Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Hundert Tage im Bürgerkrieg von Ruanda
“Mein Land brauchte mich nicht, doch dort, in Afrika, war noch ein Tausendstel meines bescheidenen Wissens ein Reichtum, und diesen wollte ich teilen.” Den Schweizer  Entwicklungshelfer David Hohl treiben große Ideale an. Er geht ihm Jahr 1990 nach Ruanda, um den Menschen dort zu helfen, um etwas zu verändern. Doch schnell steht er vor einer unüberwindbaren Wand aus Bürokratie, Mentalitätsunterschieden, Korruption und Unverständnis. Nichts bewegt sich, ihm ist langweilig, er erkennt die Heuchelei hinter der vermeintlichen Entwicklungshilfe. “Die Hilfsorganisationen waren verrückt nach diesem Land, man trat sich gegenseitig auf die Füße, und es gab buchstäblich nicht einen Hügel ohne Entwicklungsprojekt. (…) Sie waren geradezu süchtig danach, auf der Seite der Opfer zu sein.” Als David sich in die schöne Afrikanerin Agathe verliebt, merkt er, wie hohl all seine Ideale sind. Die beiden können einander nie wirklich nahe kommen, Agathe interessiert sich nicht für Davids Drang, ihrem Land zu helfen – sondern nur für sich selbst. Während sich die Lage in Ruanda plötzlich verschärft, fliehen die Schweizer – doch David bleibt. Rund um ihn beginnt ein sinnloses und grausames Morden, das David nicht versteht und das auf ihn dennoch zutiefst menschlich wirkt. Hundert Tage lang versteckt er sich, hundert Tage lang lauert der Tod vor seiner Tür. Und es ist ungewiss, ob sie ihm helfen werden, wenn sie ihn entdecken …

Hundert Tage ist ein hartes und zynisches Buch über die Ironie hinter der Entwicklungshilfe, über das Bedürfnis der Weißen, eine Erbschuld zu tilgen und sich damit selbst zu helfen. Lukas Bärfuss ist ein gefeierter Schweizer Dramatiker, der es in diesem Roman schafft, den Druck des Pathos zu umschiffen. Er lässt seinen Protagonisten David die Geschichte in der Ich-Form erzählen, er schmückt sie mit bissigen Worten, gescheiterten Hoffnungen und viel Resignation. Diese Gefühle bestimmen auch das stilistische Bild, das mit direkten Formulierungen, sarkastischen Metaphern und authentischer Ehrlichkeit überzeugt. Dass jeder im Ernstfall nur an sich selbst denkt, ist bekannt – und wird hier vom Autor eindrucksvoll geschildert. Die Hauptfigur gerät mitten hinein in einen Krieg, in einen Genozid, über den sich die ganze Welt echauffiert, ohne etwas zu unternehmen. Da keiner der Entwicklungshelfer die Sprache der Einheimischen spricht (!), ist ihr Wissen über sie stets nur zusammengedichtet. Es geht in diesem Roman um Gewalt, um Korruption und Heuchelei. Und um den Versuch, das Leid zu beenden – der letztlich vergeblich ist.

Für Gourmets: 5 Sterne

Ein spannender Abenteuerroman im Kriegsrussland
Es ist das Jahr 1942, Leningrad wird schon so lange von den Deutschen belagert, dass die Menschen Leim essen. Und ihre Artgenossen. Es gibt nichts mehr in dieser Stadt, sie ist ausgebrannt und ausgehungert. Als der 17-jährige Lew sich nicht an die Ausgangssperre hält, wird er verhaftet. Doch ein Glücksfall rettet ihn vor dem Tod durch Erschießen: Der Geheimdienstchef der Stadt braucht 12 Eier für die Hochzeitstorte seiner Tochter. Lew soll sie innerhalb von sechs Tagen beschaffen. Zur Seite gestellt bekommt er dabei den fröhlichen und attraktiven Lebenskünstler Kolja, der selbst dem Tod noch spottend ins Gesicht zu lachen scheint. Für die beiden beginnt eine gefährliche und eigentlich beinahe unmögliche Suche im eisigen russischen Kriegswinter, in dem sie nie wissen, ob jemand Freund oder Feind ist. Und die Zeit läuft ihnen davon …

