Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Jerewan„Wenn eine Zeder sprechen könnte, würde sie uns Geschichten erzählen, die wir niemals vergessen“
„Ich glaube, alle Söhne lieben ihre Väter. Aber ich habe meinen verehrt. Weil er mich so oft teilhaben ließ an seinen beflügelnden Gedanken. Weil er mich mitnahm in Wunderwelten, die er in seinem Kopf erschuf. Weil er mich berauschte mit seinen Worten.“ Die Beziehung zwischen Samir und seinem Vater ist sehr eng, hier im fremden Deutschland, wohin die Eltern vor dem Krieg aus dem Libanon geflohen sind. Der Vater ist liebevoll und klug, stets gut gelaunt, beliebt bei allen Menschen. Er feiert spontane Feste, hat sich schnell integriert, immer lacht er, und er erzählt wunderbare Geschichten. Samir, so scheint es, ist für ihn das Wichtigste auf der Welt. Umso unverständlicher ist es, dass der Vater eines Tages spurlos verschwindet. Er geht und kommt nicht zurück. Der Schmerz ist so groß, dass Samir erstarrt. Er verliert alles, den Vater, die Mutter, die Schwester, die engste Vertraute, den Lebenswillen. Statt sich etwas aufzubauen, wühlt er in dem Trauerschlamm, der ihn umgibt, lässt sich erdrücken von den Schuldgefühlen und findet keinen Ausweg. Bis er zwanzig Jahre später erkennt: Er wird erst frei sein können, wenn er erfährt, was damals geschehen ist – und dazu muss er in den Libanon reisen, ein Land, das er nicht kennt, das immer noch zerrissen ist vom Bürgerkrieg der 1980er-Jahre. Im Gepäck hat er nichts weiter als das Tagebuch seines Vaters – und Hoffnung.

Ich sag es euch gleich rundheraus: Am Ende bleiben die Zedern ist ein wahnsinnig kitschiges Buch. Das könnt ihr euch wahrscheinlich wegen des Titels schon irgendwie denken. Lesen solltet ihr es trotzdem, denn wahnsinnig gut ist es auch. Der Autor, selbst Sohn eines Libanesen, geboren in Jordanien und aufgewachsen in Deutschland, war schon mal Internationaler Deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. Das hat, ich geb es zu, in mir die Erwartung geweckt, dass mir sein erster Roman mit einer flotten, modernen, slammigen Sprache gegenübertreten würde. Weit gefehlt. Pierre Jarawan greift tief hinein ins Pathos und schöpft aus dem Vollen. Mit jedem zweiten Satz kitzelt er die Tränendrüse, mit voller Absicht. Er traut sich, kitschig zu sein, und nachdem ich meinen anfänglichen Schock überwunden habe, finde ich das gut. Da liebt ein Junge seinen Vater, vergöttert ihn, himmelt ihn an, mit einer Hingabe, die mir zu Beginn völlig übertrieben vorkommt. Dann lasse ich mich darauf ein. Auf die überschwängliche, gefühlvolle Sprache, auf die Sehnsucht nach einer unbekannten Heimat, auf die traurige Geschichte.

Jetzt sag ich euch noch was: Mit dem Ende des Romans, mit der Erklärung, bin ich wahrlich nicht einverstanden. Da hätte ich gern die Nummer des Autors gehabt, um ihn anzurufen und zu fragen: Was soll DAS denn, bitte? Das kann ich euch jetzt aber nicht näher erläutern, ohne zu spoilern, deshalb konzentrieren wir uns lieber darauf, dass Pierre Jarawan ein fantastischer Erzähler ist. Er gibt seiner Figur und ihren Emotionen viel Raum. Er schwelgt in den Gefühlen, den schönen wie den schrecklichen, kostet sie aus – ganz in der Tradition eines orientalischen Geschichtenerzählers. Er berichtet mir vom Libanon, vom Krieg zwischen Christen, Drusen und Muslimen, von Angst und Flucht und von einer Entscheidung, die so viele Leben für immer verändert hat. Nicht jede Metapher ist stimmig, und manchmal ist mir der Überschwang zu viel, aber ich hab das Buch trotzdem inhaliert und aufgesaugt. Es ist wundervoll, herzergreifend, betörend, intensiv. Hat man sich erst einmal in die Geschichte hineingewagt, entkommt man ihr nicht mehr so schnell. Und meine Tränendrüse? Die hat dem Reiz auch irgendwann nicht mehr standgehalten.

