Allgemein

Das Leben eines Taubstummen im Iran
Aga Akbar lebt in dem kleinen Bergdorf Safran Mountain im Iran, wo das Leben hart ist und der Glaube streng. Aga Akbar ist taubstumm geboren worden, kann sich aber mit seiner Mutter, seinem Onkel und den Dorfbewohnern in einer sehr einfachen Zeichensprache verständigen. Sein Onkel nimmt Aga unter die Fittiche, ermöglicht ihm eine Ausbildung als Teppichflickkünstler und organisiert ihm eine Ehefrau. Der Ich-Erzähler, Agas Sohn Ishmael, fungiert seit seiner Geburt als Sprachrohr für den Vater. Doch Ishmael ist intelligent und wissbegierig, er geht an die Universität und entfernt sich nicht nur räumlich, sondern auch in Bezug auf den geistigen Wissensstand von Aga. Und als er in Kontakt mit revolutionärem politischem Gedankengut kommt, bringt er seinen naiven Vater sogar in große Gefahr. Jahre später lebt Ishmael im Exil in Holland und versucht, das Leben von Aga Akbar anhand von dessen Notizbuch zu rekonstruieren. Allein: Die Sprache, in der die Aufzeichnungen geschrieben sind, existiert gar nicht.

Kader Abdolah zeichnet in My father’s notebook mittels zweier unterschiedlicher Figuren ein Bild des Iran: Der taubstumme Aga Akbar steht für blinde Religiosität und veraltete Normen, sein Sohn Ishmael verschreibt sich der Moderne und der Revolution. Er engagiert sich gegen den Shah und muss schließlich fliehen. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist schwer zu charakterisieren, Aga tut alles für sein Kind, ist aber gleichzeitig aufgrund seiner Behinderung in extremem Maß von ihm abhängig. Die Diskrepanz zwischen dem Analphabeten und dem Akademiker ist groß. Im Exil in Holland setzt sich Ishmael mit den Gefühlen für seinen Vater auseinander: Unverständnis, Aufopferung, Liebe. Dass Aga sein Notizbuch in “cuneiform”, einer komplett erfundenen Schrift, gefüllt hat, fand ich zu Beginn des Buchs faszinierend. Aber wie entschlüsselt Ishmael diese Schrift? Der Autor hat doch glatt ganz elegant vergessen, das zu erklären, was mich enttäuscht hat, weil es dann doch recht unrealistisch wirkt.

Kader Abdolah erzählt eine interessante Geschichte, die jedoch keine Ecken zum Festhalten hat und mir nicht im Gedächtnis bleiben wird. Der Autor, der wegen politischer Verfolgung unter einem Pseudonym schreibt, hat Autobiografisches in diesem Roman verarbeitet. Stilistisch gesehen hat er eine solide Leistung abgeliefert, inhaltlich unterscheidet sich dieses Buch kaum von den vielen anderen Romanen über islamische Diktaturen und politisches Aufbegehren.

Lieblingszitat: “Sometimes you have to be patient. If whatever it is you’re doing doesn’t seem to be working out, leave it for a while. That way you give life a chance to sort itself out.”

6

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Irrwitzige Geschichten aus dem polnischen Plattenbau
“An zwei Orten wurde der Andrang immer größer: in der Kirche und vor Jericho, dem Schnapsladen. Aber viele fingen auch an, sich aufzuhängen. Und alles nur wegen der Arbeitslosigkeit!” In einer polnischen Plattenbausiedlung dominieren Beton, Gewalt und Langeweile. Um wenigstens ein bisschen Sinn in ihrem Dasein zu sehen, müssen die Bewohner tief in der Fantasiekiste kramen: Der Ich-Erzähler schmückt das Leben der bekanntesten Siedlungsgestalten zu Heiligenlegenden aus. In kurzen Episoden berichtet er, aus welchem Grund sie jeweils zu Heiligen wurden – was in den meisten Fällen natürlich den vorangegangenen Tod der Leute bedingt. Da gibt es etwa den heiligen Haidegger, der sich um die ungeliebten und vergessenen Wörter kümmerte, oder den heiligen Kyrill, der gratis für alle starb, die gerade selbst keine Zeit hatten. Der heilige Egon dagegen sorgte dafür, dass jede einzelne Fernsehsendung in den Himmel kam, doch: “>Ach herrje!<, stöhnte Sankt Egon, >die Werbung! Ich habe die Werbung vergessen! Die Ärmste, wer wird sich jetzt um sie kümmern, wer für sie um Vergebung bitten?< >Zum Teufel mit der Werbung<, brummte Sankt Peter. Und so kam die Werbung in die Hölle.”