“Ein unwiderstehliches Buch von einem außergewöhnlichen Geschichtenerzähler”, soll Khaled Hosseini über Stadt der Diebe gesagt haben. Und ich gebe ihm absolut Recht. Denn als ich anfange zu lesen, geschieht etwas so Seltenes wie Wunderbares: Ich bin absolut gefesselt. Ich will in jeder freien Minute weiterlesen. Und ich lege das Buch auch nicht aus der Hand, als mir um Mitternacht schon fast die Augen zufallen. Es gelingt David Benioff, mich in diese Stadt zu ziehen, die wie ihre Bewohner nur noch ein Skelett ist, aber sich trotzdem nicht bezwingen lässt. Eindrucksvoll beschreibt er den nagenden Hunger und die bodenlose Verzweiflung. Und doch ist dieser Roman amüsant und humorvoll: Die beiden Protagonisten begegnen ihrer Aufgabe mit dem Witz und der Schläue derer, die nichts mehr zu verlieren haben. Der Autor beweist mit diesem stimmigen und spannenden Buch eine herausragende Vorstellungskraft, die mich beeindruckt. Stadt der Diebe zeigt den berühmten Russlandfeldzug aus einer ganz neuen Sicht, und die Ausgangssituation an sich – in einer verhungernden Stadt Zutaten für eine dekadente Feier der Obrigkeit zu finden – ist herrlich bissig und böse. David Benioff schreibt nicht hochliterarisch, aber der Ton des Romans passt optimal zu den abenteuerlichen Ereignissen. Den brillanten fünften Punkt verdient sich der Autor mit dem fantastischen, ironischen Ende, auf das ich tatsächlich nicht gekommen wäre. Ein Abenteuerroman im besten Sinne: mitreißend, originell, unterhaltsam und unvergesslich.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“The wonders of the world are many, but none so much as man”
Pip ist ein Problemkind. Als Baby schläft sie niemals durch – bis ihre verzweifelten Eltern sie zum Babyschwimmen bringen. Das Wasser sorgt dafür, dass Pip ausgeglichener und ruhiger wird. Und es bleibt ihre gesamte Kindheit und Jugend über das einzige Element, in dem sie sich zu Hause fühlt. Schwimmen ist alles, was Pip will. Während die Familie an zwei schweren Schicksalsschlägen zerbricht, taucht Pip jeden Tag ab. Und das harte Training macht sich bemerkbar: Bald werden Trainer und die Medien auf die talentierte Schwimmerin aufmerksam. Pip bekommt ein Stipendium und erschwimmt sich den langen und anstrengenden Weg zu den Olympischen Spielen. Was das im Alltag für sie bedeutet – kontrollierte Ernährung, absolute Disziplin, kaum Freizeit – und wie Pip schließlich an jenen Punkt kommt, an dem sich ihre Zukunft entscheidet, davon erzählt Nicola Keegan in Swimming.

