Für Gourmets: 5 Sterne

“Draußen ist mehr Platz zwischen den Menschen”
Zwei Jahre lang hat der 18-jährige Taguchi sein Zimmer im Haus seiner Eltern kaum verlassen, hat sich der Welt komplett entzogen: “Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte. Indem ich fehlte, hatte ich gegen das Gesetz verstoßen, das besagt, dass man da sein und wenn man da ist, dass man etwas tun, etwas erreichen muss.” Zwei Jahre lang hat Taguchi sich totgestellt, und als er nach dieser Zeitspanne merkt, dass er immer noch lebt, geht er nach draußen. Er wagt sich in den Park, setzt sich auf eine Bank und kehrt von nun an jeden Tag zu ihr zurück. Er hat Angst vor den Menschen, denn: “Jemandem zu begegnen bedeutet, sich zu verwickeln.” Genau das passiert ihm, als er im Park den über 50-jährigen Salaryman Teshi kennenlernt, er verwickelt sich in dessen Geschichte und entwirrt seine eigene. Teshi sitzt wie Taguchi von morgens bis abends im Park, beide sind sie aus dem Alltagstrott gefallen, der die Menschen schraubzwingenartig festhält, wurden hinausgeworfen oder haben sich ihm verweigert. Und kaum haben die beiden Einsamen sich als Gleichgesinnte gefunden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als einander das Herz auszuschütten – sie haben sonst niemanden. Teshi wurde entlassen und schafft es nicht, seiner Frau davon zu erzählen, hält die Routinelüge des täglichen morgendlichen Abschieds aufrecht, obwohl er glaubt, dass sie es längst weiß. Aber es gibt noch mehr, das er ihr nicht sagen kann, vor allem in Bezug auf den tragischen Verlust, den die beiden einst erlitten haben. Was es bedeutet, jemanden zu verlieren, weiß auch Taguchi trotz seines jungen Alters bereits, und an manchem Verlust war er nicht ganz unschuldig. Er hat viel zu bereuen und trägt schwer an der Schuld von einem, der immer nur wegschaut, der so viel wegschaut, dass er plötzlich das Haus nicht mehr verlassen kann, weil er dann etwas sehen würde. Sie sind zwei Fremde, die auf einer Parkbank sitzen, und sie könnten einander näher nicht sein. Zwei traurige Gestalten, allein inmitten von Millionen Menschen, auf sich geworfen in dem Moment, in dem sie sich eingestanden: Ich kann nicht mehr.