Klingt verrückt? Ist es auch. Man kann Die Vorstadtheiligen nicht einmal ansatzweise mit normalen Maßstäben beurteilen. Dieses Buch zu lesen, ist wie durch einen Zoo voller nie gesehener Fabelwesen zu spazieren: Jedes Kapitel wartet mit dermaßen schrägen Einfällen auf, dass man aus dem Staunen und aus dem Kopfschütteln nicht mehr herauskommt. Über manche kuriose Begebenheit in diesem ungewöhnlichen Roman amüsiere ich mich gar königlich: “Wir waren alle kugelrund. Auf der einen Seite hatten wir einen Zipfel, auf der anderen ein Loch, und so kullerten wir von früh bis spät durch die Siedlung. Das Schicksal gab dir mit seinem Queue einen Stoß, Mann, und du wusstest nie, auf wen du knalltest. Dem Pfarrer gefiel das überhaupt nicht.” Eine große Rolle in Lidia Amejkos Sammlung moderner Heiligengeschichten spielt natürlich Gott: Er hat die Siedlung aus einem achtlos hingeworfenen Batzen Beton geschaffen, und mit ihm bekommen es alle Heiligen eines Tages zu tun. Im Leben müssen sie allerdings ohne seine Hilfe auskommen.

Lidia Amejko hat eine wilde Mixtur angerührt aus irdischer Trostlosigkeit und alltäglichen Problemen, angereichert mit viel Alkohol und gewürzt mit einem kräftigen Schuss Metaphysik. Ihre Geschichten sind kluge Allegorien, groß angelegte, geniale Metaphern – manche davon leicht zu entschlüsseln, andere höchst undurchsichtig. Es gibt Abschnitte in diesem Buch, die ich nicht im Geringsten verstehe, andere sind sehr erheiternd. Lidia Amejko wagt sich auch an eine Art Metasprache, stellt die Wörter wie handelnde Personen in die Welt, und wer einen Eindruck von der Genialität dieses Romans gewinnen möchte, nimmt es in der Buchhandlung in die Hand und schlägt Seite 64 auf, wo es um die obdachlosen Wörter geht. Die Vorstadtheiligen ist alles andere als leichte Kost. Die Charaktere sind bewusst extrem überzeichnet, der Inhalt kippt immer wieder ins Surreale. Dafür aber garantiert dieses Buch ein Leseerlebnis, das man im Gegensatz zu den vielen öden 08/15-Romanen nicht so schnell vergisst. Der Ideenreichtum der Autorin ist beeindruckend, ihre Formulierungen sind wunderbar und auf den Punkt gebracht: “Am Küchentisch schoben sie sich gegenseitig die Stille zu, hielten sich ihre Seufzer unter die Nase und ließen ihre Hände wie leere Teller über das Wachstuch wandern” zum Beispiel oder: “Irgendwann später wurde die Nacht klein und fest, wie ein Stück Schokolade, das am Ende des Tages auf seinem Kopfkissen lag.” Respekt! Dieser Roman ist völlig verquer, absurd, sehr originell, gleichzeitig amüsant und verstörend. Bemerkenswert finde ich auch das wirklich gelungene Cover. Die Vorstadtheiligen ist sicher keine einfache Unterhaltungslektüre – aber ein lesenswertes Abenteuer!

