Bücherwurmloch

Kleine Auszeit für den Bücherwurm
Dass sich im Bücherwurmloch momentan nicht so viel tut, hat einen – wunderbaren – Grund: Urlaub! Und das schon seit einer Weile und noch für ein bisschen. Ohne Bücher gehe ich aber natürlich nicht auf Reisen, und so stapeln sich im Reisegepäck die bereits verspeisten Romane:
Eis und Wasser, Wasser und Eis von Majgull Axelsson
Kleiner Vogel, klopfendes Herz von Miriam Toews
Leben zwischen den Seiten von Corinna Soria
The lord of death von Eliot Pattison
Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand von Jonas Jonasson
Madame Hemingway von Paula McLain
Die Rezensionen folgen as soon as possible!
Einen schönen ausklingenden Sommer wünsch ich!

Bücherwurmloch

Zitat der Woche
Die meisten Menschen, Kamala, sind wie ein fallendes Blatt, das weht und dreht sich durch die Luft, und schwankt und taumelt zu Boden. Andere aber, wenige, sind wie Sterne, die gehen eine feste Bahn, kein Wind erreicht sie, in sich selber haben sie ihr Gesetz und ihre Bahn.
Aus: Siddharta von Hermann Hesse

Für Gourmets: 5 Sterne

Das innere Erbe der Generationen
Nadja liebt ihr Leben in Russland, sie steht auf einer Revuebühne, spielt Klavier und singt – das erfüllt sie und bietet einen Ausgleich zum Alltag mit Ehemann Anton und den Kindern Peter und Senta. Doch als Hitlers Macht größer wird, wollen die Russen alle Deutschen aus dem Land verschwinden sehen, und so wird Nadja – die sich als Russin fühlt, aber deutsche Vorfahren hat – mit ihrer Familie vertrieben. Sie stranden in Berlin, wo Anton wie eine geschmeidige Katze auf die Füße fällt, während Nadja ganz bewusst in Melancholie versinkt und nie wieder daraus auftaucht. Diese Teilnahmslosigkeit dem eigenen Schicksal gegenüber vererbt sie Senta: “Senta erbte demnach weniger Teller oder Tassen. Sie erbte eher größere Bestände an ungelebtem Leben. (…) Aber vor allem schaffte sie es, und das war ihre Kunst, aus dem Mangel eine Fülle zu generieren, einfach weil sie fünf Kinder gebar und somit dem umfassenden Gefühl, einsam zu sein, eine Quirlhorde Lebendigkeit entgegensetzte.” Die Liebe allerdings, die hat Senta gehen lassen – zusammen mit dem jungen Gregor, der aus Überzeugung in die DDR übersiedelte, um Berufsrevolutionär zu werden. Finanziell geht es Senta gut mit ihrem Mann, dem Anwalt, emotional verkümmert sie. Ihre Tochter Katarina sieht sich – genau wie Senta einst – einer abweisend-leblosen Mutter gegenüber. Und doch scheint es, als könne mit ihr in der dritten Generation endlich ein Heilungsprozess beginnen …