Milena Michiko Flašar, österreichische Schriftstellerin mit japanischen Wurzeln, hat ein Buch geschrieben, das so zärtlich ist wie ein liebevoll-flüchtiger Kuss auf die Stirn, so klug wie der Blick eines Großvaters, der wissend lächelt und großzügig schweigt. Zwei Menschen treffen aufeinander in einem Park, wie es viele gibt, zwei Menschen, die umgeben sind von je einer Blase, um alle anderen abzuhalten, um sich vor der Welt zu schützen. Sie setzen sich nebeneinander, und aus den zwei Blasen wird eine einzige, in der sie sich zu zweit verstecken. Für 139 Seiten darf ich neben ihnen sitzen und den vielen Stimmen lauschen, die um sie herumschwirren: der Stimme eines Mädchens, das aus dem Fenster springt, der Stimme eines jugendlichen Dichters, der vor ein Auto läuft, der allerleisesten Stimme eines Babys, das nie geweint hat. Ich sitze neben den beiden Verlorenen und sehe zu, wie die Geschichten aus ihnen hinausfließen, und hätte ich länger zusehen können, wären sie vielleicht eines Tages leer gewesen wie Gefäße, in denen Platz ist für Buntes und Neues. In einer sehr melodischen, durchdringend klaren, spartanisch schlichten Sprache zeichnet Milena Michiko Flašar ein Bild der heutigen japanischen Gesellschaft, in der Angestellte sich sprichwörtlich zu Tode schuften und beim ersten Fehler vor dem Nichts stehen, im Alter abgeschoben werden und alles, absolut alles tun, um das Gesicht zu wahren. Die Jungen dagegen zwingt die Angst vor dem Leben in die Knie, sie halten dem Druck nicht stand und schließen sich selbst weg, Hikikomori werden sie genannt, und wie viele es von ihnen gibt, weiß man nicht, weil sie als Familienschande gelten. Die Worte, mit denen die Autorin das Leben dieser zwei Menschen zeichnet, die so unterschiedlich sind und einander in ihrer Verzweiflung doch gleichen, sind pure Poesie, so einfach wie schön. Sie verliert sich nicht in aufgeregten Spielereien, sinnlosen Verschnörkelungen und wirbelartigen, endlosen Satzkonstruktionen. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihre Sprache nicht kraftvoll wäre, im Gegenteil, leise ist sie, ein Wispern manchmal nur, und doch schmerzhaft wie ein Faustschlag. Milena Michiko Flašar schreibt über das zwischenmenschliche Beziehungsgeflecht, dem niemand sich entziehen kann, über das Schweigen, das die Stimmen nur umso lauter macht, über das Sich-die-Ohren-Zuhalten, wenn die Hilfeschreie anderer zu durchdringend sind, über Schuld, Lügen und Sich-vor-der-Welt-Verstecken – große Themen, an denen man scheitern könnte, die sie aber so elegant meistert wie eine alte französische Revuetänzerin den Can-Can. Ich nannte ihn Krawatte ist ein Buch, über das ich ganz rigoros sagen kann: Wen es nicht berührt, der hat kein Herz.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
wundervolle Farbkomposition, sehr edel, die Koi sind zutiefst japanisch.
… fürs Hirn: die Schuld der Mitläufer, wie groß ist sie? Der Druck der Gesellschaft auf den Einzelnen, wie groß ist er? Die Pflicht der Eltern, ihr Kind zu lieben, wie groß ist sie?
… fürs Herz: das Ende. Der Anfang. Und alles dazwischen.
… fürs Gedächtnis: meine liebste Szene, in der der Klavierlehrer über das Lachen spricht, über das Lachen für seine sterbende Frau, so ergreifend geschrieben, so wahr und klug, dass ich ihr mit Tränen Respekt zollen musste: “Wer in einem Lachen nichts anderes als ein Lachen hört, der ist taub.”

Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar ist erschienen im Verlag Klaus Wagenbach (ISBN 978-3-8031-3241-3, 144 Seiten, 16,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Vom harten Los, ein Künstler zu sein – und ein Freund
Mark und Dennis sind seit der Schulzeit beste Freunde, gemeinsam aufgewachsen im Ruhrpott, und sie haben sich die Freundschaft bis ins Studium erhalten. Dabei sind sie grundverschieden. Dennis zieht es mit seinem ganzen Herzen zur Kunst, er lebt asketisch und fertigt überproportional große Plastiken von Gliedmaßen aus Beton. Markt lässt nichts anbrennen, gurkt durch sein Studium und lässt sich von Frauen umgarnen. Oder wie er die Unterschiede zwischen den Freunden ausdrückt: “Dennis trank keinen Alkohol, rauchte nicht, ging nicht ins Kino, hörte keine Musik, interessierte sich nicht für Fußball oder sonst einen Sport. Er ruhte in seiner eigenen Welt. Ich wäre vor Langeweile geplatzt.” Vorbei ist es mit der Ruhe, als Dennis die Kommunistin Lily kennenlernt und sich verliebt: “Lily und Dennis waren ein Paar wie John Lennon und Yoko Ono, symbiotisch, unzertrennlich, nicht von dieser Welt.” Das Schicksal hält noch mehr für Dennis bereit: Über absurde Umwege wird er über Nacht berühmt, taucht in die Berliner Kunstszene ein und reist um die Welt. Mark dagegen heiratet, wird sesshaft und stellt fest, dass man manchmal einen Freund ziehen lassen muss.