Am Ende bleiben die Zedern von Pierre Jarawan ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1302-6, 448 Seiten, 22 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ng„Wie schwer es ist, die Träume der Eltern zu erben“
Als Lydias Familie eines Morgens das Verschwinden der Sechzehnjährigen bemerkt, weiß noch niemand, dass Lydia tot ist. Sie, die nicht schwimmen konnte, liegt ertrunken am Ufer des Sees. Die Tragödie erschüttert jedes einzelne Familienmitglied auf eigene Weise: Die Mutter, eine Amerikanerin, muss sich fragen, ob ihr Lieblingskind tatsächlich so glücklich war wie gedacht. Sie selbst wollte stets Medizin studieren,  bekam stattdessen Kinder und übertrug den unerfüllten Traum auf Lydia. Der Vater, der chinesischer Abstammung ist und sein Leben lang ausgegrenzt wurde, erstickt fast an den Details des Obduktionsberichts und an seinen Schuldgefühlen. Ihm war am wichtigsten, dass seine Kinder so sind wie alle anderen, dass ihr Aussehen sie nicht zu Außenseitern macht. Lydias großer Bruder verdächtigt den gleichaltrigen Jack, mit dem sie viel Zeit verbracht und der sie als Letzter gesehen hat. Ihre kleine Schwester, die wenig beachtet wird und gerade deshalb stets alles sieht und hört, ist ein Geheimnisgrab. Was ist geschehen? War es Mord? Oder Selbstmord? Und wie können die Übriggebliebenen ohne Lydia weiterleben?

Manche Bücher sind wie ein Botanischer Garten. Da blüht es und wurlt, alles wächst, ist ineinander verschlungen – und hat irgendwo einen gemeinsamen Ursprung. So ist auch Was ich euch nicht erzählte von Celeste Ng. Es ist ein komplexes und vielschichtiges Buch, verschlungen und düster – und irgendwo liegt die Wurzel, die alles begründet und alles zusammenhält. Die amerikanische Autorin mit chinesischen Vorfahren, die in Harvard studiert hat, hat mit ihrem ersten Roman einen großen Clou gelandet, der in 20 Sprachen übersetzt und verfilmt wird. Zu Recht, kann ich da nur sagen, denn ihr Debüt ist großartig: klug, melancholisch, berührend und unendlich traurig.

Ein Roman über die Geheimnisse einer Familie und über die ätzende Säure, die Unausgesprochenes verspritzt, ist nicht ungewöhnlich. Was ich euch nicht erzählte ist es aber doch. Weil die Geheimnisse an sich ungewöhnlich sind, scharfkantig und fremd. Nahm der Tod von Lydia seinen Anfang, als eine Amerikanerin und ein Chinese heirateten, als sie Kinder zeugten, die nicht aussahen wie ihre Klassenkameraden? Oder liegt sein Ursprung in den Träumen, die sich für die Eltern nicht erfüllt haben? Wo beginnt Schuld? Wer ist verantwortlich für die lähmenden Erwartungen, die Eltern an ihre Kinder haben – und umgekehrt? Die Antwort, die Celeste Ng auf alle diese Fragen gibt, ist auf stille und eindringliche Weise niederschmetternd. Manchmal wird aus bedingungsloser Liebe eine Liebe voller Forderungen. Niemand wollte, was geschehen ist, und doch hat jeder dazu beigetragen. Ein elegant geschriebenes, überaus beeindruckendes Buch.

Was ich euch nicht erzählte von Celeste Ng ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-28075-4, 288 Seiten, 19,90 Euro). Eine Besprechung dazu findet ihr auch bei Literaturen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Schilke„Und das Gute an der Vergangenheit ist, dass es einem völlig freisteht, sich nicht mehr an sie zu erinnern“
„Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, und Dehnungsstreifen unterschiedlichster Ausprägung zieren meinen Körper.“ Aus diesem Grund hat eine Frau eine Selbsthilfegruppe namens Anonyme Cutilis Waldesreuth gegründet, zu der Gleichgesinnte kommen, um über die verschiedenartigen Narben und Streifen auf ihrer Haut zu sprechen. Ein sehr körperliches Problem hat auch der junge Thom: Er hat kein Gesicht mehr. Nach einem dummen Unfall auf dem Fußballplatz ist es vollständig zerstört, und trotz bester ärztlicher Hilfe ist für seine Freundin klar, dass er nie wieder derselbe sein wird. Schwierigkeiten ganz anderer Art hat dagegen Gudrun in ihrer Beziehung: Ihr Mann Tankred ist Soldat und nie da, sie ist mit dem Baby immer allein. Das hat sie sich irgendwie anders vorgestellt, damals mit 18, als sie mit ihrer Schulfreundin beim Elefantentreffen war, jung, betrunken, voller Träume und gierig nach einem richtig guten Rausch.

