Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Elf Jahre alt zu sein macht uns unsichtbar”
“Wir haben 1978, und die Realität ist schon erschöpft”: Die Roten Brigaden stürzen sich voller Wut auf Italiens Ordnung, im ganzen Land ist das Bild des toten Aldo Moro im Kofferraum präsent. Infiziert vom Fieber, etwas zu ändern, zu bewegen, schuldig zu sein, sind drei elfjährige Buben in Palermo. Sie geben sich die Kampfnamen Nimbus, Strahl und Flug und beginnen im Sommer 1978 mit einem ganz besonderen, unheilvollen Training: Sie stählen ihre Körper und ihren Geist, erfinden einen eigenen Kommunikationscode und bereiten sich auf Kampfaktionen vor. Gegen wen sie kämpfen sollen, das fragt sich auch Ich-Erzähler Nimbus: “Ich weiß nicht, wovon er redet. Wir sind immer im Kampf, sagt er. Aber ich verstehe nicht, gegen wen. Und wer kämpft gegen uns? Ebenso wie Flug verspüre ich das Bedürfnis, verfolgt zu werden, und ich wünsche mir einen beharrlichen und liebevollen – ja, liebevollen – Feind, der mich achtet, indem er mich verfolgt. Nur dass es diesen Feind nicht gibt.” Das jedoch hindert die drei nicht daran, ihre theoretischen Gedanken zu Revolution und Terror in die Tat umzusetzen: Sie werden gewalttätig, schuldig, zerstören fremdes Eigentum und schrecken nicht vor Grausamkeit gegen Menschen zurück. Während die Eltern und der kleine Bruder von Nimbus – er nennt sie Schnur, Stein und Lappen – keine Ahnung von seiner Brutalität haben und sich ihm somit nicht in den Weg stellen können, scheint es eine einzige Person zu geben, für die Nimbus etwas empfindet: das kreolische Mädchen. “Denn jedes Mal, wenn ich sie ansehe, wird mir ganz feierlich zumute, und ich verspüre das Bedürfnis nach Zärtlichkeit – genau jenes Bedürfnis, das der Kampf tagtäglich ausschließt.” Doch wer liebt, ist verwundbar, und für einen Kämpfer bedeutet das große Gefahr …

Mit Die Glasfresser hat der italienische Autor Giorgio Vasta, der selbst aus Palermo stammt, einen schockierenden Roman über Fanatismus, Gewalt und Gefühllosigkeit geschrieben. Die Sprache benutzt er dabei wie ein ungemein scharfes Schwert, seine Worte sind Rasierklingen – mit diesem Buch bekommt Sprachgewalt eine ganz neue, viel direktere Bedeutung. Der Grundgedanke der Brutalität ist in vielen Formulierungen versteckt, zeigt sich in der Wortwahl, schimmert immer wieder durch: “Während wir uns unter die Leute mischen, sehen wir nur vom Dialekt zerfleischte Gesichter – der Dialekt explodiert in den Mündern und zerfetzt die Gesichtszüge, er wird erzeugt im Dunkel der familiären Bindungen, im täglichen Zusammenstoß, eine Stirn gegen einen Jochbogen, der Mund gegen eine Schläfe.” Sehr körperlich ist diese Sprache, aber auch sehr intellektuell, punktiert mit Fremdwörtern, die nicht im täglichen Sprachgebrauch vorkommen: rachitisch zum Beispiel, Defätismus, effeminiert. Die Sätze sind ausufernd, sie klirren und schmerzen, sie schneiden den Leser mitten in die Brust – denn ihr Inhalt ist Hass.