Das kaputte Knie Gottes – so heißt eine der Betonplastiken von Dennis – ist ein herrlich unterhaltsamer Roman, sarkastisch und pfiffig, eine Hymne an die Freundschaft, eine Persiflage auf die Kunstszene. Marc Degens hat allerhand gute Ideen und verrückte Einfälle in dieses Buch eingebaut: erheiternde Vorgänge in einem Pornokino, tausend Dosen Hundefutter, ein Theaterstück mit zwei Schauspielern, das nie aufgeführt wird, ein Riesenpenis, der aussieht wie eine Bürste und, und, und. Zum Glück wird der fiese Humor in Das kaputte Knie Gottes nie dumpfbackig oder banal. Dieses Buch handelt von jungen Menschen und ihren Idealen, die sich verändern. Sie werden erwachsen und lernen die Vorzüge von Geld, guter Gesellschaft und Ansehen zu schätzen – wobei ihre Freundschaft fast zwangsweise auf der Strecke bleibt. Das ist ehrlich, traurig, schmerzhaft und glaubwürdig – ein harmloser, sehr unterhaltsamer, gut geschriebener, in sich stimmiger Roman. Deshalb gibt es eine Empfehlung für alle, die mal wieder gepflegt schmunzeln möchten.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
nun ja – ist das die Bananenschale, die einem das Leben in den Weg wirft?
… fürs Hirn: ist das Kunst oder kann das weg?
… fürs Herz: der Schmerz, wenn eine Freundschaft zerbricht.
… fürs Gedächtnis: jede einzelne hochgradig lustige Szene – toll!

Das kaputte Knie Gottes von Marc Degens ist erschienen im Knaus Verlag (ISBN 978-3-8135-0426-2, 17,99 Euro, 256 Seiten).

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Ein Thriller, wie Thriller eben sind
Seit 15 Jahren ist Niels Bentzon bei der Mordkommission der Polizei Kopenhagen, seit zehn Jahren arbeitet er als Vermittler bei Geiselnahmen. Sein neuester Fall ist eigentlich gar keiner: Niels soll die “guten Menschen” von Kopenhagen warnen – denn laut einer vom italienischen Polizisten Tommaso Di Barbara an Interpol gegebenen Meldung werden weltweit Morde begangen. Die Gemeinsamkeiten: Die Opfer haben merkwürdige Zeichen am Rücken, von denen niemand weiß, ob es Tätowierungen oder Brandnarben sind, und sie haben in ihrem Leben viel Gutes getan. Die Astrophysikerin Hannah Lund, die Niels bei seinen Nachforschungen kennenlernt, findet noch mehr Gemeinsamkeiten: 38 Auserwählte gibt es dem jüdischen Glauben zufolge, sie beschützen die Menschheit in jeder Generation. 36 von ihnen sind tot, die Zeitpunkte und Orte der Morde ergeben ein System. Hannah berechnet, wo der letzte Mord stattfinden soll: in Kopenhagen. Das Opfer: Niels.

Die Auserwählten ist ein typischer Thriller: Ein 08/15-Protagonist – in diesem Fall ein Kommissar – erfährt durch Zufall vom drohenden Untergang der Welt, auf den es immer irgendwie hinausläuft, und setzt natürlich alles daran, ihn zu verhindern. An die Seite gestellt bekommt er dabei etwas Hübsches, Weibliches und beim Autorenduo A. J. Kazinski auch Kluges: eine Frau. Gemeinsam kämpfen sie bis zum bitteren Showdown gegen alle Widrigkeiten – derer es viele gibt. Dass sie am Ende reüssieren, ist klar. So weit, so gut – oder schlecht, je nachdem, wo die persönlichen Vorlieben liegen. In den seltensten Fällen bietet ein Thriller mehr als seichte, vorhersehbare Unterhaltung, und leider bleiben am Ende oft mehr Fragen offen, als am Anfang gestellt wurden. A. J. Kazinski haben eigentlich alles richtig gemacht: ein netter Held, der selbst in Gefahr gerät, ein alter Mythos, mysteriöse Morde. Wer aber ein solches Rätsel um die Todesfälle macht, muss zum Schluss Erklärungen liefern, die Sinn ergeben. Wer hat die Morde begangen? Gott? Wozu, er muss doch gewusst haben, dass Niels überlebt? Wieso überlebt er überhaupt? Logisch ist es nicht im Geringsten.

