Für Gourmets: 5 Sterne

“Er wollte alles, was man nur haben konnte, und noch viel mehr”
Die junge Hadley führt ein zurückgezogenes Leben als lediges spätes Mädchen im Haus der verheirateten Schwester, und es reißt sie aus ihrer Lethargie, als sie bei einem Besuch in Chicago Ernest trifft. Er ist jünger als Hadley und träumt davon, ein großer Schriftsteller zu werden; wie ein Wirbelwind fegt er durch Hadleys gesamte Existenz. Sie schreiben einander gewitzte, hoffnungsvolle Briefe und gehen das Wagnis der Ehe ein – praktisch ohne sich zu kennen. “Wie unglaublich naiv wir beide in dieser Nacht waren. Wir hielten uns aneinander fest und gaben uns Versprechen, die wir nicht halten konnten und die wir nie hätten aussprechen sollen. Aber so ist die Liebe manchmal.” Und so wird Hadley Ernest Hemingways erste Frau, sie zieht mit ihm nach Paris, sie ist ihm eine Stütze und erdet ihn, der zu einem Höhenflug ansetzt, sie ist “gut und stark und echt”. Im wilden Paris der 1920er-Jahre, einer Zeit, in der in den Elitekreisen kaum jemand an die Ehe glaubte, versuchen Hadley und Ernest, den zügellosen Liebes- und Dreiecksgeschichten ihrer Freunde – darunter F. Scott Fitzgerald und Zelda, Ezra Pound, Gertrude Stein – zum Trotz, an ihrer Zweisamkeit festzuhalten. Wie eine Löwin kämpft die biedere, freundliche, herrlich normale Hadley um ihren Mann, in der fiebrigen Atmosphäre einer Stadt, die sich gebärdet wie eine verlogene Hure, und sie bleibt auch dann noch aufrecht stehen, als sie alles, alles verliert.

Ernest Hemingways Name und Werk ist jedem, der sich einer halbwegs anständigen Allgemeinbildung rühmen darf, ein Begriff. Er gilt als einer der Vorreiter eines klaren, schnörkellosen Schreibstils; er soll ein Macho gewesen sein, ein Lebemann. Paula McLain porträtiert auf eine unfassbar authentische Weise einen jungen, unsicheren Ernest, der genau weiß, was er will, der treu sein möchte und ehrlich – und am Ende doch den Verlockungen der Pariser Sirenen erliegt. Getragen wird dieser Roman, der sich auf der New York Times-Bestsellerliste platzierte, von Hadleys Stimme, die Paula McLain so meisterhaft eingefangen hat, dass ich ihr jedes Wort glaube, das wahre wie das erfundene. Woher kann sie all dies wissen, frage ich mich während der Lektüre, was ist Realität, was Fiktion? Antworten finde ich – ausnahmsweise einmal hocherfreut über Zusatzmaterial – im Anhang in einem Interview, in dem die Autorin erklärt, dass es viele Biografien über ihre Hauptfiguren gibt und ihr Hemingways Buch über die Pariser Zeit Paris – Ein Fest fürs Leben wichtige Informationen geliefert hat, und in dem sie sagt: “Ich habe alles erfunden, worüber ich nichts Sicheres wissen konnte, etwa die gesamten Dialoge im Roman. Auf einer tieferen Ebene, auf der einem keine Biografie der Welt weiterhelfen kann, wusste ich allerdings bereits, was im Herzen der Geschichte lag.” Sie zeigt Hadley als intelligente, einfache, humorvolle Frau, eine treue Seele, von einer ganz anderen Anmut als die glitzernden Schönheiten der 20er-Jahre, und sie offenbart, welch wichtigen Einfluss Hadley auf Ernest und seine Karriere hatte: Es steht eben doch eine erfolgreiche Frau hinter jedem erfolgreichen Mann.

