Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

fuerstenberg„Das, was vor mir lag und Zukunft hieß, war eine Ansammlung hässlicher Wahrscheinlichkeiten“
Johanna stammt aus der DDR, aber eigentlich auch nicht. Sie war erst zwei Jahre alt, als die Mauer fiel, und hat keine Erinnerung an das Leben hinter dieser Mauer. Die DDR-Witze ihres Ausbildners Reiner findet sie deshalb nur bedingt lustig. Reiner bringt Johanna das Straßenbahnfahren bei, und das will sie eigentlich bloß lernen, weil ihr sonst nichts einfällt – und weil ihre Mutter es nicht gut findet. Die hat Johanna allein aufgezogen, nachdem der Vater Jens ohne ein Wort verschwunden ist. Hat er rübergemacht? Hatte er eine zweite Familie? Wieso hat er nie von sich hören lassen? Das sind Fragen, die Johanna ihm nun, so viele Jahre später, endlich stellen könnte, denn Jens hat angerufen. Zeit dafür bleibt ihr allerdings kaum noch, denn ihr Vater hat Krebs im Endstadium. Sie kann ihn also nur finden, um ihn gleich wieder zu verlieren. Und manche Fragen bringt man einfach nicht über die Lippen …

Wer die Story-Outline von Familie der geflügelten Tiger hört, könnte denken: Ach, schon wieder. Der verschwundene Vater, eine Leerstelle, der sich plötzlich meldet – weil er stirbt. Und dann auch noch die DDR! Alles schon so oft dagewesen. Aber: weit gefehlt! Die junge Autorin Paula Fürstenberg, die am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert hat, umschifft in ihrem Debütroman gekonnt die Klischees. Dazu bedient sie sich eines Kniffs, der mich erst überrascht, dann aber beeindruckt. Ohne zu spoilern, sei nur so viel gesagt: Von ihrem Vater kann Ich-Erzählerin Johanna die benötigten Antworten nicht bekommen. Dies ist ein Buch über das Suchen – die Suche nach der eigenen Geschichte, nach einem Weg für die Zukunft, nach Aha-Momenten und nach der Liebe. Manches davon wird gefunden, anderes nicht.

Ich habe Paula Fürstenberg auf der Frankfurter Buchmesse kennengelernt – zumindest aus der Ferne. Denn der KiWi Verlag hat ein Bloggertreffen organisiert, bei dem sie – wie auch Nele Pollacek – aus ihrem Roman gelesen hat, den ich zu diesem Zeitpunkt bereits zuhause hatte. Das hat sie ganz wunderbar gemacht, und man hat ihr die Zuneigung zu ihren Figuren angemerkt. Daran hab ich mich erinnert, und diese Zuneigung hab ich dann beim Lesen gleich übernommen. Als Österreicherin hab ich zur DDR noch weniger Bezug als Protagonistin Johanna, aber ich hab mich von diesem Buch trotzdem abgeholt und geleitet gefühlt. Es ist klug, gewitzt, interessant und voller unerwarteter Wendungen. Ich möchte es euch hiermit unbedingt empfehlen. Gut gemacht, liebe Paula.

Familie der geflügelten Tiger von Paula Fürstenberg ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04875-9, 240 Seiten, 18,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