Vom Leben auf dem Land erzählt Kristina Schilke, von den Irrungen und Wirrungen der Menschen in einer beschaulichen Stadt, von körperlichen Verletzungen und Gebrechen, von der Liebe und ihrem Ende. Die junge Autorin, die 1986 in Russland geboren wurde und das Deutsche Literaturinstitut Leipzig absolviert hat, hat sich ein kleines, feines Universum erdacht für ihre dreizehn Kurzgeschichten, das tatsächlich auf diese Art existieren könnte. Bei Short Stories, die ich nun seit einer Weile erkunde, fällt es mir stets schwer, sie inhaltlich zu beschreiben. Zu winzig ist der Kosmos, in dem sie sich bewegen, zu minimal die Tiefe der Charaktere. Aber: Neuerdings mag ich Kurzgeschichten, und die von Kristina Schilke mochte ich sehr. Warum? Weil sie Alltägliches und Ungewöhnliches perfekt kombinieren, in einer glaubwürdigen, originellen, lesenswerten Mixtur.

Normale Situationen und Zwischenfälle, die wir alle kennen, sind Kern dieser Storys, und doch ist da noch mehr: etwas Einzigartiges. Das, was ein Leben von all den anderen unterscheidet. Der eine Splitter, der das Licht reflektiert und bricht, sodass ein Miniaturregenbogen entsteht. Dieses Funkeln fängt die Autorin ein, kleidet es in Worte, legt es auf die Seiten, lässt es immer wieder durchblitzen im 08/15-Dasein ihrer Protagonisten. Manche ihrer Geschichten sind interlinking, und Figuren, die ich schon kenne, begegnen mir wieder. Das freut mich, ich zwinkere ihnen zu, schaue, wie es ihnen geht und was ihnen in der Zwischenzeit so alles passiert ist. Wer gern Kurzgeschichten liest, ist mit Elefantentreffen gut beraten.

Elefantentreffen von Kristina Schilke ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05753-0, 224 Seiten, 18 Euro). Hier findet ihr eine kurze Besprechung von Deutschlandradio Kultur.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_7678„Die Schönheit der Kröte erschließt sich nicht jedem“
„Aber alles, was unsägliche Schmerzen bereitet, wie eine unerfüllte Fixierung, hatte einmal verlockenden Glanz, bot Lust und Freude, selbst die dunkelste Sucht beginnt im Funkelnden, auch wenn dies nicht von Dauer ist.“ So geht es all den Männern, die im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts dem Charme von Alma Mahler verfallen: darunter der Maler Oskar Kokoschka sowie Paul Kammerer, Vater der Epigenetik. Alma ist die Tochter des Malers Schindler, Witwe des Komponisten Mahler, „ein Fixstern in dieser sich immer an der Kippe zum Irrsinn, zum Exzess drehenden und dennoch gleichzeitig so abgeschotteten gutbürgerlichen Künstlerszene“. Bereits als Kind, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, wird sie begehrt, der Erste in der langen Reihe ihrer Verehrer ist Gustav Klimt.

„Sie aber zappelt niemals an der Angel, sie ahnt jetzt schon, was für eine Macht sie haben wird, wenn sie sich nur so verhält wie das Meer: zurückweichend und heranbrausend, gefährlich, schön und ruhig, geheimnisvoll und nutzbar.“

Sie ist Muse und Femme fatale, sie ist Mutter und Ehebrecherin. Sie zieht die Männer an, lässt sich umschwärmen und mit Heiratsanträgen überschütten, nur um sie wieder von sich zu stoßen in einem ewigen Spiel aus Macht und Ohnmacht. Und während Kokoschka und Kammerer an Alma Mahler verzweifeln, stürzt Europa in den Zweiten Weltkrieg, versinkt in Schutt und Asche.