Dieses Buch entfaltet einen wunderbaren Sog, in den ich mich fallen lasse, der mich auf Wortwellen durch ein schillerndes Paris treibt, immer ganz nah an diesem besonderen Paar, seinen Kämpfen, seiner Liebe, seinem Scheitern. Respektvoll ziehe ich meinen Lesehut vor Paula McLain, die so behutsam, schlau und mit dem richtigen Gespür für Tempo und Detailreichtum Wahrheit und Fiktion verknüpft hat zu einem engmaschigen, weichen Netz, das den Leser einfängt und vor Vergnügen zappeln lässt. In ihrer ausbalancierten, stimmungsvollen Sprache bade ich voll Wonne, mit ihrer mutigen, liebenden Protagonistin leide ich mit. Dieser Roman weckt eine Bandbreite an Gefühlen im Leser, Wut und Mitgefühl, Neid und Verständnis. Funkelnd leuchtet die Kulisse von Paris, oder um die Worte der Autorin auszuleihen: “Die zwanziger Jahre in Paris waren eine einmalige Zeit, und das Leben der Hemingways dort war voller unglaublicher Abenteuer und unwiderbringlicher Begegnungen, so dass ich unendlich dankbar bin, diese Jahre noch einmal mit ihnen durchlebt haben zu dürfen.” Ich auch!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein elegantes Cover, das die Rahmenbedingungen des Buchs gut spiegelt.
… fürs Hirn: die grandiose, aufgeregte Nichts-zu-verlieren-Atmosphäre nach dem Ersten Weltkrieg im goldenen Paris.
… fürs Herz: der Schmerz, der bittere, eklige Schmerz einer betrogenen Frau.
… fürs Gedächtnis: zum Glück werde ich mich noch lange an diesen wunderbaren, lesenswerten Roman erinnern. Er ist einer, der bleibt.

Dieser Roman ist nominiert für den “M Pionier”-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

Bücherwurmloch

Zitat der Woche
Das alles geschah natürlich ohne Worte, wie die großen, gefährlichen Dinge eben zu geschehen pflegen. Wenn man redet, weint und schreit, ist es schon leichter.

Aus: Wandlungen einer Ehe von Sándor Márai

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Dem Schicksal mit einem Schulterzucken begegnen
“Vielleicht war etwas in der Luft, was sich veränderte, ich weiß es nicht, aber ich behielt die Sonnenbrille auf. Ich beschloss, sie ständig zu tragen, zumindest tagsüber. Ich mochte den Abstand, den sie erzeugte.” Dem Schuldirektor allerdings ist der renitente 13-Jährige, der die Sonnenbrille nicht abnehmen will, ein Dorn im Auge. Audun verweigert sich und will nicht reden, weder über die Brille noch über seine Familie, auch nicht über den Umzug vom Land in die Stadt. Audun lebt mit seiner Mutter im Arbeiterviertel von Oslo, frühmorgens trägt er die Zeitung aus. Obwohl niemand ihm wichtig ist, findet er einen Freund im politisch interessierten Arvid. Den kann er dringend gebrauchen, hat er doch sonst niemanden, der ihn stützt: Die Schwester ist ausgezogen und lebt bei ihrem Freund, einem Schläger, der Bruder tödlich verunglückt, der prügelnde Vater verschwunden, aber noch nah wie eine unsichtbare Bedrohung. Audun begeistert sich für Literatur von Hemingway und anderen, schmeißt aber trotzdem ein Jahr vor dem Abschluss die Schule hin, um in einer Druckerei am Fließband zu arbeiten. Die Perspektiven für eine unbeschwerte Zukunft sind dürftig mit Voraussetzungen, wie Audun sie mitbringt, und doch kämpft er sich durch, mit eisernem Willen und schnellen Fäusten, um vielleicht ein bisschen glücklich zu werden.