Das Glück der Zikaden ist ein Roman über drei Frauen und den Aufruhr in Deutschland zwischen Zweitem Weltkrieg und Mauerfall. Larissa Boehning, die bereits für ihren Debütroman Lichte Stoffe mit Preisen bedacht wurde, ist eine kluge, behutsame Erzählerin, die stets den Überblick behält und sich trotz der ausufernden, elegisch schönen Sprache nicht in den Wortgebirgen verliert. Sie richtet den Fokus auf drei Frauen, die einander furchtbar ähnlich sind, die voneinander gelernt und Verhaltensweisen übernommen haben und sich gerade deshalb eine von der anderen abgestoßen fühlen. Sie stellt diese drei Frauen auf eine Bühne, deren Kulisse wildes Zeitgeschehen ist: die Vertreibung der Deutschen aus Russland, Bombenregen über Berlin, der Bau der Mauer. Nadja fühlt sich entwurzelt, sie igelt sich ein und verweigert sich, sie gibt die innere Distanz zum Leben weiter an Senta, die sich in ihrer eigenen Tochter wiederum gespiegelt sieht: “Aber in der nächsten Sekunde stieß das Nebulöse, das von Katarina ausging, sie ab. Es ähnelte ihrer eigenen Weltabgewandtheit zu sehr.” Auch Katarina trägt schwer an diesem Familienerbe: “Nie fiel Katarina deutlicher auf, wie sehr sie die Tochter ihrer Mutter war. Genau wie Senta wußte sie nichts zu sagen, fühlte sich eingeengt durch ihre Ernsthaftigkeit, ständig beschäftigt mit dem Versuch, das Leben zu begreifen, während sie mit großem Abstand davorstand und meinte, es nur ausgiebig betrachten zu müssen.”

Und so ist Das Glück der Zikaden eine intelligente, detailreiche Auseinandersetzung mit Heimatlosigkeit und Distanz, mit Unnahbarkeit und den Wunden, die sie in allen Kindern schlägt. Handlung gibt es ausreichend in diesem Buch, und doch liegt die Gewichtung auf dem Fühlen, auf dem Innerlichen, auf der Wechselbeziehung zwischen Empfinden und Erleben – mitten in einer gefährlichen, sterbenselenden Zeit. Dies ist ein Roman über Frauen, die Männer sind auf den ersten Blick nur Begleitpersonen. Es stellt sich jedoch heraus, dass alle drei Frauen völlig fremdbestimmt sind, ihr Leben aus der Hand geben und dann erstaunt und unglücklich zusehen, was mit ihnen geschieht. Bewusst ist ihnen dies durchaus, wie Senta es ausdrückt: “Hier würde sie bleiben und den Schlaf ihres Mannes bewachen, dafür sorgen, dass alles so blieb, wie es war. Auch, wenn es bedeutete, sich wie die Schafe abzustumpfen, gefühllos zu werden, die Reste Schmerz zu verbannen, die ab und zu ihr Herz aufzurühren imstande waren.” Sie lösen sich fast auf, diese Frauen, treiben ankerlos durch die Tage, haben kaum Berührungspunkte mit der Realität. Stilistisch erinnert Larissa Boehning an die Größe von Julia Franck (auch inhaltlich an den grandiosen Roman Die Mittagsfrau) und Zsuzsa Bánk. Das Glück der Zikaden ist herausragend gut geschrieben, es verlangt Aufmerksamkeit, es leuchtet.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
die Collage finde ich schön, das Gesicht mit dem schief aufgemalten Lippenstift erscheint mir allerdings unpassend, keine der drei Frauen stelle ich mir so vor.
… fürs Hirn: die Charakterstudie der Figuren: voller Optimismus dem Leben gegenüber versus zu willenlos, um nicht an seinen Klippen zu zerschellen.
… fürs Herz: der Schmerz, der mit all der Einsamkeit und der vererbten Unnahbarkeit einhergeht.
… fürs Gedächtnis: die Szene, in der Nadja vor den russischen Soldaten um ihr Leben singt.

Das Glück der Zikaden ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-039-6, 19,99 Euro, 320 Seiten).