Für mich war Swimming eine Art Verzweiflungskauf. Mein SuB ging zur Neige, ich stand in der Buchhandlung und fand nichts Interessantes – und der Klappentext hörte sich ganz gut an. Als ich anfing zu lesen, war ich verblüfft über die wunderbare Selbstironie, die Nicola Keegan ihrer Ich-Erzählerin Pip in den Mund legt. “I have seven chins varying in size and volume”, heißt es beispielsweise am Beginn über Pip als Baby, “I am an asshole and I know it”, sagt sie später. Mich fasziniert, wie die Autorin es schafft, die Sportart Schwimmen zum Anker für ein Mädchen zu machen, das in seinem eigenen Leben zu ertrinken droht. Der Tod bleibt der Familie nicht fern, Pips Mutter – die insgesamt vier Töchter zur Welt gebracht hat – ist als Autoritäts- und Vertrauensperson völlig unbrauchbar. Im Prinzip ist Pip auf sich allein gestellt, denn beim Sport herrschen Druck und Konkurrenzdenken, Freundschaft gibt es nicht. Nur im Wasser ist Pip frei. Aber bald wird diese Freiheit überschattet vom Leistungsdruck. Das beschreibt Nicola Keegan sehr eindrucksvoll und glaubhaft. Die Informationen über Schwimmen als Profisport sind gut recherchiert und geben der Geschichte die nötige Substanz. Worum genau geht es in Swimming? Es ist ein Buch über Verlust und Trauer, über die Unfähigkeit, zu kommunizieren, über Leistungssport, Weltrekorde und den eisernen Willen, dem Körper etwas abzuverlangen, das er eigentlich kaum schaffen kann. Ich finde das Thema sehr originell und bin von diesem Roman richtig gefesselt. Pip ist ehrgeizig, einsam und überraschend ehrlich. Das Schwimmen ist ihr Lebensinhalt – und genau das ist zugleich eine große Gefahr. Etwas anstrengend ist der Umgang der Familienmitglieder untereinander, weil die Dialoge in absurde Diskussionen ausarten. Ansonsten aber ist Swimming ein spannendes und lesenswertes Buch, das mit wunderbarem Sarkasmus und Liebe zum Detail begeistert. Pip als Protagonistin ist dabei nicht immer liebenswert. Und deshalb umso authentischer.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Unzufriedenheit als Familienerbe
Das ist ungewöhnlich: Einer stirbt und alle freuen sich. Als Thereses Großmutter Malie das Zeitliche segnet, sind ihre Kinder Ruby und Ib überglücklich. Nur Therese ist traurig, denn sie hat als Einzige schöne Erinnerungen an die exzentrische Frau, die einmal Schauspielerin war, gern trank und schillernde Geschichten erzählte. Einst war Malie das Kind des Dorfwirts, mit 15 schloss sie sich einem fahrenden Theater an. In ihrer Zeit auf der Bühne ließ sie nichts anbrennen – und wurde ungewollt schwanger. Ihren Frust über die aufgegebene Karriere ließ sie den Rest ihres Lebens an ihrem friedliebenden Mann Mogens, einem Blaumaler in der Porzellanmanufaktur, und Tochter Ruby aus, die in ihrer Kindheit viele Schläge und wenig Liebe bekam. Als Ruby selbst ein Kind – Therese – erwartet, gibt sie das Familienerbe der Unzufriedenheit weiter. Erst Therese kann es vielleicht gelingen, diesen Kreis aus Unglück zu durchbrechen – mit ihrem Sohn Stian.

Der Arsenturm erzählt die Geschichte einer Familie aus Norwegen, deren Schmerz in der Vergangenheit wurzelt. Die Ursache für die vielen kleinen Dramen legt Anne B. Radge Schicht um Schicht frei: Jedes Kapitel führt den Leser weiter zurück zu dem, was zuvor geschehen ist. Ausgehend von Therese, der momentan letzten Tochter dieser Familie, verfolgen wir die Generationen bis zu Thereses Großmutter Malie, die eine selbstsüchtige und seelisch verwundete Frau war. Sie liebte die Schauspielerei, denn “wer eine Rolle spielte, durfte dabei Eigenschaften zeigen, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden waren”. Für das Scheitern ihrer Karriere machte sie ihre Tochter Ruby verantwortlich, die ihrerseits das erfahrene Leid weitergab. So entstand ein Teufelskreis aus Ablehnung und Gefühllosigkeit, der auch die Männer in der Familie mit sich riss. Anne B. Radge findet erstaunlich harte Worte für diese Geschichte. Sie zeigt, was für eine Katastrophe eine Schwangerschaft für eine ledige Frau früher war, wie sie sich mit sinnlosen Essigwaschungen und gefährlichen Abtreibungen quälten, und wie es sich auf die Kinder auswirkte, ungewollt und zum falschen Zeitpunkt geboren zu werden. Alle in dieser Familie haben sich einmal etwas erhofft – und niemand hat es bekommen. Der Arsenturm ist ein tragisches, aber unpathetisches und deshalb umso glaubwürdigeres Buch. Stilistisch befindet es sich auf keinem überragenden, aber doch einem annehmbar hohen Niveau. Der Inhalt ist nicht schön. Und hat mich gerade deshalb überzeugt. Sehr gut!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine ironische Erzählung rund um Johann Sebastian Bach
Er selbst hält sich für einen der größten Bachkenner: der Naumburger Organist Jakob Kemper. Leider sieht das aber außer ihm niemand so. Deshalb bekommt er von der verehrten Bachgesellschaft auch nur einen unfreundlichen Schmähbrief, als er seine Hilfe bei der Restaurierung der Orgel anbietet, auf der Bach selbst einmal gespielt hat. Kemper ist entzürnt, doch dann spielt ihm der Zufall einen sensationellen Fund in die Hände: ein bisher unentdecktes Originalmanuskript von Bach persönlich. Kemper kann sein Glück kaum fassen – und gerät völlig aus dem Gleichgewicht. Denn nicht genug damit, dass Bachs geheime Musik Kemper berühmt machen könnte, sie scheint auch noch unheimliche Vorgänge auszulösen, und Kemper weiß bald nicht mehr, ob er träumt oder wacht. Im Angesicht der arroganten Herren von der Bachgesellschaft droht er beinahe zu platzen. Und dann kommen ihm auch noch seine Gefühle für Reisekauffrau Lucia in die Quere …