Der Norweger Per Petterson wurde für sein Werk – darunter die Romane Pferde stehlen, Im Kielwasser und Ich verfluche den Fluss der Zeit – mehrfach ausgezeichnet. Völlig zu Recht, denn seine Prosa ist kraftvoll, schlicht und schlau, seine Charaktere sind stets nordisch verschroben, schweigsam, stark. In Ist schon in Ordnung porträtiert er einen Halbstarken, der – mithilfe von Schlaghose und Rockmusik – verschmelzen will mit der Umgebung, gleichzeitig aber Distanz wahrt, eine Sonnenbrille trägt, sich raushält, um nicht verletzt zu werden. Hat er doch genug Verletzungen ertragen müssen bisher: “Kann sein, dass meine Mutter hübsch ist, es fällt mir schwer, das zu beurteilen. Auf dem Land habe ich einmal gesehen, wie sich auf der Straße ein Mann nach ihr umgedreht hat, aber vielleicht war auch nur ihr Lippenstift verschmiert, oder sie hatte an dem Tag ein blaues Auge. Das hatte sie manchmal. Ich auch. Wenn mein Vater lange genug am Stück zu Hause war, hatten wir alle eins.” Alkohol und Gewalt dominieren den Alltag (nicht nur) in den norwegischen Durchschnittsfamilien, und dieses Buch zeigt ganz schmutzig und direkt, ungeschönt und frei von Humor die Schäden an Körper und Seele, die jeglicher Missbrauch an Kindern hinterlässt. Per Pettersons Hauptfigur Audun ist ein typischer Teenager, zutiefst verunsichert und auf Zuneigung angewiesen, gleichzeitig aber wegen der Umstände frühzeitig eigenständig und unabhängig.

Subjektiv gesehen muss ich sagen, dass für mich keines von Pettersons anderen Werken an das unsagbar schöne Pferde stehlen heranreicht, ich seinen schnörkellosen, selbstgenügsamen Stil aber sehr mag. Dieses Buch, im Original bereits 1992 erschienen, nennt die Times “sensibel, klar und messerscharf”; es ist voller Resignation und Hoffnung, voll Wut und Bitterkeit. Stärke bezieht Audun – wie alle von uns von Zeit zu Zeit – aus dem Schulterzucken, mit dem er Schicksalsschläge abtut, den Kragen hochgeschlagen und die Zigarette im Mundwinkel, was hilft es, was bleibt anderes, als mit nonchalanter Wegwerfbewegung zu sagen, Leck mich am Arsch, ist schon in Ordnung.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover erinnert an James Dean und Konsorten, lässt das Raubeinige, Dreckige, Gleichgültige, das den Kern dieses Romans ausmacht, erahnen.
… fürs Hirn: das Wissen, dass Auduns familiäre Situation keine Ausnahme, sondern die Regel ist.
… fürs Herz: der Mut, mit dem Audun sich durchbeißt, die Gefühle hinunterschluckt und weitermacht, immer, immer einfach weitermacht.
… fürs Gedächtnis: jene Zeit im Sommer, die Audun ganz allein in einem Pappkarton unweit seines Zuhauses verbringt.

Ist schon in Ordnung ist erschienen im Carl Hanser Verlag (ISBN 978-3-446-23640-0, 19,90 Euro, 224 Seiten).