Netter Versuch: 2 Sterne

“Weil es schlimmer nicht mehr kommen kann und schlimmer kommen wird”
Helen und Joseph sind seit der Kindheit beste Freunde, als Helens Finger im Sandkasten von einem Kindergartenrowdy abgetrennt wurd und Joseph ihr beistand. Als Helen nun – etwa 50 Jahre später – zwei Mal von Josephs Tod träumt, den er freiwillig herbeiführt, indem er sich in einen Sarg legt und erstickt, erfasst sie Panik. Sie ist eine rationale, nüchterne Frau, eine Bibliothekarin, die das Kategorisieren verinnerlicht hat: “Sie weiß, wohin ein Buch gehört. Sie kategorisiert es, versieht es mit einer Signatur, bestimmt den Platz im Regal und die Links für die Internetrecherche. Es ist die Basis ihres Jobs, und mit Menschen verhält es sich nicht anders als mit Büchern.” Helens Leben ist auffällig leer, geradezu trostlos, ihre Ehe mit dem betrügerischen Ehemann geschieden, und sie weiß, was alle denken: “Es hat so kommen müssen mit ihr und der Einsamkeit.” Der junge, dicke Fernsehkoch Paco stellt ihr nach, und da die Mutter im Krankenhaus weilt, muss sie sich um Herrn Nienhaus – den sie niemals Vater nennt – kümmern. Die Angst vor Josephs unmittelbarem Tod bringt die kühle Helen aus der Fassung und zwingt sie dazu, die Augen zu öffnen und den Blick dorthin zu richten, wo all die Jahre nur Schatten war.

Die deutsche Autorin Husch Josten hat mit ihrem Erstlingswerk In Sachen Joseph ein sehr eigenwilliges, verqueres Buch geschrieben, das sich – was für Helen wohl eine Pein wäre – überhaupt nicht schubladisieren und kategorisieren lassen will. Ihr Schreibstil ist stellenweise elegant, dann wieder überladen, die Mischung aus fließenden Sätzen und abgehackten Wort-Punkt-Kombinationen ohne Verb ist irritierend, wie ein Auto mit ruckelndem Motor. Dies ist keine Sprache zum Schwelgen, sie ist klobig und zäh. Was die Beziehung zwischen Helen und Joseph betrifft, so bereitet sie mir von Anfang an Unbehagen, die Lektüre wirft eine Menge Fragen auf, warum treffen die beiden einander nie, wieso ist Joseph überhaupt nicht greifbar, weshalb gibt es kaum Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse? Ich wundere mich, was das für eine Freundschaft sein soll – und komme recht bald zu einer Überzeugung, die sich letztlich als richtig herausstellt. Das macht eine Bewertung nun heikel, denn obwohl ich die Konstruktion der Handlung durchschaubar fand und nicht überrascht war, ist der Roman dennoch sehr gefinkelt und wird mit Sicherheit viele Leser in Erstaunen versetzen und ihnen gefallen – wie etwa Ada und flattersatz. Es ist daher höchst subjektiv, wenn ich sage, dass der Handlungsverlauf bei mir keine Begeisterung ausgelöst hat. Sehr subjektiv ist auch, dass Helen für mich eine zutiefst unsympathische und uninteressante Frau ist, deren Schicksal – wenn man bei all der Ereignislosigkeit in ihrem Leben überhaupt von Schicksal sprechen kann – mich gleichgültig lässt. Dies ist kein Buch über Freundschaft im eigentlichen Sinne, eher über Einsamkeit und Stille, über die schweren Lasten, die von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, über Fantasie und die Tatsache, dass nun einmal niemand das Alleinsein erträgt. Es widerstrebt mir, dieses Buch zu verunglimpfen, da ich glaube, dass es durchaus lesenswert ist – nur eben leider nicht mein Fall.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist okay, mit der Schrift Borgis Joanna MT verwendet bup eine sehr schöne Serifenschrift.
… fürs Hirn: die Wahrheit hinter allem und ihre Bedeutung. Die Tragik, die Tragik!
… fürs Herz: die schreckliche Geschichte aus Herrn Nienhaus’ Kindheit, die er Helen schließlich offenbart.
… fürs Gedächtnis: in meinem Fall nur der ungewöhnliche Vorname der Autorin.

In Sachen Joseph ist erschienen bei Berlin University Press (ISBN 978-3-86280-001-8, 19,90 Euro.)