Robert Schneider wurde als Autor von Schlafes Bruder weltberühmt – mit einem Buch, das in 38 Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. Als mir Die Offenbarung für kleines Geld in die Hände fiel, war ich neugierig. Und es ist dem Autor tatsächlich gelungen, mich zum Schmunzeln zu bringen. Sein Protagonist Jakob Kemper ist eine jener gescheiterter Figuren, denen immer ein Büschel Haare vom Kopf absteht, die einen dezent verwirrten Blick haben und die nie die Ziele erreichen können, die sie sich setzen. Wie Kemper seinen großen Trumpf, das gefundene Bach-Manuskript, nicht nutzt bzw. mit welcher Ironie Robert Schneider ihm am Ende sein eigenes ewiges Scheitern vor Augen führt, ist ebenso tragisch wie amüsant. Etwas gewöhnungsbedürftig ist der mystische Ton, der im Roman mitschwingt, Realität und Fantasie mischen sich stellenweise, Vergangenheit und Zukunft suchen Kemper heim, eine unheimliche Gestalt verfolgt ihn. Diese irrealen Elemente hat der Autor aber gut eingebunden, vermischt mit Alkohol und allgemeinen paranoiden Gedanken, sodass sie nicht allzu abschreckend wirken. Auffallend gut recherchiert hat er über Bach, seine Musik und sein Leben, sehr schön sind auch die Notenschlüssel am Beginn der jeweiligen Kapitel. Einen Pluspunkt gibt es zudem für die vulgäre und lebensechte Sprache, die mit Bissigkeit und Schimpfwörtern verblüfft. Insgesamt ist Die Offenbarung ein unterhaltsames, ironisches und flüssig zu lesendes Buch über einen liebenswerten Kauz, der so gern ein anderer wäre.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Jugend in “Fotzenmoor”
“Unser Viertel wurde im Volksmund Vittulajänkkä genannt, was in der Übersetzung Fotzenmoor bedeutet. Der Ursprung des Namens war unklar, kam aber sicher daher, dass hier so viele Kinder geboren wurden.” Wo Matti aufwächst, da gibt es eigentlich so gut wie nichts: ein kleines Dorf namens Tornedal im äußersten Norden Schwedens. Was sich draußen in der Welt tut, davon bekommt hier keiner was mit. Dabei fegen gerade die Sechzigerjahre durch die Musikgeschichte und die Köpfe der Jugend. Bei Matti und seinem extrem schweigsamen Freund Niila ist es aber sehr ruhig. Eindeutig zu ruhig: Deshalb müssen sie sich allerhand ausdenken, um sich die Zeit zu vertreiben. Prügelketten, in die die halbe Verwandtschaft verwickelt wird, zum Beispiel, Wettkämpfe, Luftgewehrkriege – und Musik. Matti kann nicht einmal ansatzweise singen und Niila ist hoffnungslos an der Gitarre, aber voller Leidenschaft für die Musik gründen die beiden trotzdem eine Band. Und die rettet sie durch die Pubertät.