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Wenn du mit einem Schweden um die Wette saufen willst, solltest du zumindest Finne oder Russe sein”
Allan Karlsson hat ein stolzes Alter erreicht: 100 Jahre zählt der Schwede, der geistig noch verblüffend fit ist und deshalb keine Lust hat, im Altersheim mit den Greisen, der lästigen Schwester Alice und dem Bürgermeister seinen Geburtstag zu feiern. Er klettert kurzerhand aus dem Fenster – in Pantoffeln und mit wenig Geld – und marschiert zum Busbahnhof. Dort stiehlt er einem jungen Mann ebenso spontan einen Koffer, in dem zufällig mörderisch viele Kronen stecken, und mit seiner völlig ungeplanten Busfahrt nach Byringe beginnt ein abenteuerlicher Roadtrip, der Allan neue Freunde, viele Zeitungsschlagzeilen, zwei Todesopfer und die Bekanntschaft mit einem Elefanten bescheren wird. Den Hundertjährigen kann aber so schnell nichts überraschen, hat er doch mehr erlebt, als auf eine Kuhhaut passt: Er hat mit General Franco, Präsident Truman und Stalin getrunken, seine Finger beim Bau der Atombombe im Spiel gehabt, eine von Maos Frauen gerettet, jahrelang Urlaub gemacht und unter anderem Brücken, Autos sowie eine gesamte russische Stadt in die Luft gesprengt. Und das ist nur ein Auszug aus seinen Erlebnissen in den letzten 100 Jahren. Man könnte auch sagen: Allan Karlsson hat seine Lebenszeit voll ausgenutzt – und er denkt auch jetzt nicht daran, es mal ein bisschen langsamer angehen zu lassen.

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand ist ein Buch, das mit schwingenden Schritten daherkommt, keine Ansprüche stellt, nicht hochliterarisch sein mag, sondern vor allem eins will: Spaß machen. Dies ist ein wildes, kurioses, erfreulich unernstes Buch, in dem ein Autor – der Schwede Jonas Jonasson – sich nach Herzenslust ausgetobt hat, ganz ohne Rücksicht auf historische Tatsachen, die Grenzen der Realität oder Geschmacklosigkeit. Das ist dermaßen verrückt und übertrieben, dass man kopfschüttelnd lachen muss, ob man will oder nicht. Protagonist Allan interessiert sich nicht die Bohne für Politik – hat aber, als unbedarfter, freundlich-naiver Hans-guck-in-die-Luft, größten Einfluss auf so ungefähr alle wichtigen Ereignisse der gesamten Weltgeschichte. Dieser Roman ist komplett erstunken und erlogen – und will das gar nicht verbergen, nein, charmant und mit ironischem Augenzwinkern führt Jonas Jonasson den Leser an der Nase herum und tischt ihm eine gigantische Lügengeschichte auf. Um sich das Vergnügliche aus diesem Buch herauszupicken, muss man eine ordentliche Portion und den Willen, belustigt zu werden, mitbringen; ich vermisse bei all der Clownerie ab und zu die Abgeklärtheit von John Irving oder Arto Paasilinna. Die absurden Rückblenden sind in meinen Augen wesentlich witziger als die verquere Flucht Allans und seiner Freunde vor der schwedischen Mafia und der Polizei. Gesoffen wird unendlich viel in diesem Roman, der Schnaps fließt in Strömen, und unter diesem Aspekt verwundert Allans Alter nicht: Er ist in Alkohol eingelegt und konserviert. Es gibt kaum Adjektive, die diesem Buch gerecht würden: amüsant ist es und herausfordernd, opulent, unglaublich, bunt. Wer offen dafür ist, hört die Botschaft heraus, das Leben nicht so ernst zu nehmen. Fazit: Münchhausen at his best!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
ein schönes, filigranes Cover, die Idee mit dem Reisekofferetikett finde ich sehr gut. Auch innen ist der Elefant gezeichnet.
… fürs Hirn: das Hirn ist auszuschalten in diesem Fall. Nicht nachdenken, nur unterhalten lassen!
… fürs Herz: dieses Buch mag nicht ans Herz gehen, sondern an die Lachmuskeln.
… fürs Gedächtnis: wegen der übergroßen Vielfalt an Verrücktheiten kann einem kaum ein Einzelereignis aus diesem Roman in Erinnerung bleiben. Eher das ganze schillernde Buch!

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand ist erschienen bei carl’s books (ISBN 978-3-570-58501-6, 14,99 Euro, 416 Seiten).