Alle Figuren, die Julya Rabinowich in Krötenliebe tanzen lässt, haben tatsächlich gelebt, Alma, Oskar und Peter hat es wirklich gegeben, sie haben einander begehrt und verstoßen, sie haben gemalt, getrunken, sich verzehrt und gekämpft. Die österreichische Autorin, die in St. Petersburg geboren ist, hat aus historischem Stoff und dem Faden der Fiktion einen faszinierenden Roman gewebt. Sie wechselt in der Perspektive zwischen den drei Protagonisten, verbindet Passagen im historischen Präsens mit der Macht der Fantasie. Ihr Buch baut auf belegten Fakten auf und ist dennoch ein schwungvoller, poetischer Reigen aus wirbelnden Sprachbildern, versunkenen Gefühlen und wertfreien Mutmaßungen. Ist es so gewesen? Haben sie das gesagt, haben sie so empfunden? Wir wissen es nicht, aber es ist möglich. Kein Wort davon ist wahr, und jedes Wort davon ist wahr.

Das Einzige, was ich an Krötenliebe auszusetzen habe, ist bei genauerer Betrachtung eigentlich ein Kompliment: Es war mir zu wenig. Gern hätte ich doppelt so viel gelesen von Alma, Kammerer und Kokoschka, vielleicht sogar das Dreifache. Es dürstete mich derart nach Informationen, dass ich während der Lektüre angefangen habe zu googeln. Wer waren diese Menschen, wie waren sie? Wie ging alles zu Ende, wie starben sie? Ich war angefixt, und die Neugier ist ein Hund. Deswegen reichten die knapp 180 Seiten für mich kaum aus, ich wollte mehr wissen, und die Lücken, die Julya Rabinowich offen lässt, machten mich ganz unruhig. Welche anderen Männer betörte sie noch? Warum heiratete sie weder Kammerer noch Kokoschka, plötzlich aber Franz Werfel? Und was ist mit ihrem dritten Kind geschehen? Fragen über Fragen. Nichtsdestotrotz mochte ich Krötenliebe richtig gern, es hat mich mitgenommen auf eine Zeitreise ins aufgewühlte, erhitzte Kriegs-Wien, in Paul Kammerers Krötenlabor, in Oskar Kokoschkas Atelier, wo er eine lebensgroße Puppe anbetet, in Alma Mahlers Bett.

Krötenliebe von Julya Rabinowich ist erschienen bei Deuticke (ISBN 978-3-552-06311-2, 192 Seiten, 19,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IMG_7650„Mit Frauen ist es wie mit Gott, du kannst sie fürchten und anbeten, aber am Ende vernichten sie dich immer“
„Eine Psychose nennen Psychiater die Liebe, laut Weltgesundheitsorganisation braucht sie zwei bis drei Jahre, um auszuheilen.“ Trotzdem will sich die 45-jährige Schönheitschirurgin Margarete nach ihrer Scheidung auf eine neue Liebe einlassen – sie sucht sogar ganz bewusst danach. Als Objekt ihrer Begierde erwählt sie auf einem Kongress den Facharzt Heinrich: Single, erfolgreich, ein wenig dicklich, überaus neurotisch. Margarete ist sehr groß, sehr schlank, sehr schön und sehr nüchtern. Sie empfindet keinerlei sexuelle Begierde:

„Gern kopuliere ich nicht, weder im Liegen noch im Stehen. Ich kann nicht kopulieren. Ich bin alibidinös.“

Regelmäßig befriedigt sie sich selbst, um Hygiene zu betreiben, Lust verspürt sie dabei keine. Sie gibt sich so, wie die Männer sie haben wollen, stutzt ihr Schamhaar den „Trends“ auf YouPorn entsprechend und achtet aufmerksam auf all die Signale in einem Spiel, das sie nicht beherrscht. Heinrich, so stellt sich bald heraus, findet es erregend, wenn er Konkurrenz hat und eifersüchtig wird. Margarete lässt sich darauf ein – und ahnt nicht, wie gefährlich das noch wird …