Das Ende des Buchs ist ebenso unglaubwürdig und weit hergeholt wie die gesamte Handlung, es bleibt sehr schwammig, und der Roman hört unvermittelt auf. Dabei wird der Leser zuvor – als Hannah und Niels im Krankenhaus sind – über Seiten und Seiten hingehalten, während die beiden nach Lösungen suchen und ihnen die Zeit davonläuft. Das ist spannend – was dann aber als vermeintlicher Höhepunkt präsentiert wird, ist so mickrig, dass alles wie ein Berg heißer Luft in sich zusammenfällt. Grausam für jeden, der – wie ich – beim Lesen nichts so sehr fürchtet wie abgeschmackte Klischeesätze, ist die Sprache von Die Auserwählten. Formulierungen wie “Seine Arme bestanden nur aus Haut und Knochen und fühlten sich so an, als könnten sie jederzeit zerbrechen” oder “Er wollte leben. Wollte nicht sterben. Er hatte doch noch so viel vor” sind einfach unterste stilistische Schublade. Auch will ich nicht mehr lesen müssen, dass jemand einen anderen ärgerlich anschaut statt verärgert, das ist wirklich peinlich. Mit ganz billigen Tricks versuchen A. J. Kazinski, den Leser zu erschrecken: “Niels ging nach draußen auf die Hintertreppe und schaltete das Licht ein. “Wer ist da?” Keine Antwort.” Uuuh-huu. Oder eher gähn? Die beiden haben sich in ihrer Idee, das Ende der Welt durch den Tod der Guten herbeizuführen, komplett verzettelt. Fazit: Netter Versuch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein genretypisches Cover mit schönen Blutflecken.
… fürs Hirn: alles Leben ist Mathematik.
… fürs Herz: der tragische Selbstmord von Hannahs Sohn.
… fürs Gedächtnis: nichts, ich brauche den Speicherplatz für Besseres.

Dieser Roman ist nominiert für den „M Pionier“-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Reise in die Zukunft der DDR
“Wo sind wir denn?” “In einem Land, das Raufutter verzehrende Großvieheinheit zu einer Kuh sagt.” Ganz klar: Das ist die DDR. Allerdings nicht die DDR der Zeit vor 1989, sondern die DDR im Oktober 2011. Denn statt einer Wiedervereinigung gab es 1990 eine Wiederbelebung. Die Grenze ist zu, Egon Krenz seit 22 Jahren an der Macht, die Menschen im Osten fahren mit Rapsöl betriebende Phobos und leben davon, dass die Erdölpipelines aus Russland über ihren Grund führen. Martin Wegener arbeitet bei der Volkspolizei und bekommt einen ebenso mysteriösen wie aufsehenerregenden Fall aufgehalst: Ein ehemaliger Berater von Krenz, inzwischen über 80, wurde erhängt, die Sympolsprache deutet auf die Stasi. Der Westen gerät in Aufruhr, die Geschichte dröhnt durch die Medien, und der Osten kann nicht – wie sonst – alles unter den Teppich kehren. Im Gegenteil: Martin Wegener bekommt mit Richard Brendel einen westdeutschen Kollegen an die Seite gestellt, der alles hat, was ihm fehlt: “Brendel verbuchte Dienstgrad, Westherkunft, Statur, Bonbonparfum und ein schmal geschnittenes Filmschauspielergesicht inklusive blauer Augen auf seinem Siegerkonto. Und als Bonus einen Dienstwagen, nach dem sich ganz Ostberlin umdrehte.” Wegener dagegen trägt Cordhosen, spricht im Geiste mit seinem verschwundenen Mentor Josef Früchtl, und die Frau, die ihm weggelaufen ist, Karolina, liebt er traurigerweise noch immer. “Ein DDR-Mensch hat immer nur die Wahl zwischen Schlaganfall und Kopfschuss”, bekommt Wegener erklärt und erlebt es am eigenen Leib: Wie soll er die Wahrheit herausfinden in einem Land, in dem es gar keine Wahrheit gibt, sondern eine offizielle und eine inoffizielle Version der Realität? Was hat Karolina mit der ganzen Sache zu tun? Wer ist Freund, wer Feind und wer bespitzelt eigentlich wen? Ein heilloses Chaos entsteht rund um den Mord, der die Konsultationen – die Annährerung von Ost und West, bei der es um viele Erdölmilliarden geht – gefährdet, und Martin Wegener, ein tollpatschiger, in die Jahre gekommener Kerl mit Bauch, steckt mittendrin: “Ihr wisst mehr, als ich je wissen werde, ihr steht hinter den Kulissen, ihr verschiebt die Wände, ihr führt Regie. Ich stolpere über die Bühne. Aber, meine schnurrbärtigen, halbglatzigen, braunblonden, verwarzten, verwanzten Freunde, ich stolpere in unvorhergesehene Richtungen.”