Für Gourmets: 5 Sterne

Die Liebe, die Liebe, die Liebe
Wo die Liebe hinfällt, dort will sie wachsen, doch als Ada Bo trifft, ist gleich klar, dass die Liebe in diesem Fall auf schwierigem Boden gesät hat. Mit Böden kennt Bo sich aus, er ist Bauer, Ada dagegen lebt in der Stadt und studiert Literaturwissenschaften. Ada hat Bücher, Bo hat Schweine. Und trotzdem zieht es die beiden zueinander hin, seit sie sich auf Tante Rosis Beerdigung gesehen haben, als Nebenberufssargträger Bo das Gebetbuch ins Grab gefallen ist. Ada verbringt immer mehr Zeit auf Bos Hof, mit seinen Kühen und seiner Leitsau Sigfried, ihr gefällt dieser starke Mann, der so anders ist und anders riecht als sie: “Er trug Gummistiefel und grüne Kordhosen und ein schmutziges Flanellhemd. Seine blonden Locken rollten sich widerspenstig über den Kragen. Seine Hände waren rau und schwarz und in Bos Küche roch es nach Schwein und Kaffee.” Ada beobachtet Bo gern – und das ist ein Problem, das Ada schon seit ihrer Kindheit von ihrer Mutter und bald auch von Bo den Vorwurf einbringt: “Du siehst dem Leben nur zu.” Seltsam passiv ist Ada, ohne Willen oder Wunsch, antriebslos, verloren. Freunde hatte sie nie – außer vielleicht die ebenso stumme Elisabet, der sie später beisteht -, weil sie nicht weiß, wie das geht, mit der Welt in Kontakt treten, einen Gesprächsfluss erzeugen, sich beteiligen. Auch Bo will Beteiligung von Ada, er will sie, diese ganze sture, schweigsame, schüchterne Frau, die nicht kochen und nicht melken kann und die er trotzdem liebt. Aber was will Ada? “Insgeheim wussten wir, dass ich nie eine Bäuerin und Bo nie kein Bauer sein würde, aber wir fühlten einander und machten ansonsten die Augen zu.” Und so beginnt ein stiller Kampf, weil die Liebe wachsen will, größer und stärker werden, und weil sie es nicht kann in diesem unwirtlichen Klima zwischen Lebensangst, Schweinemist und unüberbrückbaren Differenzen: “In diesem Augenblick wurde mir klar, wie klug Bo war, und dass seine Klugheit eine andere war als meine. Bo hatte sein Wissen aus dem Leben und irgendwie auch aus dem Herzen. Ich hatte meines aus Büchern und es konnte doch nicht gut gehen mit uns, und während mir sein Geruch in die Nase stieg, flüsterte ich Bo ins Ohr, du bist so dumm, Bo, und er lachte und flüsterte zurück, und du erst, Ada.”

Obwohl sie nichts anderes tut als lesen und studieren, sind die Worte nicht Adas Freunde, sie findet nie welche, geschweige denn die richtigen. Sie ist neurotisch, abwesend und still, sie lebt hinter einer Glaswand, bis die Bo trifft. Doch wenn einem die Worte fehlen, um ein so großes Gefühl zu kommunizieren, wird dieses Gefühl schwer und erdrückend. Unendlich einfühlsam erzählt Nicole Balschun in Ada liebt von einer Liebe, die so gern sein möchte und nicht kann. Sie tut dies in einer klaren, einfachen, formvollendeten Sprache, perfekt bis zum letzten Buchstaben, elegant, fließend, schön. Dies ist ein Roman, der dem Leser – und es gibt keinen anderen Ausdruck als diesen verkitschten – das Herz bricht, ihn wünschen lässt, er könnte gute Fee spielen, hineingreifen in die Handlung und sie beeinflussen, Ada und Bo an den Schultern packen, ihnen die Zweifel aus dem Kopf schütteln, ihnen den Mut ins Herz zaubern. Dies ist ein Buch, das sich nicht weglegen lässt, das in einem Rutsch gelesen werden will, atemlos, voller Hoffnung, voll heimlicher Wut auf die beiden Protagonisten, die sich doch – bitte! – endlich zusammentun mögen, und zugleich voll Sympathie und Verständnis für sie.