Die Vorstadtheiligen ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 9783832195526, 18,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein Epos über einen Sohn und seinen Vater
Jasper ist der Sohn von Martin Dean. Und während es generell niemanden auszeichnet, der Sohn von jemandem zu sein, ist das in diesem Fall tatsächlich eine Leistung: Jasper wird mit den philosophischen Halbweisheiten seines grüblerischen Vaters großgezogen und mit seinen Geschichten. Zum Beispiel jener über Terry Dean, Martins Bruder und Australiens berühmtesten Mörder. Die Geschichte über seine tote Mutter Astrid muss sich Jasper allerdings mithilfe der Notizbücher seines Vaters selbst zusammenreimen. Im Reigen der Menschen in Jaspers Leben gibt es noch den undurchsichtigen Eddie und Caroline, zugleich Terrys und Martins große Liebe. Wie Jasper mit seinem Vater ringt, ihn aus dem Irrenhaus holt, in ein Labyrinth zieht und schließlich Hals über Kopf mit ihm fliehen muss – davon erzählt Steve Toltz in A fraction of the whole.

Dies ist ein absordes, verrücktes Buch, in dem stets, wenn man sich gerade wieder gemütlich eingelesen hat, etwas absolut Unerwartetes geschieht. Steve Toltz strotzt offensichtlich nur so vor schrägen Einfällen, die er allesamt in diesem 700-Seiten-Wälzer (auf Deutsch hat der Roman mit dem Titel Vatermord und andere Familienvergnügen gar 800 Seiten) gepackt hat. Der junge Autor, der es mit diesem fulminanten Werk auf die Shortlist des Man Booker Preises geschafft hat, schildert eine ungewöhnlich enge Vater-Sohn-Beziehung, die teilweise monströse Auswüchse annimmt. Jasper kann sich nicht lösen vom dominanten Vater, seinen absurden Ideen, seinen Krankheiten und Erzählungen. Schlimm ist es für ihn während der Pubertät, weil er mit den üblichen Problemen, der ersten Liebe und dem wahnsinnigen Vater gleichzeitig zu kämpfen hat. Es gibt Momente, da erinnert mich dieses Buch an John Irvings Romane, der ja auch einen starken Hang zu Vater-Sohn-Bindungen hat und immer wieder höchst eigenwillige Charaktere erfindet.

Steve Toltz schrammt oft haarscharf am Unglaublichen vorbei. Deshalb muss man sich ganz bewusst fallen lassen in dieses Lesevergnügen, es in seiner Verrücktheit annehmen und aus dem Vollen schöpfen. Manche Vergleiche sind so genial, dass sie einem richtig auf der Zunge zergehen: “Dad’s smile grew even wider, making him look like a chimpanzee who’d had peanut butter smeared on his gums for a television commercial” zum Beispiel oder: “Becoming a public figure is like befriending a Rottweiler with meat in your pocket”. Steve Toltz überzeugt mich durch seine Formulierungen: “Dad was having trouble breathing, as if something were blocking his airway – maybe his heart” und seinem Einfallsreichtum. Einziger Wehrmutstropfen ist, dass das Ende im Vergleich zu den durchgedrehten Ereignissen davor fast ein wenig unspektakulär daherkommt. A fraction of the whole ist ein Feuerwerk von einem Buch, klug, witzig und sehr originell.