Dieser Roman ist nominiert für den “M-Pionier”-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

Gut und sättigend: 3 Sterne

Mennoniten, Männer und Mexico City
“Ich merke manchmal nur an dem Schmerz in meiner Brust, dass ich noch lebe, denn im Himmel gibt’s keine Schmerzen.” Grund für Schmerzen hat Irma genug, denn das Leben ist nicht einfach in einer strengen mennonitischen Familie in Mexiko. “Vor langer Zeit, in den zwanziger Jahren, reisten einmal sieben Mennoniten – alles Männer – von Manitoba zum Präsidentenpalast in Mexico City, um einen Handel abzuschließen. Man hatte ihnen das Land hier billig angeboten, und sie hatten beschlossen, das Angebot anzunehmen und ihre ganze Sippschaft aus der kanadischen Kolonie nach Mexiko zu verpflanzen, wo sie ihre Kinder weder in die staatliche Schule schicken noch ihnen Englisch beibringen oder normale Kleider anziehen müssten.” In Kanada hat auch Irma mit ihrer Familie gelebt – doch nach dem tragischen Tod ihrer älteren Schwester Katie, über den Stillschweigen bewahrt wird, bestimmte der Vater den Umzug. Inzwischen ist Irma 19, und um den Mexikaner Jorge heiraten zu können, hat sie mit ihrem Vater gebrochen. Jorge hat es ihr gedankt, indem er sie verlassen hat, und so lebt Irma nun wie eine Aussätzige auf dem Nebenhof ihrer Eltern ohne Kontakt zur Außenwelt und fragt sich: “Wie komme ich auf dieser Welt zurecht, ohne mich an die Anweisungen von meinem Vater, meinem Mann oder Gott zu richten?” Sie bekommt bald Gelegenheit, das herauszufinden, denn auf dem dritten Hof zieht eine Filmcrew ein und engagiert Irma als Übersetzerin. Die Mennoniten sind davon nicht im Geringsten begeistert, und dass der Regisseur völlig wahnsinnig ist, verbessert die Situation auch nicht gerade. Als sich die Lage plötzlich zuspitzt, muss Irma mit ihrer 13-jährigen Schwester Aggie und dem frischen Baby Xemina Hals über Kopf fliehen, in ihren altmodischen Röcken, planlos, voller Angst – und damit beginnt der Ärger erst.

Miriam Toews hat sich in Kleiner Vogel, klopfendes Herz an ein grandioses Patentrezept gehalten: Wähle einen überaus ungewöhnlichen Protagonisten, der allein durch seine Andersartigkeit interessant ist, und bilde die Welt durch seinen verblüffenden Wahrnehmungsfilter ab. Als Zugangsart hat sie sich nicht den melancholischen Blick auf ein Außenseiterdasein ausgesucht, sondern Witz und trockenen Humor. Komik ist Tragik in Spiegelschrift, so beweist es einmal mehr diese kanadische Autorin mit ihren beißend ironischen Sätzen wie: “Dann verstreuten sie sich über die ganze Welt und bildeten ihre Kolonien, auf der Suche nach Frieden, Freiheit, Einsamkeit und Käseverkaufsmöglichkeiten” oder “Ich überlegte, ob ich mir eine Kuh ins Haus holen sollte, zur Gesellschaft, bloß eine einzige. Eine kleine. Ich hätte auch im Stall schlafen können, wie Jesus, bloß ohne das ganze Gefolge und den Leistungsdruck.” Das ist sehr erheiternd, artet aber stellenweise ein wenig aus und wird zur Herumreiterei auf den ewig gleichen Themen. Das Wissen über den mennonitischen Alltag bringt Miriam Toews aus ihrer eigenen Lebensgeschichte mit; sie arbeitet in diesem Roman Autobiografisches auf. Dabei kann man nur hoffen, dass nicht allzu viele Ähnlichkeiten zwischen ihr und Buchfigur Irma bestehen, hat diese doch ein extrem großes Paket an – berechtigten – Schuldgefühlen zu tragen und kommt vor lauter Selbstgeißelung kaum zu etwas anderem. Irma ist – obwohl ihre Lebenssituation Sympathie wecken möchte – ein schwieriges, sprunghaftes, überraschend egoistisches Persönchen, und der Roman hält für sie wie für den Leser mehrere unerwartete Wendungen bereit. Kleiner Vogel, klopfendes Herz ist ein hektisches, anstrengendes und überladenes Buch, das aber gleichzeitig in seiner Sanftheit und Klugheit bewegt. Widersprüche müssen sich nicht auflösen, sie dürfen nebeneinander bestehen, und so ist dieser Roman witzig und traurig, hysterisch und ruhig, nervtötend und hervorragend zugleich. In jedem Fall einzigartig – und das will etwas heißen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sensationell! Ein einfallsreiches, tolles, wunderschönes Cover. Falls man es nicht erkennen kann: Das schwarze Knäuel besteht aus Filmrollen. Das zweitbeste Cover in diesem Jahr so far!
… fürs Hirn: die interessanten und humorvollen Bemerkungen zur Entstehung und zum Leben der Mennoniten.
… fürs Herz: die Szene, in der Irmas Mutter ihr Baby Xemina anvertraut.
… fürs Gedächtnis: die gesamte Ungewöhnlichkeit von Mennonitin Irma.