Es ist heiß und trostlos in Palermo im Sommer 1978, als der Wahnsinn und die Gier, bedeutsam zu sein, drei Buben zum Äußersten treiben. Ich-Erzähler Nimbus wirkt hochintelligent, die Welt langweilt ihn: “Ich bin ein Gottloser und weiß alles, ich habe die Herrschaft: Das Leben ist die Frucht, und ich bin ihr Kern.” Wie seine Freunde Scarmiglia und Bocca, die Genossen Flug und Strahl, ist er abgeschnitten von Menschlichkeit und Mitgefühl, besessen von den grausamen Aktionen der Brigadisten, hungrig nach einem Kampf: “Elfjährige Zeitungsleser, Fernsehnachrichtenschauer. Beobachter des politischen Geschehens. Konzentriert und schonungslos. Kritisch, finster. Präadoleszente Außenseiter.” Diese drei, die eigentlich noch Kinder sind, wenden sich gegen Schwächere – nur weil sie es können. Nimbus’ liebstes Spielzeug ist ein Stück Stacheldraht, mit dem er Tiere quält. Wahnsinnig sind Giorgio Vastas Protagonisten, fanatisch und diszipliniert – und erst elf Jahre alt. Ich war mit elf nicht unbedingt stumpfsinnig, aber davon, eine solche Weltanschauung zu ersinnen und so zu reden, wie Die Glasfresser es tun, war ich kilometerweit entfernt. Dass Nimbus, Strahl und Flug so extrem jung sind, hebt die krasse Sinnlosigkeit ihrer Taten hervor – wirkt aber auf mich auch unglaubwürdig. Dreizehn vielleicht, vierzehn, aber elf? Zudem hatte ich mir erwartet, die Miniterroristen würden nachplappern und nachempfinden, was ihnen im Elternhaus vorgelebt wird. Doch das ist nicht der Fall, besteht doch zu den Eltern kaum eine Beziehung. Das Böse kommt vielmehr direkt aus ihren Herzen.

Beim Leser ruft Die Glasfresser eine Reihe von unangenehmen Gefühlen hervor: Entsetzen, Ekel, Verständnislosigkeit. Dies ist ein perverses, ein verstörendes Buch, das den Leser mit hinabreißt in den Abgrund, das Angst macht in seiner Unmenschlichkeit. In einem Lied von Gianna Nannini kommt ein Vergleich vor, der sehr schön und treffend ist: un gelato al veleno, ein Eis aus Gift. So ist dieser aufwühlende, provokante und mutige Roman: sprachlich kunstvoll, geschmackvoll, köstlich gar, inhaltlich bitter, verdorben, giftig. Wie Säure ätzt sich Die Glasfresser ins Gedächtnis – und ist gerade deshalb unglaublich wichtig und lesenswert.

Die Glasfresser ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04447-1, 19,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Vom Verlust des Vaters und der Balance
Als Johns Vater, der Anthropologe Albert James, stirbt, gerät sein Leben aus dem Gleichgewicht: Er fliegt von London nach Delhi, wo seine Eltern zuletzt gelebt haben, und findet eine äußerst distanzierte Mutter vor. Die Beziehung zwischen John und Helen ist geprägt von Missverständnissen, sie finden keinen Weg, miteinander zu kommunizieren. In der lauten, schmutzigen, fremden Stadt sucht John nach Spuren seines Vaters – und findet nichts. Die publizierten Theorien von Albert über Verhaltensweisen und Kommunikation sind ihm ein Rätsel. Als Biologe kommt er mit seiner Forschung nicht vom Fleck, zudem geht ihm, dem ewigen Studenten, das Geld aus. Und seine Freundin, die Schauspielerin Elaine, weicht ihm aus. Helen dagegen sieht sich mit dem Amerikaner Paul konfrontiert, der eine Biografie über Albert schreiben will und der trotz Helens Ablehnung beharrlich bleibt. Aber dann scheint es, als bräuchte Helen eigentlich doch jemanden zum Reden … Und als ein Sandsturm über Delhi aufzieht, kommt es zum Showdown zwischen allen Beteiligten: John, Helen, Paul und der geheimnisvollen Jasmeet.