Wer das Schnäuzchen voll hat vom eintönigen Einheitsbrei, der greife bitte zu Die Halbwertszeit der Liebe. Dieses Buch ist extrem: extrem amüsant, extrem anregend, extrem originell. Mit einer bewundernswert prickelnden Ironie erzählt die Kieferorthopädin Corinna T. Sievers, die bereits mehrere Romane veröffentlicht hat, von einer ungewöhnlichen Frau, die an einer Krankheit leidet, über die kaum jemals gesprochen wird. Protagonistin Margarete ist schön, gebildet, reich und hochbegehrt – nur sie selbst kann nicht begehren. In ihrem Körper tanzen keine Hormone Polka, sexuelle Lust ist ihr fremd, bei jedem noch so guten Stimulus bleibt sie trocken. Spezielle Medikamente wirbeln sie innerlich ein wenig auf, doch generell ist Margarete über die Maßen kontrolliert und emotionslos. Wie sie an die Liebe herangeht, ist so gefühlsbefreit, dass das Buch zu einem höchst kuriosen Lesevergnügen wird.

Mit diesem Roman ist Corinna T. Sievers etwas Eigenartiges gelungen: Er ist sehr nüchtern und sehr pathetisch zugleich. Der Stil ist offen und frei, erfrischend unverschämt, herrlich sarkastisch, sehr trocken, und dennoch an mancher Stelle überkandidelt, hochgeschaukelt, gefühlsbeladen. Das ist eine spannende Mixtur, die das Verlogene, Geheuchelte der Protagonisten spiegelt sowie der noblen Gesellschaft, in der sie sich bewegen: Hier zählen Schönheit, teure Autos, schicke Kleider, Intellekt, Ansehen und Geld. Die Ärzte sind gelangweilt und spielen, um sich die Zeit zu vertreiben, mit all dem, was ihnen ohnehin nichts bedeutet – und möge es dabei auch um Leben und Tod gehen. Dies nimmt die Autorin mit einer niveauvoll erzählten, perfiden und witzigen Geschichte auf die Schippe. Ein Buch, das mich wunderbar unterhalten hat in seiner Andersartigkeit. Well done!

Die Halbwertszeit der Liebe von Corinna T. Sievers ist erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt (ISBN 978-3-627-00225-1, 224 Seiten, 22 Euro). Hier findet ihr eine Leseprobe.

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Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Platzgumer„Was immer wir erinnern, wir haben es nicht gegoogelt, sondern erlebt“
Gerold Ebner kennt den Tod, er ist ihm nicht fremd. Schon früh ist er ihm begegnet, auf sehr direkte und persönliche Weise, in Gestalt des mumifizierten Herrn Gufler. Doch das hat dem Tod nicht gereicht, näher und näher ist er gekommen, wie ein Bombenflieger, dessen Einschläge immer gezielter werden. Gerold ist dabei Täter und Opfer zugleich, er wird getroffen, aber er hilft dem Tod auch, seine Arbeit zu erledigen. Wie es dazu kam und was geschehen ist, erzählt er in einer Abschrift, in diesem Roman. Er ist ein Monolog und ein Bericht, eine Erklärung und ein Abschiedsbrief. Denn Gerold sitzt auf einem Berg, ganz oben auf dem Gipfel sitzt er, und nur noch einen Schritt ist er entfernt davon, dem Tod erneut zu begegnen.

Am Rand ist ein Blick in den Abgrund. Es ist ein zutiefst melancholisches, verstörendes, trauriges Buch. Der österreichische Autor Hans Platzgumer, der sich mit Romanen, Opernmusik und Hörspielen als schreibender Tausendsassa zeigt, erzählt von einem, den das Schicksal beutelt, den es – auf gut Österreichisch – so richtig herfotzt. 200 Seiten nimmt er sich dafür, und doch wird sein Aufarbeiten eines fiktiven Lebens nur selten langweilig. Von einer Kindheit voll scheißgefährlicher Mutproben, Bubenfreundschaften und Karate berichtet der Ich-Erzähler, von einer Mutter, die sich mehr um die Patienten im Hospiz sorgte als um den eigenen Sohn, und von einem eigentümlichen Familienglück, das nicht lange währte.