 5

Gut und sättigend: 3 Sterne

Nette Unterhaltung vom Bestsellerautor
Stell dir vor, du wachst auf und 50 Tage deines Lebens sind aus deinem Gedächtnis verschwunden. So ergeht es dem Journalisten Fabio, der mit einer Kopfwunde im Krankenhaus liegt und nicht weiß, wie er dort gelandet ist. Schlimmer noch: Die attraktive Frau namens Marlen, die ihn täglich besucht und die seine Freundin sein soll, hat er noch nie gesehen. Warum ist er nicht mehr mit Norina zusammen, wieso will sie nicht einmal mit ihm reden? Hat er tatsächlich seinen Job gekündigt? Und was ist das für eine “große Sache”, an der er angeblich dran war? Fabio kann sich nicht erinnern und sucht mühevoll nach den abhanden gekommenen Puzzleteilen. Sein bester Freund Lucas will ihn, statt ihm zu helfen, davon abhalten. Mit gutem Grund: Als Fabio der Wahrheit immer näher kommt, wird es gefährlich …

Der Bestsellerautor Martin Suter produziert Bücher am laufenden Band. Bei ihm stehen nicht Sil und Sprache im Vordergrund, sondern die Geschichte. Der bekannte Schweizer Schriftsteller ist ein Erzähler, der sich nicht schert um holprige Formulierungen und Wortwiederholungen, die Worte scheinen ihm nur das nötige Handwerkszeug zu sein, um die Handlung voranzutreiben. So ist es auch in Ein fast perfekter Freund; und wenn man über manchen nicht gerade glanzvollen Satz hinwegsieht, kann man sich von diesem Roman gut unterhalten lassen. Die Dialoge sind pointiert und kraftvoll, die Schweizer Sprachfärbung sorgt für Authentizität. Eigentlich wollte ich nach Lila, Lila, von dem ich nur mäßig begeistert war, nicht unbedingt noch ein Buch von Martin Suter lesen. Doch als mir Ein perfekter Freund für wenig Geld in die Hände fiel, habe ich es doch mitgenommen – und ein paar kurzweilige Stunden damit verbracht. Mir gefällt die Idee hinter dem Buch: dass einer aufwacht und sich nicht erinnern kann, dass er zwei Monate seines Lebens rekonstruieren muss und dem Rätsel seines Unfalls auf die Spur kommen will. Das ist ebenso unterhaltsam wie spannend, auch wenn man als aufmerksamer Leser recht bald einen Verdacht hegt, was passiert sein könnte. Amüsant ist, wie Fabio nach und nach entdeckt, dass er vor seinem Gedächtnisverlust ein richtiges Arschloch war. Ein perfekter Freund punktet mit der Handlung und ist eine leichte Lektüre für zwischendurch.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Die pure Bosheit in ein Buch gegossen
Dahlia ist 29 Jahre alt und verbringt den Großteil ihrer Zeit damit, auf der Couch zu lümmeln, zu kiffen und fernzusehen. Eine richtige Ausbildung hat sie nicht, auch keinen Job, denn “was für eine Tätigkeit würde sie denn mal davon abhalten, sich jeden gottverdammten Tag die Kugel geben zu wollen?” Das Leben ist gemütlich, weil Vater Bruce es finanziert und niemand etwas von Dahlia verlangt. Doch dann ändert sich alles, und zwar so richtig: Dahlia bekommt die Diagnose Hirntumor. Sie hat Krebs, bösartigen Das-ist-dein-Ende-Krebs. Ihr steht ein “echter, langwieriger, grausiger, ungerechter, hässlicher Tod” bevor. Das macht Dahlia stinkwütend – und ihre verkorkste Familie sowie die vielen abgedroschenen Selbsthilfe-Floskeln sind ihr überhaupt keine Hilfe.

Hass ist eine wuchtige Keule, die doppelt zuschlägt: nach innen und nach außen. Dahlia trägt eine Menge Hass in sich, und im Lauf des Romans wird verständlich, warum: Von der exzentrischen Mutter Margalit im Stich gelassen, klammerte sich Dahlia als Kind voll blinder Liebe an ihren großen Bruder Dan, der sie so viele Jahre wie den letzten Dreck behandelte, dass Dahlias Gefühle irgendwann einfroren. Der nachgiebige, unselbstständige Vater Bruce konnte weder die Familie zusammenhalten noch die fallende Dahlia auffangen. Die logische Konsequenz: Alkohol, Drogen und allgemeine Orientierungslosigkeit. Dahlias Leben war eine Ansammlung von Enttäuschungen und Traumata. Ist es da etwa ihre Schuld, dass aus ihr nichts geworden ist? In einer beispiellosen Schimpftirade kotzt Dahlia sich aus über ihre Kindheit und Jugend, über die Ungerechtigkeit und den Verlust der Unschuld. Sie kann dabei so gehässig sein, wie sie will – sie ist ohnehin bald nicht mehr da.