Tim Parks ist ein ausgezeichneter Schriftsteller. Mit Cleaver hat er mich in seinen Bann gezogen, Dreams of rivers and seas habe ich geschenkt bekommen. Zwar finde ich darin nicht die Cleverness und Schärfe von Cleaver, denn Dreams of rivers and seas ist nicht so böse und brillant, dafür aber von einer leichten erzählerischen Eleganz. Tim Parks hat ein gutes Gespür für den Aufbau einer spannenden Geschichte und konstruiert die Handlung mit sicherer Feder. Sein Protagonist John ist, man kann es nicht anders sagen, ein Idiot, ein Biologe ohne Geld und ohne Aussicht auf Festanstellung, ein recht hilfloser junger Mann, der die Zügel für sein eigenes Leben am liebsten aus der Hand gibt. Seine Mutter Helen ist willensstark und klug, selbstsicher und verschlossen: Sie verschweigt ihrem Sohn ein schwerwiegendes Geheimnis, vertraut es nur dem Journalisten Paul an. In Dreams of rivers and seas präsentiert Tim Parks interessante Theorien über die Menschheit und die Fäden, an denen wir alle hängen, indem er sie dem Anthropologen Albert James in den Mund legt. Zudem gibt er einen schillernden Einblick in das Land Indien, das er in seiner Armut, Schmutzigkeit und Faszination porträtiert.

7

Für Gourmets: 5 Sterne

“Wer mit einem Fuß in der Vergangenheit und dem anderen in der Zukunft steht, der scheißt auf die Gegenwart”
“Was für ein Leben erwartet einen, der seine Mutter getötet hat?” Das fragt sich der 28-jährige James, der darüber nachdenkt, seine demenzkranke Mutter von ihrem Leid zu erlösen. Der Standpunkt der Krankenschwester war stets klar: Sie wollte lieber sterben als vor sich hin zu vegetieren. Jetzt ist sie 56, lebt im Heim und hat vergessen, wie das geht: sprechen, eine Toilette benutzen, leben. Und James fühlt sich schuldig, weil er sie vom Gedanken, Selbstmord zu begehen, abgebracht hat. Kann er, muss er seine Mutter nun töten? Er fliegt von New York, wo er als Grußkartentexter arbeitet, in seine Heimatstadt Buffalo und versucht einen klaren Entschluss zu fassen in Bezug auf Euthanasie. Aber: “Meine Angst davor, einen Rückzieher zu machen, ist nicht so groß wie die Angst, keinen zu machen.” Er besucht seine Mutter, die ihn nicht erkennt, hofft auf ein Zeichen: “Hat meine Anwesenheit irgendeine spürbare Wirkung auf sie? Unmöglich zu sagen. Trotzdem sitze ich neben ihr und tue so, als wäre ich erwachsen.” Während er alte Freunde aus seinen rauschhaften Zeiten wiedertrifft und verrückte Nächte mit der Malerin Corinne verbringt, versucht James eine Entscheidung zu fällen, die unmöglich zu treffen ist.

Mit Der bisher beste Tag meines Lebens hat Greg Ames einen lebensklugen, witzigen und überzeugenden Roman geschrieben, der geprägt ist vom Gefühl des Verlusts. Protagonist James hat es seiner Mutter nicht leicht gemacht, hat getrunken und rebelliert, ihren Rat ignoriert. Jetzt, wo er sich seiner Liebe für sie erinnert, ist es zu spät – sie weiß nicht mehr, wer er ist. Und James steht vor der Frage, ob ein Mord aus Liebe dennoch ein Mord ist. In starken und einprägsamen Bildern beschreibt Greg Ames das Leben eines Demenzkranken, macht es durch Worte erlebbar: “Ohne Gedächtnis hätte ich nichts. Ich wüsste nicht, wie ich von diesem Stuhl aufstehen sollte. Ich könnte keine Zusammenhänge erkennen. Wie bin ich hierher gekommen? Warum bin ich hier? Wie funktionieren meine Hände und mein Mund?” Es ist faszinierend, wie der Autor, der selbst aus Buffalo stammt, sich hineinfühlt in einen Menschen, der Alzheimer hat, dem alles auseinanderfällt, der sich sprachlich und motorisch nur noch gebärden kann wie ein Kind. Gleichzeitig geht er auf die Trauer und die Angst der Angehörigen ein – Ehemann, Sohn und Tochter. Man kann sich als Leser gut vorstellen, wie schwierig die Situation für alle Beteiligten ist. Und dann fragt Greg Ames ganz offen und unsentimental: Ist aktive Sterbehilfe die Lösung?