Dabei gelingt Hans Platzgumer ein Kunststück: Bereits zu Beginn verrät er mir alles, was ich wissen muss. Das Ende der Geschichte ist am Anfang schon da. Und trotzdem will ich weiterlesen, will die Details erfahren, am Fluss der Erzählung entlangspazieren. Vieles, was ich später lese, überrascht mich durch dieses Selbstspoilering nicht, das liegt in der Natur der Sache, gut geschrieben ist es dennoch. Obwohl ich nicht nur ahne, sondern ganz genau weiß, welches Schicksal Gerold und mich auf der letzten Seite erwartet, folge ich seiner Spur dorthin wie Hänsel und Gretel. Und bin nach dem letzten Satz einigermaßen erschrocken. Am Rand ist ein unaufgeregtes, intelligentes Buch, auf merkwürdige Art erschütternd und unspektakulär zugleich – genau wie das Leben.

Am Rand von Hans Platzgumer ist erschienen im Zsolnay Verlag (ISBN 978-3-552-05769-2, 208 Seiten, 20,50 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

HeinEin Schelm, wer sich stets was Neues ausdenkt
Friedrich Bender ist ein Jugendlicher in der DDR. Das Leben dort ist einigermaßen öde, aber Friedrich ist überraschend kreativ: Wo keine Geschichten sind, da erfindet er welche. Zum Beispiel vor der gesammelten Klasse, der er regelmäßig berichten muss, was in der Zeitung steht. Keine sozialistische Zeitung ist derart spannend wie seine Erzählungen. Am interessantesten finden die Klassenkameraden freilich Friedrichs Freundin in London, in die er wahnsinnig verliebt ist – und die es leider gar nicht gibt. Während die Wende vielen Menschen, wie auch Friedrichs Eltern, den Boden unter den Füßen wegzieht, sieht er ein Paradies an neuen Möglichkeiten. Durch Einfallsreichtum gelangt er an Geld, Freunde, Frauen und einen Uniabschluss. Die Frage ist nur: Lässt sich ein ganzes Leben auf Lug und Trug aufbauen – oder bricht das Kartenhaus irgendwann in sich zusammen?

Kaltes Wasser von Jakob Hein wird auf dem Klappentext Schelmenroman genannt. Und das trifft es genau: Dies ist ein Schelmenroman par excellence. Und Protagonist Friedrich Bender ist ein ganz wunderbarer Schelm. Eigentlich ein 08/15-Typ, der sich von den Grenzen, die das Leben ihm auferlegt, schlicht nicht aufhalten lässt. Seine Fantasie überflügelt alles. Die Berliner Mauer hindert ihn daran, die DDR in der Realität zu verlassen. Aber in seinem Kopf reist er tatsächlich zu seiner Freundin nach England. Und das ist erst der Anfang – die Wende inspiriert ihn zu wahren Höhenflügen. Es gelingt dem deutschen Autor, der bereits 14 Bücher veröffentlicht hat, bestens, originelle Einfälle auf glaubwürdige Weise zu präsentieren. Das macht richtig viel Spaß. Ich weiß nie, was Jakob und Friedrich als Nächstes einfällt – und ich amüsiere mich prächtig mit diesem Buch. Es ist locker, luftig, schlau, witzig und ernst zugleich.

Jakob Hein ist ein Garant für niveauvolle Unterhaltung. Ich habe von ihm vor vielen Jahren Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht gelesen. Sein neuester Clou driftet trotz allen Schelmentums nie ins allzu Seichte ab und hat bei aller Heiterkeit stets einen leicht zynischen, vernunftvollen Hintergrund. Mit dem Ende bin ich nicht zu 100 Prozent einverstanden, aber insgesamt hat dieses Buch mir einen ganz herrlichen Ausflug ermöglicht in eine längst vergangene Zeit, als man noch – frei von virtueller Kontrolle – ein Schwindler sein konnte, verwegen und voller verrückter Einfälle. Dieser Roman ist genau ein kleines Stelldichein mit der Leichtigkeit der Fantasie.