Kleiner Vogel, klopfendes Herz ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 9783827010292, 22 Euro, 288 Seiten).

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Des Frühlings Licht und Dunkelheit”
Krimiautorin Susanne sieht sich an Bord der Oden, einem Eisbrecher im Nördlichen Polarmeer, mit einem Szenario konfrontiert, das einem ihrer Bücher entstammen könnte: Jemand dringt immer wieder in ihre Kabine ein und hinterlässt ebenso widerliche wie mörderische Botschaften. Mögliche Kandidaten gibt es viele, denn auf dem riesigen Schiff tummeln sich Forscher wie Ulrika und John, Fernsehjournalisten, Matrosen, Schiffsarzt Anders und viele mehr. Wer hat es auf Susanne abgesehen und warum? Sie wollte die Schifffahrt eigentlich zum Schreiben nutzen, doch nun hat sie ein Rätsel zu lösen, und die Reise führt sie in ihre eigene Vergangenheit: zu ihrer Mutter Inez und deren Zwillingsschwester Elsie, zu ihrer Jugend als Mauerblümchen und zu ihrem Halbbruder Björn, der 40 Jahre zuvor mit der Band “Typhoons” zum gefeierten Popstar wurde – und dessen Schicksal die ganze Familie zerstörte.

Majgull Axelsson ist eine Grande Dame der schwedischen Unterhaltungsliteratur. Vor Jahren habe ich Die Aprilhexe (2001) und Augustas Haus (2002) gelesen und sehr gemocht. Der Inhalt von Eis und Wasser, Wasser und Eis klingt vielversprechend – und es gelingt Majgull Axelsson auch in diesem Fall, dem Leser einen mitreißenden Einblick zu geben in eine Familie, die glücklich hätte sein können und es nie geworden ist. Die Stärke der schwedischen Autorin, die auch in Deutschland Erfolge feiert, sind groß angelegte Sagas und fein ausgearbeitete Charaktere. Sie gibt ihnen allen eine Chance, sich zu äußern: Susanne und Björn, Inez, Elsie und Schiffsarzt Anders. Die einen leben und erzählen in der Gegenwart, auf dem Schiff, die anderen in der Vergangenheit. Jeder liefert ein Puzzleteil, und während diese sich zu einem großen Ganzen zusammensetzen, steigt die Spannung. Man kann Eis und Wasser, Wasser und Eis getrost einen Thriller nennen, in dem die Protagonistin bedroht wird und einen Anschlag verhindern muss; düster und unheimlich ist die Stimmung auf der Oden unter diesem Aspekt, jeder könnte der Täter sein, ganz klassisch. Rundherum gibt es nichts außer meterdick gefrorene Kälte und Eisbären – und doch ist Susanne, ohne es zu wissen, mit jemandem an Bord verbunden.