Der bisher beste Tag meines Lebens hat mich sehr berührt. Der junge James, der viel falsch gemacht und Probleme mit Nähe hat, ist ein sympathischer und glaubwürdiger Held. Durch eine “Oral History”, in der verschiedene Persönlichkeiten Buffalos zu Wort kommen, zeigt Greg Ames seine Stadt in all ihren Facetten und lässt sie auf originelle Weise lebendig werden. Dies ist ein Roman über Würde, Menschlichkeit und Loslassen, über Erinnerungen und den quälenden Schmerz derer, die diese Erinnerungen bewahren. Trotz dieser schwergewichtigen Themen drückt das Buch nicht auf die Tränendrüse, im Gegenteil, es punktet mit einer trotzigen Heiterkeit und perfekt formulierten Passagen: “Lavendelsäckchen der Schlaflosigkeit unterstrichen ihre Augen”, “Unsere alte Freundschaft ist verwischt wie von einer Mauer geschrubbte Graffiti” oder “Die Gespräche summen um mich herum wie eine Wolke leuchtend grüner Fliegen. Ab und zu landet eine auf meiner Nase.” Begeistert bin ich auch vom meisterhaft gelösten und unerwarteten Ende. Ich freue mich außerdem, den Steidl-Verlag entdeckt zu haben, der noch die eine oder andere literarische Perle im Programm glitzern hat. Der bisher beste Tag meines Lebens ist ein wunderbares, respektvolles und gefühlvolles Buch, rumdum gelungen.

Der bisher beste Tag meines Lebens ist erschienen im Steidl Verlag (ISBN 978-3-86930-178-5, 18 Euro).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Der Geschmack der Enttäuschung ist herb
Im Jahr 1916 arbeitet der dunkelhäutige Nathan Walker gemeinsam mit seinen Kumpel unter Manhattan: Sie graben ein Tunnelsystem für die U-Bahn. Viele Jahre später, die Tunnel sind längst stillgelegt, lebt dort der obdachlose Treefrog, versteckt sich vor der Kälte und den Menschen. Nathan Walker heiratet die Tochter seines verstorbenen Kollegen Con, eine Weiße – das ist im Amerika jener Zeit ein Skandal, das Ehepaar und die Kinder sehen sich nicht nur ständigen Anfeindungen, sondern auch echter Lebensgefahr ausgesetzt. Sie sind arme, traurige Gestalten – genau wie Treefrog und die anderen Heimatlosen, die unter der Stadt hausen.

Das Leben hat mich gelehrt, dass es oft, sehr oft keine gute Idee ist, von einem Autor, von dem man einen Roman toll fand, ein zweites Buch zu lesen. Doch obwohl ich das weiß, habe ich Der Himmel unter der Stadt vom Remittendentisch für wenig Geld mitgenommen. Und wer nicht hören will, muss fühlen: Ich habe es bitter bereut. Während Zoli von Colum McCann eines der besten Bücher war, die ich 2010 gelesen habe, ist Der Himmel unter der Stadt eine herbe Enttäuschung. Ich vermisse die Magie und Poesie von Zoli schmerzlich und kann gar nicht glauben, dass beide Bücher vom selben Autor sein sollen. Zwar klingt die Geschichte von Nathan Walker und Treefrog durchaus ansprechend, in der Umsetzung ist sie jedoch fad und ohne Höhepunkte. Es gibt viel Darstellung und Beobachtung, aber keine Bewegung. Zoli war sprachlich grandios, Der Himmel unter der Stadt ist allenfalls okay. Die Handlung geht ins Nichts, der Zusammenhang zwischen den Figuren ist mir so dermaßen lange nicht klar, dass es dann schon fast absurd wirkt, als ich es endlich begreife. Schade, schade – die Zweitbuchregel zu brechen, war in diesem Fall wirklich ein böser Fehler.