Mit Plan D hat Simon Urban eine ulkig wirkende, aber erschreckend reale Parallelwelt entworfen. Sehr konsequent und aufs Detail bedacht präsentiert er eine DDR der Gegenwart, die modern geworden und doch – im Geiste, in den Idealen – veraltet geblieben ist. Sein Protagonist Martin Wegener ist ein liebenswerter Hampelmann, der daran gewöhnt ist, dass der Staat ihn nach Belieben herumschubst, der aber in geeigneten Momenten mit Scharfsinn und genialen Einfällen überrascht. Nichts darf er wissen, nichts soll er herausfinden, alle Ermittlungen dienen nur dazu, den Schein zu wahren, man bemühe sich um eine Auflösung: “Dieser Fall ist ein schwuler Flötenspieler, und wir sind die schlauen heterosexuellen Ratten, die sich die rosa Öhrchen zuhalten, kapiert?” Die politische Situation in Plan D ist endlich mal ein origineller, humorvoller Rahmen für einen durchaus klischeebehafteten Ermittler.

Simon Urban ist Werbetexter bei Jung von Matt, und man merkt es an den spitzen Pointen, an seinem Wortwitz, an den schlagkräftigen Wortkreationen. In seinem ersten Roman hat er sich allerdings vom Werbetextergräuel, immer “kurz und knackig” schreiben zu müssen, befreit: Er wartet stellenweise mit Sätzen auf, die ein wenig zu lang und zu gewunden sind; das verursacht einige Durststrecken im Buch. Auch ist mir manches – Respekt vor der umsichtigen Planung und lückenlosen Umsetzung – gar zu verhirnt, zu konstruiert und gewollt. Vermutlich ist das jedoch ein unangenehmer, aber nötiger Nebeneffekt einer so authentischen und doch erfundenen Welt. Wie in einem klassischen Verwirrspiel öffnet dieser einfallsreiche Autor einen doppelten Boden nach dem anderen, lässt bespitzeln und doppelt bespitzeln, verdächtigen, verraten – bis niemand mehr sicher ist, auch der Leser nicht. Das ist kompliziert, aber dennoch ein Geniestreich. Insgesamt zeigt sich Plan D als komödiantischer, erheiternder, satirischer Krimi mit schön zynischen Seitenhieben auf Politik, Liebe und Wahrheit. Lässig, böse, verrotzt geschrieben, mit einigen Schwachstellen, über die man hinwegsehen kann. Ich würde eventuell sogar eine Fortsetzung lesen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
ein gruseliges, futuristisches, passendes Cover.
… fürs Hirn: alles! Die ganze Vorstellung einer DDR im Jahr 2011, ein einziger Gehirnkrampf, ein Schauspiel, eine Fantasiewelt!
… fürs Herz: die tragische Figur Martin Wegeners, der bei allen Klischees – Unattraktivität, Staatsdienst, unerwiderte Liebe – zu den sympathischsten Ermittlern der jüngeren Literatur gehört.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat:
“Haben Sie eine Frau?”
Kayser sah nicht überrascht aus. “Ich hatte eine.”
“Und?”
“Funktionierte nicht. Hab sie umgetauscht gegen eine elektrische selbstreinigende Wandfotze mit Echthaar.”
“Ihr seid glückliche Leute, da drüben im Westen.”

Dieser Roman ist nominiert für den „M Pionier“-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

Netter Versuch: 2 Sterne

Ein klassischer Krimi
Der Journalist Henning Juul ist gezeichnet von einem tragischen Ereignis – innen wie außen: Schwere Brandnarben erinnern ihn genauso an den Tod seines Sohnes Jonas wie der seelische Schmerz. Von seiner Frau Nora ist er geschieden, an seinen Arbeitsplatz bei der Onlinezeitung 123nyheter kehrt er erst nach zwei Jahren zurück. Und die Schonzeit ist sofort vorbei: Henning wird auf den Mord an der schönen Studentin Henriette Hagerup angesetzt. Die Zeichen deuten auf Ehrenmord, passenderweise war Henriette mit einem Muslim liiert. Während die Polizei auf diesen Zug aufspringt, kommt Henning das Ganze konstruiert vor. Er bekommt ein Drehbuch von Henriette in die Finger, das einen Mord zum Inhalt hat – wie er dann an ihr selbst verübt wurde. Wer hat das inszeniert? Ist Henriettes Freund unschuldig? Und warum wird Henning verfolgt und beinahe erschossen? Nun – er findet es heraus.