Herrlich gelungen ist die Charakterisierung von Ada und Bo, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Bo hat Kraft, er ist schmutzig, direkt, schlau, und Ada ist derart verzärtelt und krankhaft abweisend, dass sie gar nichts kann, nicht kochen, nicht helfen, nicht reden – man fragt sich, wie sie überhaupt leben kann. Auf einen Schlag stehen die beiden einander gegenüber, und was dann passiert, ist so lustig wie traurig. Schlagfertige Dialoge, ein unfassbar guter Schreibstil, Witz, Weisheit und Realitätssinn machen Ada liebt zu einem Juwel, einem literarischen Schatz, einem besonderen Leseerlebnis – und zu meinem Buch des Monats. Kaufen, lesen, verlieben, seufzen, genießen!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein unaufgeregtes, passendes, stilvolles, ironisches Cover.
… fürs Hirn: die Frage: Was würde ich tun mit der Liebe zu einem, der Schweine und Kühe hat, Gummistiefel und ein völlig anderes Leben?
… fürs Herz: alles, alles, dies ist ein Buch fürs Herz, ein Herzensbuch, mit jeder Zeile, jedem Satz!
… fürs Gedächtnis: die wunderbar unkitschige Romantik, die zwischen Friedhof, Kuhstall und Oper entsteht – weil dies die Orte sind, an denen gelebt wird, keine künstlichen Werbekulissen, keine Scheinheiligkeit.

Ada liebt ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-8552-7, 13,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Auseinandersetzung mit einem mutterlosen Leben
“Mit dem Weggehen hast du schon angefangen, als ich noch klein war.” Lorenzos Mutter ist viel unterwegs, anfangs nur für kurze Zeitspannen, dann immer öfter und länger. “Es wurde immer komplizierter, Platz zu finden, wo ich die Souvenirs, die du mir mitgebracht hast, hinstellen konnte, ohne sie übereinanderstapeln zu müssen. Sie kamen aus allen Ländern, aus jedem Winkel des Planeten, mein Zimmer wurde mit jeder Reise mehr zu einer Landkarte deiner alltäglichen Abwesenheit.” Die Mutter hat ein Schlankheitsei erfunden, in das man sich setzt, um dünner zu werden, ein Erfolgshit im Angesicht des Schlankheitswahns. Sie präsentiert es auf der ganzen Welt, um es zu verkaufen, gemeinsam mit ihrem Kompagnon Anselmi, der – das ahnt schon der kleine Lorenzo – weit mehr ist als ein Geschäftspartner. Den Sohn lässt die Mutter zuhause bei ihrem Lebenspartner, der nicht sein Vater ist und doch der einzige Papa, den er kennt: “Das Warten auf deine Rückkehr war für uns beide der einzige Zustand, der unser Zusammenleben in derselben Wohnung rechtfertigte.” Und als die Mutter schließlich ganz ausbleibt, als sie weggeht für immer, um ihre Firma im Zuge der EU-Erweiterung und der allgemeinen Goldgräberstimmung im Osten nach Rumänien zu verlegen, zieht dieser Mann Lorenzo auf, als wäre er tatsächlich sein Sohn. Viele Jahre später stirbt die Mutter, und Lorenzo fährt nach Bukarest, um sie zu begraben, um seine Füße dorthin zu setzen, wo sie gegangen ist, um sie zu verstehen und loszulassen.