Netter Versuch: 2 Sterne

Ach Johnny, geliebter Johnny
Bogus bekommt ein Kind mit der amerikanischen Skiläuferin Biggie, die er in Österreich kennengelernt hat und die ihren Spitznamen ihrer Statur verdankt. Die Ehe der beiden ist jedoch nicht von Dauer – wie sonst auch alles in Bogus’ Leben. Er kämpft seit Jahren mit seiner Doktorarbeit und dreht merkwürdige Filme mit dem Möchtegernregisseur Ralph. Sein Penis macht Probleme beim Urinieren, weshalb Bogus vor und nach dem Sex mit seiner Geliebten Tulpen viel Wasser trinken muss. Und Tulpen will auch noch ein Baby von ihm …

Ich habe schon oft und mit vielen Leuten über John Irving diskutiert, der offenbar in die Kategorie “Love it or leave it” fällt. Ich bin pro Johnny, wollte aber nach Until I find you kein Buch mehr von ihm lesen, sondern die Genialität von Garp und Owen Meany in Ehren halten. Dann aber habe ich Die wilde Geschichte vom Wassertrinker geschenkt bekommen und konnte es natürlich nicht einfach stehen lassen im Regal. Doch, ach, es war enttäuschend: Dies ist in meinen Augen der schlechteste Irving. Ich kenne alle seiner Ansätze: die schwierige Vater-Sohn-Beziehung, das Ringen, die Liebe zur Stadt Wien, die Bären. Dies alles kommt in Die wilde Geschichte vom Wassertrinker aus dem Jahr 1972 bereits vor, in den nachfolgenden Büchern ebenfalls immer wieder. Ich vermisse aber den Witz und Esprit von Hotel New Hampshire oder das Absurde von Die vierte Hand. Dieser Roman ist im Vergleich recht eintönig und langweilig. Besonders öde finde ich die vielen Briefe. Auch den Perspektivenwechseln zwischen 1. und 3. Person kann ich nicht leiden. Ich habe mit John Irving schon viele schöne und heitere Stunden verbracht – allerdings nicht in Zusammenhang mit dem Wassertrinker. Ich denke, dabei sollten wir es nun belassen, etwas Besseres kann nicht mehr nachkommen und ich will diese Freundschaft in guter Erinnerung behalten.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine gruselige Kindheit und ihre Auswirkungen
Lorrie Fisher arbeitet als Familientherapeutin in London – was sehr ironisch ist, da sie selbst eine schreckliche Kindheit hatte, und zwar unter dem Namen Caroline Stern. Ihre Eltern, zu denen sie keinen Kontakt mehr hat, gehörten einer strengen sektenähnlichen Organisation an, und die lebenslustige kleine Caroline wurde in der Gemeinschaftsschule regelmäßig von der Direktorin Miss Fowler gegängelt. Niemand glaubte ihr, niemand half ihr, und als der Druck auf Caroline schließlich so groß wurde, dass sie es nicht mehr ertrug, hatte das dramatische Folgen …

25 Jahre später trifft Caroline alias Lorrie auf ihre ehemalige Schulkollegin Amy und sieht auch Mr. Steinberg, den Griechischlehrer, in den sie einst verliebt war, wieder. Schicksalshafte Begegnungen, denn nun kommt endlich ans Tageslicht, was damals geschehen ist. So sollst du schweigen ist ein voyeuristisches Buch, das den Blick durchs Schlüsselloch zulässt auf eine Kindheit voller Demütigungen. Clara Salaman hat in diesem Roman eigene Erlebnisse verarbeitet – vermutlich sind die Beschreibungen der Sekte deshalb so düster und eindringlich. Carolines Eltern glauben an das Absolute, ihre Überzeugungen scheinen eine Mischung aus verschiedenen Religionen zu sein, die Kinder müssen gar Sanskrit lernen. Es herrschen raue Sitten, der Umgang ist extrem lieblos. Zwar gelingt Caroline die Flucht, richtig abschütteln und vergessen kann sie ihre Kindheit jedoch nie. Sie lebt eine Lüge – und belastet auch ihre Beziehung zu Joe.