Sterblich ist ein gut gedachter, aber dennoch stereotyper Krimi. Was nicht so schlimm ist, wie es klingt – das sind sie doch alle. Immer ist der Ermittler vom Schicksal gezeichnet – am fröhlichsten ist wohl noch Camilleris Montalbano, der wenigstens einfach nur mürrisch und nicht traumatisiert ist – und einsam, immer geraten sie selbst in die Schusslinie. So ist es auch im vorliegenden Fall, einem Krimi, der wie so viele erfolgreiche Serien der letzten Zeit aus dem hohen Norden stammt. Thomas Enger versteht sein Handwerk und nebenbei auch etwas vom Fach seines Protagonisten, hat er doch einst in einer Onlineredaktion gearbeitet. Er hat mit diesem Buch solide Arbeit geleistet und einen guten Krimi abgeliefert, der Fans dieses Genres mit Sicherheit begeistert. Ich bin allerdings kein solcher Fan (mehr) und habe meine üblichen Schwierigkeiten mit dem abgeschmackten Rätselraten. Das Schema ist – da kann kaum ein Krimi aus – immer dasselbe, der Täter schlussendlich doch im engeren Kreis zu finden, wo auch sonst, die Gefahr, in der sich der Ermittler befindet, kann nicht echt sein, weil er nicht sterben darf, das nimmt jedem Showdown die Würze. Während der Lektüre scheint mir alles fast noch logisch, im Rückblick zeigt sich aber, dass die Romanereignisse doch recht kompliziert und ein wenig undurchsichtig sind. Farblos bleiben trotz aller Bemühungen auch die Charaktere, vor allem die marionettenhaften Polizeibeamten. Das ist schade, denn Thomas Enger hat Potenzial und kann Spannung aufbauen. Trotz meiner Vorbehalte gegen Krimis habe ich mich ganz ernsthaft eingelassen auf diesen erneuten Selbstversuch und konnte Sterblich sehr wohl auch Positives abgewinnen. Die Mordgeschichte an sich ist originell, die Konstruktion fesselnd, und der Cliffhanger am Ende ist geradezu meisterhaft – er macht neugierig auf Teil zwei. Ich werde ihn allerdings nicht lesen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
was auch immer die Geschichte mit einer Schere zu tun haben soll – unheimlich wirkt das Cover allemal.
… fürs Hirn: nein, da fällt mir beim besten Willen nichts ein.
… fürs Herz: die tiefe Trauer des Protagonisten um den Verlust seines Kindes.
… fürs Gedächtnis: leider die widerlich-sexistischen Gedanken des Polizeibeamten, der eigentlich ausschließlich seine Kollegin flachlegen will. Das war unnötig.

Dieser Roman ist nominiert für den „M Pionier“-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“Man kann sich heute voneinander verabschieden und sieht sich möglicherweise nie wieder”
Der innere Aufruhg, dem der Architekt Ignacio Abel sich ausgeliefert sieht, kommt dem äußeren gleich, der seine Heimat Madrid erschüttert: Der spanische Bürgerkrieg zerrt im Jahr 1936 an der Stadt. Ignacio selbst ist rettungslos verloren in seiner leidenschaftlichen Liebe zur Amerikanerin Judith Biely. Ihretwegen hat er seine Frau Adela und seine Kinder Miguel und Lita vernachlässigt, hat ihre Leben an den Abgrund eines Stausees gedrängt und sie sogar zurückgelassen im gefährlichen Madrid, in dem zu jener Zeit ein Klopfen an der Tür den Tod bringen kann. “Aber jetzt war Madrid, wenn die Nacht hereinbrach, dunkler und gefährlicher und menschenleerer als ein mittelalterlicher Wald, und die Menschen waren wie Schakale, primitive Horden, nicht mit Keulen oder Steinäxten bewaffnet, sondern mit Gewehren.” Ignacio ist nach Amerika aufgebrochen – offiziell, um für das Burton College eine Bibliothek zu bauen, inoffiziell, um vor den Unruhen zu fliehen, und in Wahrheit, um nach seiner Geliebten zu suchen. Sie ist ihm abhanden gekommen kurz vor seiner Reise, die sie gemeinsam hatten antreten wollen, sie hat sich von ihm abgewendet wegen der Konsequenzen, die ihrer beider Affäre für Ignacios Familie hatte, und ist in den Straßenkrawallen Madris verschwunden oder – wie Ignacio hofft – nach Amerika heimgekehrt. Er erinnert sich an ihr erstes Kennenlernen, an seine sofort entflammende Begeisterung für die schöne junge Frau: “Ihre Gesichtszüge waren klar, wie mit einem feinen Stift gezeichnet: blasse Sommersprossen auf den Wangen und eine helle Haut, die das Gold von sonnenbeschienenem Weizen ihres Haars und das Graugrün der mandelförmigen Augen mit einem Hauch von Schläfrigkeit in den Wimpern noch verstärkte.” Er denkt an ihre gestohlenen Stunden zu zweit, die Poesie ihrer Gespräche und Briefe, die aphrodisierende Wirkung der ständigen Gefahr. Ignacio Abel ist unterwegs, um seine Geliebte zu finden – und hat auf dieser Reise viel Zeit, die aufrührenden Ereignisse Revue passieren zu lassen.