Negatives Denken, so heißt es, macht krank. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass man nur positiv denken muss, um zu gesunden, und wir werden überschüttet mit Beispielen dafür, dass Menschen durch Selbstheilung den Krebs besiegt haben. Hat also Dahlia mit ihrer Wut den Tumor selbst gezüchtet? Ist es ihre Schuld, dass sie so jung sterben muss? Mit dieser Frage spielt Elisa Albert ganz geschickt in Das Buch Dahlia. Ihre Protagonistin darf böse, rotzig und schonungslos sein, sie bohrt in den eiternden Wunden der Vergangenheit und spuck einen Schwall Verachtung in die Welt. Das zu lesen, ist ebenso gewöhnungsbedürftig wie befreiend. Als Leser weiß man manchmal nicht, ob man überhaupt Mitleid haben soll mit Dahlia – oder sich einfach freuen soll, dass man selbst gesund ist. In jedem Fall gibt einem dieses krasse Buch zu denken, man möchte sich aufraffen und sofort die Zeit, die einem noch bleibt, besser nutzen. In einer brutal offenen, hasserfüllten Sprache schildert die Autorin, wie scheiße es ist, an Krebs zu sterben. Das Buch Dahlia ist wütend, stinkig, unschön und räumt auf mit den Denk-dich-gesund-Parolen. Man sollte gute Nerven mitbringen für diesen Roman, in dem die Traurigkeit hinter all dem Sarkasmus stets durchscheint. Wer dieses Buch gelesen hat, wird das Leben wieder mehr genießen. Weil er weiß: Life’s a bitch and then you die.

Das Buch Dahlia ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3423139496, 8,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Zwei Schwestern und die Gefahren des Lebens
“I’m Kate, muimui, little sister. I’m not supposed to have my own secrets, my own needs, my own desires. I’m supposed to be swamped with hers. There’s not enough room for both of us.” Die stille Kate ist 13 und steht im Schatten ihrer promiskuitiven 15-jährigen Schwester Frankie, sie ist die Hüterin von Frankies Geheimnissen. Während der Vater als Kriegsfotograf in Vietnam die Gräuel des Todes festhält, leben Kate und Frankie mit ihrer Mutter in Hongkong zur Zeit von Mao. Sie geraten bei einem Aufstand selbst in die Schusslinie, was jedoch keiner bemerkt. Kate zerbricht fast an der Last auf ihrer Seele, über die sie mit niemandem sprechen kann, mit ihren Eltern nicht, auch nicht mit dem stummen Jungen, in den sie verliebt ist, und schon gar nicht mit der egozentrischen Frankie, die stets um Aufmerksamkeit buhlt: “More crucial, do we love Frankie? Do we love her enough? Can we? Do I? Does my father? My mother? She isn’t sure. That’s why she throws herself at men: George, my father’s friends. That’s why she runs after the Red Guards. She wants to see if we can stop her.” Je exhibitionistischer sich Frankie verhält, umso verschlossener wird Kate. Und während die Mutter ahnungslos ihre Landschaftsbilder malt, steuert die Familie auf eine Katastrophe zu …

Gwaimui, white ghost girls, nennt die Haushälterin Ah Bing die ungleichen Schwestern. In dieser Bezeichnung schwingt das Unheilvolle mit, das diesen Roman auszeichnet, das Traurige, Tragische. In einer sehr reduzierten Sprache erzählt Alice Greenway von einem Mädchen, das sich bewusst der Gefahr aussetzt, um etwas zu fühlen, um gerettet zu werden, und seiner Schwester, die dem Schicksal letztlich nichts entgegenzusetzen hat. White Ghost Girls ist ein ebenso zärtliches wie grausames Buch, eine Erzählung, die mit leichten Worten daherkommt und mit Wucht zuschlägt. Sparsam und klug gesetzt sind die Formulierungen, treffsicher die Metaphern: “That night I dream of blue swallowtail butterflies. They hover in the air like a kaleidoscope, alight on my body, drinking sweat from my skin.” Wunderschön.