Da ich selten so aufmerksamkeitsheischende, spannende Bücher in die Hand nehme, hat So sollst du schweigen fast etwas Verbotenes für mich. Ich finde den Roman recht fesselnd und mitreißend, auch wenn mir der Ton manchmal zu flapsig und urteilend ist. Durch die wechselnden Erzählperspektiven in Vergangenheit und Gegenwart treibt Clara Salaman die Handlung – vor allem durch die Rückblenden – geschickt auf ihren Höhepunkt zu. Ich bin ganz fasziniert von dieser schmutzig-fiesen Geschichte und genieße die seichte Unterhaltung und den leichten Grusel. So sollst du schweigen ist wie ein Pro7-Eigenproduktion-Fernsehfilm: alles andere als niveauvoll, aber doch gut genug gemacht, dass man ein wenig neugierig wird und nicht umschaltet. Auch wenn man sich ein wenig dabei schämt. Weiß ja keiner.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Subtile Gesellschaftskritik
An der jungen Clarissa ist eigentlich alles ganz normal: Ihre Kindheit war nicht sehr glücklich, aber auch nicht auffällig traumatisch, sie hat einige Freunde, hat sich selbst einigermaßen gefunden und ist momentan auf Arbeitssuche. Nichts Ungewöhnliches also. Nur ist normal nicht unbedingt gleichbedeutend mit gut: Clarissa treibt orientierungslos und ohne Halt durch ihr Leben, an dem es objektiv gesehen nicht viel auszusetzen gibt. Clarissa findet daran im Gegenzug aber auch nicht viel, was der Mühe wert wäre: Nachdem sie an ihrem letzten Arbeitsplatz gemobbt wurde, ist sie sprichwörtlich ganz unten angekommen – sie wohnt bei Freunden im Keller. Sie ist antriebslos und pleite, ihre Eltern haben sich bewusst aus dem Familienkreis entzogen. Zwar ist Clarissa durchaus von vielen Menschen umgeben – aber die schauen in erster Linie nur auf sich selbst.

In Unter uns zeichnet die österreichische Autorin Angelika Reitzer ein düsteres Bild unserer Gesellschaft: Die Zusammekünfte von Clarissas Freunden Kevin, Susanna, Florian, Vera, Marie und Gerd sind geprägt von Positionsgehabe und Geltungsdrang. Clarissa selbst ist aus dem Rhythmus von Geldverdienen, Karrieremachen und Kinderkriegen hinausgefallen und findet sich plötzlich im feuchten Keller wie in einer metaphorischen Unterschicht wieder. Über ihr und ohne sie findet das Familienleben von Tobias und Klara mit den Kindern Kyra und Selma statt. Deren lärmendes Treiben führt Clarissa ihre eigene Einsamkeit stets aufs Neue vor Augen. Von ihrer eigenen Familie ist keine Hilfe zu erwarten, die Eltern investierten ihre Zeit und Aufmerksamkeit schon früher nur in ihr Gasthaus und feierten dann ihren Abschied von der Familie, Clarissas Schwester ist aus ihrem Leben verschwunden. Clarissa ist eine schwer greifbare Person, sie wirkt verträumt und rätselhaft.

Das Wort, das diesen Roman in meinen Augen am besten charakterisiert, ist mäandern. Die Handlung fließt wie ein Fluss mit vielen Nebenarmen über die Seiten, versickert mancherorts und kommt woanders wieder zusammen. Stellenweise bin ich etwas überfordert mit der Vielfalt der Namen, den Träumen und dem steten Wechsel der Perspektive, die Atmosphäre im Buch hat aber etwas faszinierend Unheilvolles, sodass ich es kaum weglegen mag. In einem sehr nüchternen, schnörkellosen Stil entlarvt Angelika Reitzer in Unter uns die Scheinheiligkeit der Menschen Mitte dreißig und stellt sie in ein abschätziges Licht. Ein jeder versucht, ein bisschen was vom Glück zu erhaschen – und wer dabei nicht so erfolgreich ist, wird schnell bemitleidet. Ein wirkliches Miteinander gibt es nicht. Angelika Reitzer zeigt sich dabei als Meisterin des Ungesagten: Das tatsächlich Wichtige, wie Clarissas Kindheit oder das schmähliche Benehmen ihres Chefs, wird nur angeschnitten, die Konsequenzen muss man selbst erkennen. Dieser Roman hat zudem etwas undefinierbar Österreichisches, was mir natürlich sehr zusagt. Trotz einiger Schwachpunkte wie verwirrende Einschübe und manchmal anstrengende Detailverliebtheit ist Unter uns ein eindringliches, lesenswertes Buch mit einem unerwarteten Ende. Sehr bedrückend und voll von der Poesie des Alltags.