Dieses Buch ist ein Fluss. Es ist – man spürt es förmlich – aus dem bekannten spanischen Autor Antonio Muñoz Molina hinausgeflossen; aus Wortkaskaden besteht es, aus Satzbächen, Kommatawasserfällen, aus Metaphernströmen. Manchmal ist dieser Fluss reißend und voller Strudel, manchmal zieht er friedlich, ruhig und schön vorbei. Im 18. Roman dieses preisgekrönten Schriftstellers gibt es keine Einschränkungen für diesen Wortstrom, er schmückt ihn aus mit Adjektiven und Vergleichen, lässt ihn sich einen Weg bahnen durch die Grammatik, lässt den Leser atemlos auftauchen am Ende der Sätze: “Das Rot des Granatapfels wurde zu einer Farbe von glänzendem Leder; das staubige Gold der Quitte bekam mit wachsendem Halbdunkel zunehmen Glanz, reflektierte das Licht nicht mehr, sondern strahlte es aus; über den Apfel glitt das Licht hinweg wie über eine Kugel aus lackiertem Holz, erlangte jedoch eine gleichsam flüssige Dichte auf der Oberfläche der Trauben.” Luft holen. Mit einer überbordenden, elegant-melodischen Sprache lädt dieser Autor den Leser zum Schwelgen ein, kein Detail spart er aus, keine Regung ist ihm zu unwichtig. So erklären sich die 1002 Seiten dieses Buchs und der sogartige Leseeindruck, das Hineingesaugtwerden in den Wortwasserfall. Inhaltlich stellt der spanische Bürgerkrieg, mit dem Francos Diktatur begann, einen interessanten Rahmen dar; eine unsichere, bedrohliche Zeit, in der sich für Ignacio Abel ein ganz persönliches Drama abspielt: “Seit Monaten schon kann man sich bestimmter Dinge nicht mehr sicher sein, zum Beispiel ob jemand, an den man sich gut erinnert, den man vor ein paar Tagen oder einigen Stunden erst gesehen hat, noch lebt.” Das Außen und das Innen spiegeln einander in diesem elegischen Buch – während die Stadt um ihn herum zerbricht, findet Ignacio auch sein eigenes (Gefühls-)Leben in Trümmern vor. Mit der Blindheit der Liebe geschlagen, ignoriert er die Gefahr, in der er – und seine Familie – sich befindet, handelt nur nach seinem egoistischen Herzen. Ein Wermutstropfen ist das Ende des Romans, das mit bei all der langatmigen Vorbereitung ein wenig zu kurz geraten und daher enttäuschend erscheint. In jedem Fall muss man als Leser für Die Nacht der Erinnerungen etwas mitbringen, das uns heutzutage vermeintlich “fehlt”: Zeit. Zeit, um sich einzulassen auf die wahnsinnig schöne, anstrengende, verschnörkelte Sprache, um sich treiben zu lassen auf diesem Fluss, um an seinen Ufern zu ruhen. Ein Ausnahmewerk.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge:
ein schlichtes, kraftvolles Cover.
… fürs Hirn: viel Hintergrundwissen über die politische Lage Spaniens 1936 und den Bürgerkrieg.
… fürs Herz: Adelas böser, enttäuschter und doch liebevoller Brief, den Ignacio auf seiner Reise bei sich trägt.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Die zerbrechlichsten Dinge haben eine außergewöhnliche Fähigkeit zu überdauern, zumindest im Vergleich zu den Menschen, die sie herstellen und handhaben.”