4

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Erzählung, so klar wie eine Bergquelle
An der Kunst ist er gescheitert, den großen Durchbruch hat er nicht geschafft: Andreas nimmt die Gelegenheit wahr, nach der Trennung von seiner Freundin den Winter in einem kleinen Bergdorf zu verbringen. Er kommt bei der ehemaligen Opernsängerin Susanna in ihrem weitläufigen Palazzo unter. Und er ist nicht ihr einziger Gast: Die Pfarrerin Maddalena hat einen verletzten Adler geborgen, den Susanna gesund pflegt. Die Berge thronen majestätisch über allem, “Riesengestalten, die sich von einer Verkrustung hatten befreien müssen, um, so ungeheuer eigenwillig, sie selbst zu sein”. Viel ist nicht los in diesem stillen Ort: “Die Dinge warten. Auch die Dinge haben hier Routine im Warten.” Bis dann doch einmal etwas passiert: Am 24. Dezember verschwindet die kleine Andrea, die in Maddalena so gern eine Mutter hätte. Und Andreas macht sich auf die Suche nach ihr …

In Der Wintergast porträtiert die Schweizer Autorin Elisabeth Binder ein beinahe unscheinbares Dorf im Schatten dominanter Berge an der italienischen Grenze. In diesem Minimundus schickt die Schriftstellerin wie in einem Figurentheater ihre Charaktere nacheinander ins Rampenlicht: die zweifelnde Pfarrerin Maddalena und den orientierungslosen Künstler Andreas, die Schwestern Ada und Franca, die Tag für Tag in ihrem kleinen Dorfladen sitzen, die vier Schweine, die ein unwürdiges Dasein fristen, Andrea, ihren Vater und ihre Großmutter und den Berggeist, der traurig ist, weil ihn niemand mehr sehen kann. Wie durch ein Kaleidoskop beobachtet man als Leser diesen Menschenreigen. Elisabeth Binder lässt uns durch ein Guckloch auf eine Handvoll Figuren blicken, während ein Winter kommt und geht. Kulisse und Hauptdarsteller zugleich ist die Natur, das Erhabene der Schöpfung.

In einer eindringlichen Prosa und einer sehr eigenwilligen Satzstellung erzählt die preisgekrönte Autorin von zwei Gästen, die gesunden müssen: Andreas und der Adler. Ihre Worte sind gut gewählt, ihre Sätze brechen teilweise unvermittelt ab, was dem Schreibstil etwas Schwebendes, Schwereloses verleiht: “Aber es ist ein herrliches Abenteuer mit der Wirklichkeit, je mehr ich arbeitete, desto mehr sah ich, neu und anders, alles wurde von Tag zu Tag größer, auch rätselhafter, im Grunde wurde es von Tag zu Tag unbekannter und schöner, es hätte noch tausend Jahre dauern können, ich genoss es ganz und gar – ” Ich mag diesen Stil sehr, und ich gehe gerne ein Stück des Weges mit den Protagonisten dieses feinsinnigen Buchs, bevor der Winter zu Ende ist und sich der Deckel über den Figuren wieder schließt. Dies ist ein Roman ohne Knalleffekt, der manchmal eben gar nicht nötig ist. Eine schöne, angenehme Lektüre über die kleinen Probleme und Eigenheiten, die uns Menschen ausmachen – und ihre Unwichtigkeit im Angesicht der Natur.