Unter uns ist erschienen im Residenz Verlag (ISBN 978-3701715497, 21,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

“In der Nacht geraten die Gefühle leicht außer Kontrolle, wenn man nicht aufpasst”
38 Jahre ist Tsukiko alt, sie lebt allein und arbeitet in einem Büro. Ihr verlässlichster Freund ist der Sake, und eines Abends trifft sie in ihrer Kneipe ihren alten Japanischlehrer. Er erkennt sie trotz all der Zeit, die vergangen ist, sie plaudern ein bisschen, und dann treffen Tsukiko und der Sensei, “Lehrer”, immer wieder zufällig aufeinander – manchmal jeden Abend, dann wieder wochenlang nicht. Sie gehen distanziert miteinander um, siezen sich und fühlen sich doch voneinander angezogen. Es fällt ihnen jedoch unglaublich schwer, einander näher zu kommen.

Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß ist, so verrät es der Untertitel, eine Liebesgeschichte. In diesem kleinen Büchlein verhalten sich jedoch nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch die Liebe selbst ganz typisch japanisch: Sie ist äußerst zurückhaltend und scheu. Die in Japan sehr bekannte Schriftstellerin Hiromi Kawakami hat mit Tsukiko eine Protagonistin geschaffen, die recht orientierungslos durch den Alltag stolpert und bei der im Roman konsumierten Menge an Bier und Sake wohl ein ernsthaftes Alkoholproblem hat. Sie ist oft wie ein Kind, weinerlich und unsicher. Der Sensei dagegen ist ein sehr ernster, lehrerhafter älterer Herr. Diese Konstellation ist ebenso merkwürdig wie zutiefst menschlich. Tsukikos Leben ist allerdings so leer, dass ich fast das Gefühl habe, ihr bleibt gar keine andere Wahl, als sich in den Sensei zu verlieben – weil sie sonst überhaupt niemanden hat. Die Beziehung der beiden entzieht sich jeder gängigen Definition: “Ich war entschlossen, nicht mehr darüber nachzugrübeln, was der Sensei für mich empfang. Nicht zu eng, nicht zu fern, wie ein Herr und eine Dame, eine stille, dauerhafte Beziehung, gekennzeichnet von Takt und Vertrauen.”

Schön an Der Himmel ist weiß, die Erde ist blau ist der enge Bezug zur japanischen Kultur, die Teil des Inhalts und zugleich Bedingung und Kulisse der Ereignisse ist. Es wird viel japanisches Essen beschrieben und verspeist, die japanische Dichtkunst hat ebenfalls ihren Platz, und die berühmte asiatische Zurückhaltung ist in jeder Geste spürbar. Mit einer klassischen Liebesgeschichte hat dieser Roman wenig zu tun, er ist poetisch, undurchdringlich und gleichzeitig ganz simpel, wie das Leben selbst. Hiromi Kawakami zeigt, dass die Liebe viele Gesichter hat. Auch ganz fremde.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Der Wolkenatlas beginnt mit dem Tagebuch eines Reisenden im Jahr 1850, das unvermittelt abbricht und 1931 in den Briefen des jungen Frobisher, der als Assistent eines bekannten Komponisten arbeitet, erwähnt wird. Jahre später wird die Journalistin Luisa Rey in eine wirre und gefährliche Actiongeschichte verwickelt. Der alte Cavendish landet gegen seinen Willen im Altersheim, und in der Zukunft sitzt ein Klon im Gefängnis und soll hingerichtet werden. Wie all diese Geschichten zusammenhängen? Gute Frage. Sie sind durchaus, wie der Klappentext behauptet, miteinander verwoben, allerdings nur sehr locker. Man muss schon genau hinlesen, um die Verbindungen zu erkennen. Aufgebaut ist David Michells Wolkenatlas wie eine Pyramide: Zuerst kommen alle Geschichten hintereinander, nach jener in der Mitte treten alle Protagonisten in umgekehrter Reihenfolge wieder auf, sodass das Buch mit dem Reisetagebuch von 1850 beginnt und endet.