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Kaltes Wasser von Jakob Hein ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-125-6, 240 Seiten, 18,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Florescu.JPG„Es kommt nicht darauf an, wer du bist, sondern nur, wer du vorgibst zu sein“
New York, 1899. Ein kleiner Junge schlägt sich durch: Er versucht Zeitungen zu verkaufen, putzt Schuhe, singt für die Huren und hofft jeden Abend, dass er genug Cent beisammen hat, um einen Schlafplatz im Heim und was zu essen zu ergattern. Mit den Gleichaltrigen gibt es keinen Zusammenhalt – wer etwas hat, das ein anderer will, wird verprügelt. Besonders im Ghetto sterben die Menschen im Stundentakt – und werden mit dem Totenschiff weggebracht. Der Junge, der sich später Berl und dann Paddy nennt, beschließt, niemals auf diesem Schiff zu landen – auch wenn er dafür Dinge tun muss, die er nie mehr vergessen wird. Elena dagegen, die in Rumänien in einem Donaudelta aufwächst, das man so gut wie gar nicht verlassen kann, würde alles geben, um nach Amerika zu gelangen. Doch eine schreckliche Krankheit macht alle Pläne zunichte. Erst viele Jahrzehnte später haben die Enkel dieser beiden Menschen die Chance, eine Art Erlösung zu finden.

Catalin Dorian Florescu in Rumänien geboren und hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht, von denen mich 2011 Jacob beschließt zu lieben sehr berührt hat. In seinem neuesten Buch öffnet er die Türen zu zwei Welten: zum alten, frostigen New York, einer Stadt voll Armut, Hunger und Elend, sowie zu einem winzigen rumänischen Dorf an der mitleidslosen Donau. Ein Mädchen und ein Junge, die Tausende Kilometer voneinander entfernt sind, versuchen zu überleben. Sie werden einander nie kennenlernen – ihre Enkel Ray und Elena jedoch schon. Als die Zeiten anders sind, als es keinen Eisernen Vorhang mehr gibt, dafür aber Flugzeuge, scheint die Entfernung zwischen diesen beiden Kontinenten nicht mehr unüberwindbar. Genau dasselbe liegt für die inneren, menschlichen Unterschiede. Diese Annäherung kann vielleicht Versöhnung bringen für die Vorfahren.

Die Geschichte von Der Mann, der das Glück bringt ist schön. Sie ist wild, spannend, melancholisch und originell. Eine prächtige Vielfalt an Details springt mich an, und Catalin Dorian Florescu ermöglicht mir eine Zeitreise in ein über 100 Jahre altes New York, über das er sorgfältig recherchiert hat. Ebenso lebendig sind seine Schilderungen des Lebens in Rumänien, das entbehrungsreich ist und hart, voller Sehnsucht und Enttäuschung. Manch sprachlicher Schnitzer und so einige Wortwiederholungen seien ihm angesichts der prallen, fesselnden und absolut lesenswerten Story verziehen. Ein gutes Buch lässt dich vergessen, an welchem Ort und zu welcher Zeit du dich gerade befindest. Dies ist ein solches Buch.

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Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-69112-6, 327 Seiten, 19,95 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Jones„It takes patience to see what is true in this world“
Es ist ein sonniger Tag, an dem vier Menschen aus verschiedenen Gründen zum Circular Quay in Sydney fahren, wo das Opernhaus und die Harbour Bridge begehrte Fotomotive für Tausende Touristen sind. Ellie will sich nach vielen Jahren mit James treffen, der mit 14 ihre erste große Liebe war, sie denkt ständig an ihn und alles, was sie miteinander erlebt haben. James dagegen, der inzwischen als Lehrer arbeitet, ist nach einer Trägodie am Boden – und findet keinen Weg, neu anzufangen. Einen schweren Verlust verkraften muss auch Catherine aus Dublin, deren Bruder bei einem Unfall gestorben ist. Und Pei Xing lebt schon sehr lange mit dem Schmerz, den der Tod ihrer Eltern während der Kulturrevolution für sie bedeutet. Sie besucht regelmäßig jene Frau im Altersheim, die ihr einst viel Leid zugefügt hat. Vereint sind alle vier im Zufall, der sie an diesem Tag an diesen Ort bringt, so auch ein entführtes kleines Mädchen unterwegs ist …

Gail Jones scheibt überraschend träumerisch, mit einer seltsam schleppenden, melodischen Sprache, die nicht wirr, aber dennoch schwer zu durchdringen ist. Die australische Autorin verwebt in Five Bells das Schicksal von vier Figuren, von denen nur zwei sich kennen: Ellie und James, deren Liebesbeziehung schon ein halbes Leben zurückliegt. Der Roman umfasst nur einen einzigen Tag – und viele Erinnerungen. Jeder Charakter kommt gleichermaßen zu Wort und erhält die Möglichkeit, von sich und seinem Leben zu erzählen. Wieso ist jeder Einzelne von ihnen hier? Welche Abzweigungen haben sie auf ihrem Weg genommen, welche Entscheidungen haben sie getroffen, was ist ihnen zugestoßen? Davon berichten sie auf ebenso emotionale wie resignierte Weise: Das Leben ist, wie es ist. Und dann geht es zu Ende.