Lorenzos Reise des italienischen Schriftstellers Andrea Bajani ist ein Buch der leisen Töne, zurückhaltend in seiner Anklage, sanft in seiner Traurigkeit. Ich-Erzähler Lorenzo spricht direkt mit seiner Mutter in diesem Roman, als wäre sie anwesend, hier, neben dem Leser, er redet sie an mit du, eine ungewöhnliche und in diesem Fall perfekte Erzählform. Schwerfällig wird die Sprache nur immer dann ein wenig, wenn Lorenzo von früher berichtet, denn das Deutsche stellt dafür nur das sperrige Plusquamperfekt zur Verfügung. Das kann man aber weder dem Autor noch der Übersetzerin zu Lasten schreiben, und so ist Lorenzos Reise ein inhaltlich wie sprachlich gelungener, weil ausbalancierter und fein nuancierter Stimmungsroman. Es geht um ein großes Gefühl in diesem Buch, um eine Liebe, die eines jeden Leben bestimmt – ob sie nun da ist oder nicht -, um eine Person, die die Schicksalsfäden zieht: die Mutter. Eine Mutter-Kind-Beziehung ist mit unendlich vielen Emotionen und aufgrund ihrer Wichtigkeit mit zahlreichen Tabus behaftet, und in uns allen ist tief verankert, dass eine Mutter ihr Kind nicht im Stich lässt. Ein Vater, ja, ein Vater geht, aber eine Mutter bleibt bei ihrem Kind, hütet, schützt, nährt und liebt es. Umso mehr schmerzt den Leser, wie allein Lorenzo war ohne seine Mutter, obwohl er nie um Mitleid heischt. Während sie zu Beginn jeden Sonntag anrief, war es zum Schluss nur noch einmal im Jahr, und jetzt, da sie tot ist, wandelt der Sohn in Rumänien auf den Spuren einer Frau, die er gar nicht kannte. Ihr Kompagnon Anselmi ist ein präpotentes Arschloch, ihr Fahrer Christian ein mitfühlender, aber distanzierter Kerl, und ihr einziger Freund, der Bestatter Viarengo, konnte sie nicht vor dem Verfall retten.

Das Ausmaß ihres Scheiterns schlägt die scharfen Krallen der Ironie in Lorenzos Gefühlswelt, ihre Einsamkeit macht ihren Weggang und seinen Schmerz sinnlos. Dennoch hadert Lorenzo nicht, er sucht nicht, weil es nichts zu finden gibt in diesem Land, das seiner billigen Arbeitskräfte wegen ausgebeutet wird, und Abschied hat er schon lange genommen: “Und so schauten wir einfach in die Ferne, denn ich mochte ihn nicht fragen, was dir passiert war, und er war nur aufgestanden, weil er die Frage nicht auf den Knien liegen haben wollte wie einen Blindgänger.” Lorenzos Reise ist ein Roman über Alleinsein und Verlust, über Niederlagen und den Stolz, diese nicht eingestehen zu können, über Familienbande, die nicht halten, und über das, was nach dem Tod bleibt von uns: nichts.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
nun ja, immerhin ist ein Kind auf dem Cover, wenn auch zu sehr verdeckt von dem überdimensionalen Teller.
… fürs Hirn: die Beschreibung der arroganten Italiener, die glauben, ganz Rumänien habe nur auf sie, ihre grandiosen Geschäftsideen und das klimpernde Kleingeld in ihren Hosentaschen gewartet.
… fürs Herz: die Szene auf dem Sofa, als Lorenzo und seinem Papa bewusst wird, dass die Mutter nicht mehr kommen wird, nie mehr.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Er hat mit seiner Ruhe unsere ganze Wohnung neu möbliert, wenn er da war, gingen wir alle ganz langsam, so wie die Astronauten auf dem Mond.”

Lorenzos Reise ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-24866-2, 14,90 Euro).

Bücherwurmloch

Zitat der Woche
Hindus, in their capacity for love, are indeed hairless Christians, just as Muslims, in the way they see God in everything, are bearded Hindus, and Christians, in their devotion to God, are hat-waring Muslims.