Ich hatte schon viel von Populärmusik aus Vittula gehört und wollte mir mal im Open-Air-Kino den Film dazu anschauen – doch dann hat es geregnet. Als ich das Buch vor Kurzem für ein paar Euro auf booklooker entdeckte, war es endlich mein. Und es hat sich wahrlich gelohnt: Ich hab mich wirklich köstlich amüsiert. Die Geschichte ist derart verquer und liebenswert, dass man einfach mit dem verwirrten, einsamen, pubertierenden Matti mitfühlen muss. Die Freundschaft zu Niila ist sehr ernst, aber frei von Pathos – wie überhaupt der ganze Roman. Niemi lässt die Schweden saufen und bis zum Umfallen saunieren, rülpsen und hart arbeiten, er zeigt ihr Leben als einfach, manchmal beschwerlich, aber immer auch ein bisschen heiter. Seine Sprache ist schnörkellos und rau, es gibt kein literarisches Herumgerede – die Poesie liegt in diesem Fall im Inhalt. Matti ist ein sehr selbstironischer Ich-Erzähler, das ganze Buch über scheint den Leser ein Augenzwinkern zu begleiten. Mikael Niemi ist es gelungen, auf absolut originelle und überzeugende Weise über ein so abgeschmacktes Thema wie Jungsprobleme, Erwachsenwerden und Rock ‘n’ Roll zu schreiben. Wie Matti sich einen Platz in der Horde der stinkenden, ungehobelten Männer erkämpft, wie er mit der Band auftritt und wie er sich Mädchen nähert, ist richtig unterhaltsam.

Und weil’s so schön zum Thema Bücher passt:
“Das Gefährlichste aber, vor dem mein Vater mich aufs Schärfste warnen wolle, der einzige Faktor, der ganze Kompanien armer junger Seelen in den Nebel des Wahnsinns getrieben habe, das war das Bücherlesen. Diese schlechte Angewohnheit war in den letzten Generationen immer übler geworden, und Vater war ungemein dankbar, weil ich selbst bis jetzt derartige Tendenzen nicht gezeigt hatte. Das Irrenhaus war überfüllt mit Leuten, die zu viel gelesen hatten. Einmal waren sie wie du und ich gewesen, körperlich kräftig, ohne Ängste, zufrieden und im Gleichgewicht. Dann hatten sie angefangen zu lesen. Meist aus irgendeinem Zufall heraus. Eine Erkältung mit ein paar Tagen Bettruhe. Ein schöner Buchumschlag, der die Neugier weckte. Und plötzlich war die Unsitte geboren. Das erste Buch führte zum nächsten. Und zum nächsten und wieder nächsten, Glieder einer Kette, die geradewegs in die ewige Nacht der Geisteskrankheit führte. Man konnte ganz einfach nicht aufhören. Das war schlimmer als Drogen.”

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“In Santo Domingo ist eine Geschichte erst dann eine Geschichte, wenn sie einen übernatürlichen Schatten wirft.” Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao wirft gleich mehrere Schatten und sie sind alle verschieden – übernatürlich, zynisch, amüsant und brutal. Oscar zieht mit seiner Schwester und seiner Mutter aus der Dominikanischen Republik in die USA. Er ist fett, ein großer Fan von SciFi, er spricht sogar fließend Elbisch. Kein Wunder, dass er in der Schule nur verarscht wird und keine Freunde findet – geschweige denn ein Mädchen. Und dabei heißt es doch, dass noch nie ein Dominikaner als Jungfrau gestorben sei! Oscar findet in keine Gesellschaftsschicht hinein und hat es durch die Böswilligkeit seiner frustrierten Mutter besonders schwer. Welche Grausamkeiten ihr im Leben widerfahren sind und was sie so verbittert gemacht hat, erfährt der Leser nach und nach. Sie war einmal sehr schön – und lernte dann einen Handlanger von Trujillo kennen …

