingt ihm, mir eine völlig fremde Lebensweise und eine einzigartige, beinahe völlig zermürbte Kultur nahe zu bringen.

Eliot Pattison unterhält und regt gleichzeitig zum Nachdenken an. Selten hat mich ein Autor derart berührt und traurig gemacht. Lange, nachdem ich eins seiner Bücher gelesen habe, beschäftigt es mich noch. Er erhebt den Zeigefinger, natürlich, aber er tut es indirekt, indem er den Alltag der Tibeter zeigt – wie er unter der chinesischen Herrschaft ist. Ich ziehe den Hut vor seinen Büchern, weil sie mir einfach so unter die Haut gehen.

Lha gyal lo – Victory to the Gods.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

ZafonZáfon kann schreiben, das steht fest
Wenn der Erstling ein Wunderwerk war, ist der Zweitling fast immer eine schwere Geburt – in der Musik ebenso wie in der Literatur. In Spanien, so heißt es, habe Das Spiel des Engels den Schatten des Windes noch überflügelt. Záfons erstes Buch hat auch mich – wie Millionen anderer Leser, man staune – schwer begeistert. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an Das Spiel des Engels. Dass Záfon schreiben kann, wahrlich meisterhaft sogar, steht außer Frage. Schnell wird klar, dass ihm auch hier ein geschickt konstruierter, spannender Roman gelungen ist.

David Martín, Schriftsteller im Barcelona des beginnenden 20. Jahrhunderts, ist der Protagonist dieser fein gesponnenen Geschichte rund um – wie könnte es anders sein – die Liebe und den Tod. Ihm folgen wir durch die Wirren seines jungen Lebens, er leidet unter seiner Liebe zu Cristina, unter einer seltsamen Krankheit, unter dem Zwang, zu schreiben. Indem er einwilligt, für den mysteriösen Verleger Andreas Corelli ein Buch zu verfassen, geht er sprichwörtlich einen Pakt mit dem Teufel ein. Der Roman entwickelt einen ganz eigenen Sog, der mich mitzieht und fasziniert. Das Spiel des Engels ist eine spannende, solide Abenteuergeschichte. Sehr schön herausgearbeitet ist die Liebe zu den Büchern, die Notwendigkeit von Büchern als Überlebensmittel.

Záfons Zweitling ist ein wilder Mix aus historischem Roman, Krimi, Liebesgeschichte und mysthischen Elementen. Mir persönlich sind die Verwicklungen, in die Martín gerät, teilweise zu undurchsichtig und ein, zwei Fragen bleiben für mich am Ende unbeantwortet. Deshalb gibt es einen Punkt Abzug. Die alte Begeisterung von Der Schatten des Windes ist bei mir nicht so recht aufgekommen. Dennoch ist Das Spiel des Engels lesens- und empfehlenswert.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

TsujiFaszinierende Literatur aus Japan
Dieser Roman hat von Anfang an eine sogartige Wirkung auf mich – ich kann ihn nicht mehr weglegen. Schon der Titel macht es deutlich und im Buch zeigt sich bald, dass die Protagonisten warten, sie alle warten auf etwas anderes: Da ist der junge Patinierer Shiro, der darauf wartet, dass sein krimineller Bruder Jiro aus dem Koma erwacht, da ist der Drogendealer Fujisawa, der darauf wartet, dass Shiro einen mysteriösen Ranzen voller Drogen findet, dann gibt es den berühmten Regisseur Inoue, der seinen letzten Film dreht und darauf wartet, dass die Sonne genauso scheint wie an einem bestimmten Tag viele Jahre zu vor, und schließlich ist da noch Craig, ein amerikanischer Pilot, der in Hiroshima gefangen genommen wurde und darauf wartet, dass die Atombombe vom Himmel fällt.

Geschickt verbindet Hitonari Tsuji diese einzelnen Geschichten und Schicksale miteinander – so bewegt Jiro sich in seiner Welt ohne Bewusstsein in jener Vergangenheit, die auch den Regisseur Inoue immer noch quält, Shiro arbeitet gemeinsam mit Jiros großer Liebe Tomoko an Inoues Film. Die Verbindungen sind teilweise überraschend, sie lassen den Roman vielschichtig und stimmungsvoll werden. Ein großes Thema ist dabei der Krieg: jener zwischen China und Japan sowie jener zwischen Japan und Amerika. Natürlich drängt sich besonders durch die absurden Elemente der Vergleich mit Haruki Murakami auf, dem Hitonari Tsuji aber ohne weiteres standhalten kann. Zwar gibt es auch hier verschiedene Ich-Erzähler (wie bei Ondaatje), da mir aber die jeweilige Kapitelüberschrift deutliche Hinweise gibt, um wen es sich dabei handelt, stört es mich in diesem Fall überhaupt nicht. Im Gegenteil, die Handlung ist stets – trotz der abstrusen Begebenheiten – nachvollziehbar, die Sprache nicht hochliterarisch, aber klar und fesselnd. Ein sehr schönes, sehr japanisches und sehr atmosphärisches Buch.

Lieblingszitat: Ich möchte leben wie der Wind. Wie er möchte ich durch alle Länder streifen, mit dem Licht um die Wette laufen und die Welt liebkosen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Sparsame Worte mit umso größerer Wirkung
Die Frau im Mond ist ein dünnes Büchlein, die Autorin geht sparsam um mit ihren Worten. Und das macht sie gut: Sie erzählt von ihrer Großmutter, einer Sardin aus Cagliari, die für verrückt gehalten wird, weil sie anders ist, weil keiner sie heiraten will, weil sie die Liebe sucht und sich vor Verzweiflung in den Brunnen stürzt. 1943 hält ein Mann aus Dankbarkeit der Familie gegenüber um ihre Hand an. Er ist ein guter Mann, und es tut ihr sehr leid, dass sie ihn nicht lieben kann. Wegen der vielen Nierensteine in ihrem Bauch kann sie lange Zeit keine Kinder bekommen – und muss eine Kur machen. Dort trifft sie den Reduce, dort trifft sie die Liebe.

Mit wunderbarer Leichtigkeit erzählt Milena Agus die Geschichte der Großmutter, die – so erklärt es später ihre Schwiegertochter – die Familie gerettet hat, indem sie all die Unordnung auf sich genommen hat. Stellenweise fehlt mir ein bisschen die Liebe zum Detail, ich hätte gern noch mehr erfahren, mehr gelesen. Trotzdem gefällt mir dieser sparsame, reduzierte Stil, und die Geschichte selbst gefällt mir noch mehr. Die Frau im Mond ist kein hochliterarischer Roman, aber ein kleines, feines Buch, das einfach lächeln macht.

Lieblingszitat: Und die Sehnsucht ist eine traurige Sache, aber ein bisschen Freude ist auch dabei.