Sprachlich passieren Majgull Axelsson kaum Ausrutscher, ihr Stil ist geschmeidig und routiniert, ihre Vergleiche sauber und schön: “So machten es alle Erwachsenen. Antworteten mit einem Scherz. Ließen den Ernst zu Boden tropfen, dass er aufgesaugt wurde und in dem roten Flausch verschwand.” Dieser Roman bietet gute Unterhaltung, wie ein spannender Film zum angenehmen Zeitvertreib. Plastisch geschrieben ist das Buch allemal, sodass man es sich bereits vor dem geistigen Auge auf der Kinoleinwand vorstellen mag. Für alle, die das Rätselraten, sympathische Figuren, kluge Rückblenden und (wie ich) Schweden mögen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
blau, blau wie das Meer ist das Cover – eine logische Konsequenz aus dem Titel. Es wirkt bei näherer Betrachtung ein bisschen gruselig, was sehr passend ist.
… fürs Hirn: die interessanten Hintergrundinformationen zum Polarmeer und seinem Eis.
… fürs Herz: dass Susanne seit jenem Schicksalsschlag völlig ohne Liebe lebt.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Eisberge werden, genau wie alles andere, größer und schöner, wenn man sie in Einsamkeit erlebt.”

Eis und Wasser, Wasser und Eis ist erschienen bei C. Bertelsmann (ISBN 978-3570100417 22,99 Euro, 544 Seiten).

Bücherwurmloch

Das Bücherwurmloch ist Jurymitglied beim “M-Pionier”-Buchpreis!
Eine große Ehre hat mich ereilt: Ich darf in diesem Jahr mitbestimmen, wer den Buchpreis “M Pionier” der Mayerschen Buchhandlung gewinnt. Dabei geht es darum, die Aufmerksamkeit auf ausgewählte und eher noch unbekannte Autoren zu lenken, der Gewinner bekommt 1000 Euro. Das ist vielleicht kein großer, im Rampenlicht stehender und alles verändernder Literaturpreis, aber das muss er auch nicht sein, für die Feuilletons gibt es in dieser Hinsicht genug Beschäftigung. Der “M Pionier” ist bodenständiger, direkter am Leser dran und ganz klar auch eine Buchhandlungsmarketingstrategie. Das gibt ihm seine ganz eigene Berechtigung. Wobei sich inzwischen ja auch herausgestellt hat, dass zwei der nominierten Titel (4 und 10) auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stehen. Und: Ich darf 10 aktuelle Bücher lesen. Bücherwurmherz, was willst du mehr? Fünf Blogger – darunter Cara Elea von The Lines Between, Kim Sara Kriedemann alias Büchermädel, Iljana Lott von Mein-Lesetipp.de sowie Ada Mitsou mit ihrem Blog Ada liest – bilden diese Jury, und auch die Leser stimmen ab. Nominiert sind folgende 10 Titel:

1. Marco Balzano: Damals, am Meer
2. Paula McLain: Madame Hemingway
3. David Foenkinos: Nathalie küsst
4. Jan Brandt: Gegen die Welt
5. Simon Urban: Plan D
6. Thomas Enger: Sterblich
7. Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen
8. A. J. Kazinski: Die Auserwählten
9. Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand
10. Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts

Die Abstimmung läuft bis zum 12. November, bis dahin müssen die Bücher verspeist und bewertet werden. Ich werde sie auch hier im Blog wie gewohnt rezensieren. Bereits gelesen habe ich 1, 2 und 9. In erster Linie ist der “M Pionier” ein Preis, der Spaß macht, der die Leser auf Neuerschienenes aufmerksam macht, sie zum Lesen motiviert und letztlich einen hoffentlich glücklichen Gewinner kürt. Ich bin gespannt, wer es sein wird!