Lieblingszitat: “Denn sie wollte ja noch ein wenig leben. Weiterleben. Wozu? Keine Ahnung. Einfach leben. Im Licht. Mit dem Wasser, den Steinen, den Flechten, dem Gras, den kahlen Bäumen, den Dohlen hoch oben, die die Felsen entlangstreichen. Jetzt, wo der Frühling wieder kommt.”

Der Wintergast ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3608938906, 18,95 Euro).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

So überflüssig wie ein Loch im Kopf
Charlotte lebt im Dänemark des Jahres 1898 und verdient ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht als Teilzeithure. Ihre Brötchen muss sie mit der gefräßigen, vulgären, permanent furzenden Fru Schleswig teilen, die ihr nicht von der Seite weicht, seit Charlotte mit 16 Jahren aus dem Waisenhaus geflüchtet ist. Die beiden bekommen die Chance, bei Fru Krak als Putzfrauen zu arbeiten, und Charlotte plant bereits, Fru Kraks Besitz nach und nach zu Geld zu machen. Doch daraus wird nichts, denn im Keller stößt sie auf eine Zeitmaschine – und wird gegen ihren Willen ins moderne London transportiert. Dort begegnet sie dem verschwundenen Professor Krak und ihrer großen Liebe. Eigentlich will Charlotte ja wieder zurück nach hause – aber das ist alles andere als einfach.

My little dirty book of stolen time ist ein völlig abgedrehtes Buch mit einer hysterischen Protagonistin, die praktisch nur mit Ausrufezeichen kommuniziert: “I am not ready for death, you most cruel of bastards! I insist! Fie upon you, celestial torturer, I cannot & I will not die!” Ja, alle “unds” sind durch & ersetzt, welchen Sinn auch immer das haben soll außer jenen, den Lesefluss zu stören und es den Augen zu erschweren, den Sätzen zu folgen. Was den Inhalt betrifft, so sind die Ereignisse arg an den Haaren herbeigezogen. Nichts gegen Sci-Fi, aber Zeitmaschinen, die man so mir nichts, dir nichts bauen kann, Reisen ins “Great Beyond”, bei denen man durch den Äther schwimmt und hungrig ankommt, sowie Affen, die von ihren Zeitreisen Souvenirs mitbringen – das ist einfach zu viel des Guten. Dazu kommt die extrem pathetische Sprache, und ich frage mich: Wer veröffentlicht so etwas und warum? Und wieso in aller Welt habe ich auf die Empfehlung gehört, diesen Schrott zu lesen? Zum Glück habe ich das Buch billig über ebay bekommen. Fazit: Der Humor dieses wirren und unglaubwürdigen Romans geht an mir völlig verloren, einzig wegen der fetten, unausstehlichen, hässlichen Fru Schleswig gibt es einen halbherzigen Punkt.

3

Für Gourmets: 5 Sterne

Vom Davonlaufen und Ankommen
“Die Taschen packen. In die Dschungelschuhe schlüpfen, in den Zug steigen oder ins Flugzeug. Sitzen und die Augen geschlossen halten. Es ist die einzige Macht, die ich kenne: zu verschwinden.” Seit 10 Jahren ist Anna unterwegs in der Welt, hält sich nie lange auf an einem Ort und lässt nicht zu, dass ein Mensch ihr ans Herz wächst. Doch als sie in Kairo den Zeichner Paul trifft, kann sie nicht verhindern, dass er ihr näher kommt als alle anderen. Mit ihm gemeinsam versucht sie das Geheimnis ihrer Familie zu ergründen: Warum und wohin ist ihr großer Bruder Franjo vor 15 Jahren verschwunden? Als Anna die quirlige Marjana kennenlernt, ist Paul längst fort. Und ihr wird klar, dass sie ihn nicht hätte gehen lassen dürfen …