Die Nacht der Erinnerungen von Antonio Muñoz Molina ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04499-0, 29,99 Euro, 1008 Seiten).

Bücherwurmloch

Zitat der Woche
Die Furcht vor dem Außenseiter verbirgt die eigene Furcht, denn alle fürchten sich vor dem, was sie einander antun könnten, fiele einmal das, was sie gemeinsam haben, fort.

Aus: Die Überfahrt von Joseph O’Connor

Gut und sättigend: 3 Sterne

“Was einmal kaputt ist, wird nie wieder ganz”
Plav ist Künstler – auch ein (Über)Lebenskünstler. Geschickt mit den Händen ist er und kreativ, seine Wohnung ein Sammelsurium aus Figuren und Basteleien, die sogar das Interesse einer Galerie weckt. Doch Plav fällt nicht nur mit Talent aus der Reihe, sondern auch mit nonkonformem Benehmen, was ihn in einer reglementierten Gesellschaft viel kostet: den Job, die Beziehung, den Kontakt zur ungewollt gezeugten Tochter. Er arbeitet in einer Spritzgussfabrik und fertigt nachts Marionetten aus altem Holz und Schrott, die so authentisch hässlich sind, dass man kaum hinschauen mag. Nicht nur das Dasein im Jetzt bereitet ihm Schwierigkeiten, auch die Vergangenheit nagt an seinem Gesundsein: Er kam mit seiner Mutter aus dem ehemaligen Jugoslawien, eine slawische Hassliebe voll Brutalität und Zärtlichkeit verband ihn mit ihr. Die Mutter an einen deutschen Mann zu verlieren, hat Plav geschmerzt. Und bei all der Qual, die seine Seele würgt, redet er mit seinem Daumen, der ihn versteht, ihm zuhört, seine Einsamkeit teilt.

Plav ist einer, der am Abgrund steht und allen zuruft, was er dort sieht – aus Angst wenden sie sich ab, sie wollen es nicht hören. Er gebärdet sich verrückt, er brabbelt, er schreit, er läuft nackt durch den Schnee, er juchzt. Plav kennt keine Grenzen und schert sich nicht um Konventionen, er ist direkt, ehrlich, sexuell aufgeladen, begabt und nicht zu schubladisieren. “Holz wie Delphinhaut. Fasst sich an wie meine Eichel”, sagt er zu einem Mädchen in einer Bar, dem er eine Puppe zeigt, die er geschnitzt hat. Und das Mädchen sagt: “Das ist so fein. Mit so viel Liebe. Die ganze Fitzelarbeit. Du musst in deinem Inneren schrecklich leiden, dass du so was Hässliches machen musst.” Und so ist es auch.

Mit kraftvoller, hastiger Prosa erzählt der deutsche Schriftsteller Thomas Podhostnik in diesem schmalen Band die energiegeladene Geschichte von einem, den niemand mag, nicht einmal und schon gar nicht er selbst. Plav ist fremd, der Welt und sich selbst, und es scheint, als müsse er sich selbst für diese Fremdheit bestrafen. Mit rauen, selbstgenügsamen Worten hält Thomas Podhostnik wie in einer Bleistiftskizze das Bild eines Mannes fest, der aufgrund seiner Andersartigkeit von einer Aura der Unberührtheit umgeben ist, die Hand in Hand geht mit einer tiefen Einsamkeit. Sehr dicht, komplex, leichtfüßig und doch substanziell.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
klare Bildsprache, ein schönes Blau.
… fürs Hirn: das eigene Erschrecken über Plavs Verhalten, das Wissen, dass man sich – an einer Bushaltestelle zum Beispiel – peinlich berührt von ihm abwenden würde im Glauben, er sei betrunken und/oder verrückt.
… fürs Herz: Plavs Kindheitserinnerungen, die für mich noch ausgeschmückter hätten sein dürfen.
… fürs Gedächtnis: wie Plav im Schnee gegen Rowdys kämpft, so völlig desinteressiert am möglichen eigenen Tod.

Die Hand erzählt vom Daumen von Thomas Podhostnik ist erschienen im Luftschacht Verlag (ISBN 978-3-902373-87-8, 16 Euro, 92 Seiten).