Es gibt Bücher, denen man anmerkt, dass der Autor seine Figuren sehr gern hat, dass er liebevoll mit ihnen umgeht, mit ihnen leidet, sie einspinnt in einen Kokon aus Worten. Dazu gehört Five Bells. Ein solcher Umgang mit den Charakteren färbt immer auf mich ab: Ich mag sie dann auch. Ich will nicht, dass ihnen etwas Böses geschieht. Schließlich müssen sie ja wohl liebenswert sein. Ich nehme Anteil an ihrem Schicksal, gewöhne mich an sie und vermisse sie, wenn ich das Buch ausgelesen habe. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ein Autor so ausgezeichnet schreiben kann wie Gail Jones. Ich werde Ellie, James, Catherine und Pei Xing deshalb in guter Erinnerung behalten, auch wenn ich mit dem Romanende nicht ganz einverstanden bin. Ein sehr schönes, melancholisches, intelligentes Buch – von meiner Seite eine große Leseempfehlung.

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Five Bells von Gail Jones ist auf Deutsch erschienen unter dem Titel Ein Samstag in Sydney bei Edition Nautilus (ISBN 978-3-89401-778-1, 256 Seiten, 22 Euro). Eine Rezension dazu findet ihr bei Sophie von Literaturen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

KuckartEin Reigen aus elf Episoden
Eine Nachbarschaft mit ganz gewöhnlichen Menschen: Zwei Frauen leben dort, Emilie und Maria, die gemeinsam alt werden, in einem Bett. Zusammen urlauben sie in einem tschechischen Kurhotel, wo die Dinge ein wenig außer Kontrolle geraten. So ergeht es auch dem achtzehnjährigen Leonhard, der Silvester allein zuhaus verbringt. Als er am Neujahrsmorgen aufwacht, liegt eine fremde Frau in seinem Haus. Sie ist wesentlich älter als er – und völlig verrückt. Sie jobbt in einer Bäckerei und hat eine erfundene Tochter namens Ronja. In der nächsten Nacht verliert Leonhard seine Jungfräulichkeit an sie – bevor sie wieder verschwindet. Währenddessen sind Leonhards Eltern und Schwestern im Urlaub, wo auf sehr unspektakuläre Weise eine Scheidung beschlossen wird. Was all diese Menschen verbindet? Eine Person: ein Klavierlehrer mit langen Haaren, Retter in der Not, Anlass für Eifersucht, Todbringer.

Was ist das Glück? Wo finden wir es und wie? Das sind Fragen, die sich wohl alle Menschen stellen – genau wie die Figuren in den elf Episoden dieses Buchs. Die bekannte Autorin Judith Kuckart schreibt in diesen kurzen Interlinking Storys über Leute, die einander kaum kennen, in der Nähe voneinander leben, aber nichts miteinander zu tun haben. Wie bei einem halben Adventskalender öffnet sie elf Türchen und lässt mich in die Häuser sehen, für einen Moment nur: Wer lebt dort mit wem? Lieben sie sich? Haben sie Geld? Und: Sind sie glücklich?

Judith Kuckart kann wahnsinnig gut schreiben, schlicht und schlau und schön. Nicht jede dieser Kurzgeschichten begeistert mich, die eine gefällt mir, die andere nicht. Insgesamt sind sie alle wunderbare Mini-Kaleidoskope, die fiktive Leben in ihre bunten Aspekte zerlegen. Der Interlinking-Aspekt macht dabei großen Spaß: Taucht in einer Story jemand auf, den ich bereits aus einer anderen Geschichte kenne, freue ich mich, ihm wieder zu begegnen – und noch mehr über ihn zu erfahren. Ein Buch mit einem poetischen Titel und kleinen, feinen Episoden über Menschlichkeit und Verlust, überraschende Ereignisse und das Glück.

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Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück von Judith Kuckart ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 978-3-8321-9807-7, 220 Seiten, 19,99 Euro).