Kopf aus den Wolken ist das Porträt einer Getriebenen, die sich der Flucht verschrieben hat und nicht mehr anhalten kann, 10 Jahre lang. Der lieblose Vater ist es, vor dem Anna flieht, die stumme Mutter, das Rätsel um den über alles geliebten, verschollenen Bruder. Die Liebe zu Paul spült alle verdrängten Gefühle in Anna frei, mit seinem Zeichenstift hält er auf Papier fest, was sie nicht sagen kann. Erst als sie Paul verloren hat, erkennt Anna, dass sie zurückgehen muss, um voranzukommen, und sie folgt seiner Spur nach New York, Hamburg, Berlin, um schließlich dort anzukommen, wo alles begonnen hat: zuhause in Wien. Und es gelint Ruth Cerha tatsächlich, mich zu überraschen, als das Geheimnis von Annas Familie letztlich gelüftet wird – ich bin begeistert und fasziniert.

Ich mag das Ruppige an Ruth Cerhas Schreibstil, das Kantige, Unliebsame und vor allem die ausgezeichneten Formulierungen: “Seine lange, schmale Gestalt entfernte sich so schnell, dass ich es kaum begriff, aber der Anblick seiner nackten Füße und der baumelnden Schuhe brannte mir in jede einzelne meiner Zellen ein winzig kleines Loch.” Es ist, als hätte Ruth Cerha ihre Sätze wie eine Bildhauerin aus einem Stein gebrochen und dabei ein raues, aber wunderschönes Gebilde geschaffen. Kopf aus den Wolken ist herausragend gut geschrieben, ein trauriges und doch lebensbejahendes Buch, ein Buch wie ein Traum, gleichzeitig leichtfüßig und tiefgründig.

Netter Versuch: 2 Sterne

Eine Bombe, ein Soldat und jede Menge Politik
Es ist etwas faul im Staate Pakistan: Der Diktator General Zia soll gestürzt werden, seine Getreuen schmieden ein Komplott. Ganz persönliche Gründe, den korangläubigen General Zia zu beseitigen, hat der junge Soldat Ali Shigri. Er ist der Sohn des berühmten Colonel Shigri, der eines mysteriösen Todes gestorben ist – und den Ali rächen will. Eine spezielle Freundschaft verbindet ihn mit seinem Kollegen Obaid. Als dieser überraschend aus der Kaserne verschwindet, wird Ali von den Befehlshabern verhaftet und gefoltert, er gerät mitten hinein in politische Machenschaften, in deren Zentrum eine Flugzeugbombe steht – oder ist Ali doch nicht so unbeteiligt, wie es scheint?

Ich finde lange nicht hinein in dieses Buch – oder womöglich gelingt es mir nie, denn auch am Ende ist mir der Zugang versperrt zu A case of exploding mangoes, das für so viel Aufsehen in der Szene gesorgt und gute Kritiken bekommen hat. Anfangs verwirren mich die vielen Namen und militärischen Rangbezeichnungen, auch erschwert es mir das Verständnis, dass die Handlung sozusagen von hinten aufgezäunt wird. Die Flugzeugbombe bzw. deren Explosion steht sowohl am Anfang als auch am Ende des Romans, dazwischen entfalten sich die Ereignisse, die zum Tod der Regierungselite Pakistans geführt haben. Das große Manko daran: Der Schluss hält nichts Überraschendes mehr bereit, ein Aha-Erlebnis bleibt aus. Worum geht es also in diesem Buch? Um Meinungsfreiheit in einer Diktatur, um Machtgeilheit, Militärwillkür, um Folter und um Rache. Der Ton des Ich-Erzählers Ali ist spöttisch und distanziert, der vermeintliche Humor hinter den Geschehnissen trifft bei mir jedoch nicht ins Schwarze. Ich amüsiere mich durchaus zeitweise über den höhnischen Sarkasmus, insgesamt ist mir das Buch aber zu lahmarschig und uninteressant. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, mich einzulassen auf diese Satire über eine Militärdiktatur, aber gelungen ist es mir nicht. Mehr als ein gleichgültiges Schulterzucken ist nicht geblieben.

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