Dieses Buch ist unfassbar sarkastisch. In einem derben und vermeintlich gefühllosen Ton erzählt Junot Díaz von Trujillos Militärdiktatur, vom Leben der Dominikaner in Terror und Unterdrückung, von ihren Versuchen, sich als “Nigger” in den USA zu integrieren. Dabei findet er harte Worte, die Witze triefen nur so vor Ironie und Boshaftigkeit. Das darf er nur, weil er selbst in der Dominikanischen Republik geboren ist – einem jeden anderen würde man Herzlosigkeit und Rassismus unterstellen. Auf diese Art aber beschreibt der Autor ein Land und ein Volk, das gelitten hat und immer noch leidet. Liebe und Hoffnung sucht man in diesem Roman vergebens. Der Perspektive zu folgen, ist anfangs schwierig, erst nach einiger Zeit stellt sich heraus, wer der wahre Ich-Erzähler ist: ein College-Freund von Oscar und seiner Schwester. Er ist eigentlich nicht abergläubisch, doch am Beispiel von Oscars Familie zeigt er, wie mächtig ein fukú, ein riesengroßer beschissener Fluch, sein kann. Dieser fukú hat Tod und Leid über Oscars gesamte Verwandtschaft gebracht und erwischt – das verrät ja allein schon der Titel – am Ende auch ihn. In zahlreichen Fußnoten füllt Junot Díaz die Wissenslücken des Lesers und erklärt die Hintergründe zu den Ereignissen. Und obwohl ich kein Freund solcher Leseflussunterbrechungen bin, lese ich dieses Mal sogar die Fußnoten genauso sorgfältig wie den Fließtext – weil sie interessant sind und böse. Dieses Buch ist schockierend, wirr, informativ und tragisch zugleich – eine lesenswerte Reise in ein weit entferntes Land, das manche vielleicht aus dem Urlaub, aber vermutlich nicht mit all seinen Schatten kennen.

Allgemein

Sommerzeit ist Lesezeit!
Schließlich bleibt es länger hell. Und am Strand oder am See hat man endlich mal Zeit, all die Schmöker zu lesen, die man schon sooo lange im Regal hat … Oder wie ist das bei euch? Was lest ihr diesen Sommer? Welche Bücher sind für euch die Highlights bisher in diesem Jahr? Was könnt ihr empfehlen, was nicht? Ich bin gespannt auf Tipps und Empfehlungen!

Meine Bücher des Sommers sind definitiv:
Jón Kalman Stefánsson: Das Licht auf den Bergen
Nicola Keegan: Swimming
David Benioff: Stadt der Diebe

Alle drei hervorragend! Und sie sorgen für viel Abwechslung in diesem Sommer. Viel Spaß beim Lesen!

Für Gourmets: 5 Sterne

“Manchmal ist es, als würde alles Vergangene zu Poesie”

So ist es auf jeden Fall mit Das Licht auf den Bergen: Die kleinen, abstrusen Geschichten, die der Isländer Jón Kalman Stefánsson erzählt, sind voller Poesie. Sie sind wild und verrückt, schillern vor Überraschungen, Magie und Wehmut. Schauplatz der Ereignisse ist ein winziger Ort am Rand von Island, völlig abgeschieden, die Bauernhöfe liegen hier weit auseinander, Fremde sieht man nie. Umso merkwürdiger, dass sich einer aus dem Dorf einbildet, bald würden Touristen kommen. Dass den Einheimischen dann fast die Augen aus dem Kopf fallen, als tatsächlich ein Reisebus mit einer deutschen Gruppe auftaucht, ist sehr amüsant geschrieben. Der Ich-Erzähler, zum Zeitpunkt der Erinnerungen, in denen er schwelgt, ein junger Mann, berichtet von den schrägen Gestalten in dieser Gemeinde: von Starkathur, dem Dichter, der so verliebt ist, dass er fast sterben muss an der Liebe, von Hnúkar, der endlich den Fortschritt ins Dorf bringen will, und vom “Apostel”, der eines Tages gefürchteten Besuch bekommt. Das sind nur einige der vielen liebenswerten und schrulligen Figuren, die Stefánsson in einem bunten, faszinierenden Reigen auftreten lässt. Sie saufen viel, die Isländer, sie streiten und sie raufen sich, sie sind raue Genossen und haben einen so weichen Kern, dass Gedichte, magische Geschichten von Elfen und Trollen und das Lächeln einer Frau sie völlig aus dem Konzept bringen.