Aus: Life of Pi von Yann Martel

Netter Versuch: 2 Sterne

“Für einen Augenblick habe ich Angst, dass ich in der Nacht gestorben bin”
Hohl ist das Leben von Alex, dessen Eltern in Amerika reich wurden und der sich dank ihres Erbes jegliche Extravaganz leisten kann. Und weil der Inhalt fehlt für seine Tage, füllt er sie mit Frauen und Wein, ganz im klassischen Sinne eines attraktiven Schwerenöters. Geldsorgen kennt auch Pia nicht, die ebenfalls vom Reichtum der verstorbenen Eltern profitiert, doch die Diagnose einer tödlichen Krankheit entzieht ihr ruckartig den Boden unter den Füßen- Pia hat alles außer Zeit, der Krebs frisst ihren Körper, raubt ihr die Kraft. Und Pia erinnert sich an Alex, den sie eins geliebt hat, den sie für den Einzigen hielt: “Seit ich weiß, dass ich krank bin, denke ich oft an die Menschen, die ich gekannt habe, an den einzigen Menschen, wie ich mir eingestanden habe, der für mich, von meiner Familie abgesehen, jemals von Bedeutung war.” Der nahende Tod drängt Pia dazu, in die Vergangenheit zu blicken, an jenen Punkt, als sie im Alter von 10 Jahren Alex traf – der schon damals mit ihr schlafen wollte -, an jenen Sommer, als sie 16 waren und mehrere Wochen lang allein Urlaub machten. Schließlich bricht sie auf, um Alex ein letztes Mal zu sehen.

Alexander Schimmelbusch hat mit Blut im Wasser eine zweistimmige Erzählung verfasst, eine sehr kurze, keinen Roman in meinen Augen – dafür fehlt es an der Ausarbeitung der Figuren, an einer Vertiefung der Geschehnisse, an einem Mehr an Handlung. Zwei Ich-Erzähler berichten aus einem sehr abstrakten Alltag, nichts Konkretes, und die beiden geschilderten Lebenswirklichkeiten scheinen derart verschieden, als hingen sie nur zusammen durch Pias Behauptung, es habe damals einen Berührungspunkt gegeben. Denn während Pia mit dem Ende ihres Lebens hadert, hat der gelangweilte Alex unbekümmert Sex, und während Pia ihn erinnert, denkt er nicht an sie, nicht ein einziges Mal. Dieser Gegensatz ist krass und lässt Pias Seite der Erzählung allzu sehr ins Dramatische kippen, widmen sich doch auf der Gegenseite Alex’ Gedanken nur dem Wein, dem Geschlechtsverkehr, dem Geld und seiner Mutter. Beide sind völlig allein, und Alexander Schimmelbusch säuselt ihnen die Frage ins Ohr: Was wäre gewesen, wenn … ihr euch anders entschieden hättet? Pia verspürt unversöhnlichen Zorn, Alex fühlt nur Gleichgültigkeit. Deshalb muss das Ende wohl sein, wie es ist: brutal und erbarmungslos wie das Leben selbst. Kein Mitleid gibt es für Pia und Alex, aber auch keine Seele, kein Gesicht. Blut im Wasser ist eine Abhandlung über die Oberflächlichkeit, die aufgrund ihrer Kürze selbst oberflächlich bleibt, die Figuren sind blass und stereotyp – reich und blasiert -, die Klischees nicht in gelebte Realität umgesetzt. Ein Versuch, der Talent und Intelligenz erahnen lässt, aber nicht vollständig gelingt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein Cover mit schönen Farben und einem Schuss Sinnlosigkeit.
… fürs Hirn: der Einblick in die Wir-haben-alles-Gesellschaft, der es – wir haben es tausendfach gehört und gelesen – aus Langeweile an Seelenleben fehlt.
… fürs Herz: das Herz bekommt kein Futter in diesem Buch, es wird stumm gehalten und betäubt mit Wein, weil die Leere sich sonst nicht ertragen lässt.
… fürs Gedächtnis: das bittere Ende.

Blut im Wasser ist erschienen im Blumenbar Verlag (ISBN 978-3-936738-58-2, 16,90 Euro).