David Mitchell vereint in diesem gewöhnungsbedürftigen Roman nicht nur verschiedene Ideen und Charaktere, sondern auch unterschiedliche Schreibstile. Das alte Tagebuch ist ausufernd und dröge, die Briefe sind gehetzt und arrogant, Luisas Geschichte wirkt wie ein alter Detektiv-Schwarz-Weiß-Film und der Bericht des Klons aus der Zukunft ist zur Gänze in Interviewform gehalten. Das finde ich durchaus originell, aber – ich gebe es zu – auch recht anstrengend. Ich habe eine ganz subjektive Abneigung gegen dieses Abgehackte, Undurchgängige, das keinen angenehmen Lesefluss zulässt. Zudem langweilen mich manche Personen im Buch, wie etwa der alte Cavendish, unendlich. Am interessantesten ist für mich die verrückte und fantasievolle Geschichte des Klons in der Mitte. Ich habe diesen Roman auf Empfehlung von jemandem gelesen, dessen Lieblingsautor David Mitchell ist. Das kann ich nach der Lektüre nicht unbedingt nachvollziehen, denn obwohl er ein wandelbarer Schriftsteller zu sein scheint, kann ich kein herausragendes Merkmal an seiner Schreibe finden. Der Wolkenatlas ist ein bisschen wie jenes Spiel, bei dem man mit dem letzten Buchstaben eines Wortes ein neues Wort bilden muss. Das macht Spaß, ist aber auch nur eine Zeitlang lustig.

Netter Versuch: 2 Sterne

“Schön soll das Leben sein, schön!”
“Mathematik ist wie Poesie. Jede Zeile, jede Formel muss sich auf die nächste reimen, nur dann wird alles ein langes und schönes Gedicht.” Ein solches Gedicht will der russische Mathematiker Boris schaffen: Seit vier Jahren beobachtet er für seine Doktorarbeit die Bahnen seiner Fische. Als ein katastrophaler Eisregen über Toronto hereinbricht, steht Boris wegen des Stromausfalls vor dem Ende seiner Forschung. Doch dann kommt er bei der Stripperin Julie unter … Schuldig am Eisregen fühlt sich der elfjährige Ich-Erzähler. Der hat sich nämlich gewünscht, dass “der Himmel etwas machen soll”, damit seine Eltern sich nicht trennen. Und nach anfänglichen Schwierigkeiten sieht es ganz so aus, als würde sein Wunsch in Erfüllung gehen …

In Bei Kälte ändern die Fische ihre Bahnen wird es arktisch kalt – und deshalb rücken die Menschen näher zusammen. “Die wahre Natur des Menschen zeigt sich, wenn er in der Scheiße sitzt!”, schreibt der kanadische Autor Pierre Szalowski und lässt den Leser in eine Siedlung in Toronto blicken, in der die Bewohner plötzlich aufeinander angewiesen sind. Ein schwules Pärchen, der Alkoholiker Alexis und sein vernachlässigter Sohn oder die Eltern des elfjährigen Jungen: Das eisige Wetter bringt sie dazu, sich miteinander zu beschäftigen, einander zuzuhören, aufeinander zuzugehen. In einer simplen, liebevollen Sprache erzählt Pierre Szalowski von Menschen, die sich eingeigelt haben in ihrer Selbstsucht – und auf einmal daran erinnert werden, dass es auch andere gibt. Das ist schön, herzerwärmend und sehr, sehr kitschig. Das vorhersehbare Happy End ist wirklich happy – nicht umsonst heißt eines der Kapitel “Ende gut, alles gut” – und lässt gleich alle Wünsche auf einmal wahr werden. Ich habe da gar nichts dagegen, fühle mich am Schluss aber doch etwas übersättigt von all der Süße. Pierre Szalowski hat in diesem Roman nette Begebenheiten gesammelt, Tiefgang hat die Geschichte aber nicht. Dies ist ein Buch wie Zuckerwatte: duftig, locker, köstlich, aber auch ein bisschen gehaltlos und klebrig. Manchmal muss es jedoch einfach was richtig Süßes sein.

Lieblingszitat: “Viele Menschen nutzen die Zeit unter der Dusche gerne zum Nachdenken. Mein Vater und meine Mutter mussten doppelt so viele Gedanken haben, da sie zu zweit darunter standen.”