Das Licht auf den Bergen ist das letzte Buch einer Triologie, aber das erste, das ich gelesen habe. Die Vorgänger verpasst zu haben, macht überhaupt nichts . Ohnehin knüpft Stefánsson in diesem Buch eine skurrile Begebenheit an die andere, streut unvergleichliche Metaphern ein, kümmert sich nicht um die Realität oder wissenschaftlich Beweisbares, im Gegenteil, Geister und Flüche gehören zu diesem Roman wie zu Island selbst. Es ist ein Land, von dem ich wenig weiß, und dessen Bewohner mir unbekannt sind – umso mehr Spaß macht es, sie in ihren besten und schlechtesten Eigenschaften skizziert zu sehen. Stefánsson ist ein Autor, der berühren und zum Schmunzeln bringen kann, der seine Figuren mit einer solchen (Schaden-)Freude aneinandergeraten lässt, dass die Zeilen richtig vor Ironie und Lebenslust zu vibrieren scheinen. “Er springt tatsächlich umher und wartet darauf, dass ihm die Gabe des Fliegens unter den Armen wächst”, heißt es, oder: “Heute Nacht darfst du lügen. Mach es nur gut, und vielleicht kommt der Morgen nie.” Obwohl das Buch teilweise ein wenig wirr ist (und das Cover richtig hässlich) und ich keinen einzigen der zitierten isländischen Dichter und wichtigen Personen kenne, mag ich es – es macht mich einfach fröhlich.

Das Gedicht So ist es von Starkathur:
du, den wir mit tausend namen nennen,
der aber einzig ist;
manchmal wird der unablässige strom der zeit
zu einem traurigen refrain in deinem herzen
und alles übrige wird bedeutungslos
dann wischst du die wolken von der erde und schaust
du siehst länder sich scheiden von meeren
berge von ebenen
siehst schluchten sich öffnen im berghang
und du siehst das menschenmeer zu völkern werden
dann siehst du gut hin, hältst lange ausschau
bis du einen gehen siehst
die brust voller düsterkeit
dann schüttelst du dein himmelhoches haupt, immer gleich erstaunt
murmelst, sieh mal an
so klein
und es kann ihm doch schlecht gehen

Für Gourmets: 5 Sterne

Vom Tod und dem Leben danach
Lenes Freund Tim wird überfahren und getötet. Unter Schock steigt Lene ins Auto, sie will nur noch weg. Ihre beste Freundin Tonia begleitet sie auf diesem Roadtrip quer durchs Land und quer durch die Gefühle. Was bleibt zu tun, wenn das Unaussprechliche geschehen ist? Wie kann man darüber reden, wie kann man Tag für Tag die Augen öffnen und einfach weiterleben? Lene und Tonia stehen vor einer Hürde, die nicht zu überwinden scheint – und sie laufen weg, um erst einmal Luft holen zu können, um nichts Vertrautes sehen zu müssen. Tonia geht in ihrer Freundschaft zu Lene und der Pflicht, ihr beizustehen, an ihre Grenzen. Und am Ende ist die Trauer, der Lene entkommen will, immer noch da.

Elisabeth Rank findet eine Sprache für das, was man nicht sagen kann: wie weh es tut, wenn man jemanden verliert, den man liebt. Zwar bleibt Überflüssiges nicht aus, doch ihr Stil ist feinfühlig, deutet an, gibt der Fantasie einen Pfad vor. Manchmal sagt das Leben: Friss – es kümmert sich nicht, es schüttet das Unglück aus über uns. Das passiert Lene, und ihre Freundin Tonia, die aus der Ich-Perspektive erzählt, wird mitgerissen. Die Geschichte in ihre Hände zu legen, ist ein kluger Schachzug, führt aber auch dazu, dass alle Einblicke in Lenes Gemütszustand nur von außen kommen können. So muss man als Leser viel erspüren, was man nicht direkt erfahren kann. Tonias eigene Beziehung zu Friedrich wird durch die Ereignisse infrage gestellt, auch für sie hat Lenes Leid Konsequenzen. Und im Zweifel für dich selbst ist ein großartiges, ein seltenes Buch. Ich mag das Unaufgeregte, das Lässige, das Junge, was Kritiker dazu bringt, den Roman ein “Generationenporträt” zu nennen. Ein wenig schade ist, dass Elisabeth Rank über ein, zwei Klischees stolpert und Lene und Tonia beispielsweise ans Meer fahren lässt – was nun wirklich bei jedem 08/15-Roadtrip das Ziel ist. Trotz kleiner Schwachpunkte ist dieses Debüt eindrucksvoll, gelungen und ebenso traurig wie wunderschön.