img_1288Das Einzige, was dabei hilft, das Leben zu ertragen, ist, es nicht so ernst zu nehmen. Und wie das in Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war von Joachim Meyerhoff klingt, sieht er das genauso. Sein Buch hab ich auf dem Frankfurter Flughafen gekauft, und allein das ist schon ein bisschen witzig: Ich bin mit Handgepäck zur Messe gereist und konnte deshalb von dort kein einziges Buch mitnehmen. Aber dann hatte ich, angeregt durch die vielen tollen Messeerlebnisse, zum ersten Mal wieder Lust, Bücher zu kaufen, und musste diesem Impuls einfach folgen: Deshalb hab ich kurz vor dem Boarding noch vier neue Bücher in meinen Rucksack gestopft. Darunter: der Meyerhoff. Ich weiß, dass das der zweite Teil ist, und ich werde weder den ersten noch den dritten lesen, ehrlich gesagt mochte ich von diesem hier einfach den Titel am liebsten. Und das mit dem Irrenhaus hat mich interessiert. Zudem dachte ich: Lies mal was Lockeres, Leichtes, lass dich ein wenig aufheitern, vielleicht hilft auch das. Und ja, das hat es. Joachim Meyerhoff schreibt wirklich, wie allerorts von der Kritik festgestellt, sehr warmherzig und humorvoll, sogar von Dingen, die gar nicht lustig sind. Das ist große Kunst. Literarischer Oberflieger ist das Buch keiner, aber das passt so. Alles ist richtig an diesem Buch, alles ist gut. Und es war für mich das perfekte Mittel, aus meiner Lesedeprimiertheit herauszufinden. Oder anders gesagt: Immerhin eine Irre wurde dadurch geheilt.

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war von Joachim Meyerhoff ist erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

14690982_1552281121454165_6272082350950412329_nCarson, Frankfurt und ich
So ein kleines Buch. So eine kleine Geschichte! Mit einer dennoch so großen Wucht. Eingepackt hab ich den schmalen Diogenes-Band, als ich zur Frankfurter Buchmesse geflogen bin, weil er so leicht ist und ich nur Handgepäck mitnehmen konnte. Dann war es in meiner Tasche an meinem ersten Tag in der Stadt, wo ich mir für ein paar Stunden eine Auszeit genommen habe, die – ich will euch nicht mit den Gründen dafür langweilen – ich dringend nötig hatte. Ich saß in einem Café in Sachsenhausen – wo sonst könnte man dieses Buch lesen, wenn nicht in einem Café – und niemand zerrte an mir, keiner musste aufs Klo, keiner aß mir den Apfelkuchen weg, kinderfreie Zeit, es war herrlich. Und dazu Carson McCullers schräge, eigenartige Story über eine starke Frau in einer kleinen Stadt, die auf höchst merkwürdige Weise ins Verderben gestürzt wird – zu einer Zeit, die so anders war als die heutige. Die Autorin, 1917 geboren, ging mit 18 Jahren nach New York und galt mit 23 als literarisches Wunderkind. In ihrem Haus ging die New Yorker Bohème ein und aus. Sie starb 1967, ihre Bücher gelten als Meisterwerke. Sie schreibt schnörkellos und direkt, ohne das Bemühen, möglichst schön klingende Worte zu finden, dafür mit Herz und einer Botschaft, so, wie heutzutage niemand mehr zu schreiben scheint. Und damit ihr euch ein bisschen mehr darunter vorstellen könnt, lasse ich euch hier ein paar ihrer eigenen Worte lesen. Ein wunderbar verrücktes, schmerzhaftes und in seiner Verschrobenheit poetisches Büchlein, das mich in einem besonderen Moment begleitet hat.

„Manche Menschen haben etwas an sich, das sie von den anderen, gewöhnlichen Leuten unterscheidet. Sie besitzen einen Instinkt, den man meistens nur bei Kindern antrifft, ein natürliches Gefühl dafür, zwischen sich und der übrigen Welt einen unmittelbaren und lebendigen Kontakt herzustellen.“

„Die merkwürdigsten Leute können Liebe auslösen. Ein Mann kann ein zittriger Urgroßvater sein und noch immer ein fremdes Mädchen lieben, das er eines Nachmittags vor zwanzig Jahren in den Straßen von Cheehaw sah. Der Prediger kann eine Gefallene lieben. Der Geliebte kann treulos sein, kann fettiges Haar haben oder schlechte Gewohnheiten, ja, und der Liebende mag das alles so deutlich wie alle anderen Menschen erkennen, doch das berührt das Wachstum der Liebe nicht im geringsten.“

„Doch das Herz kleiner Kinder ist ein empfindliches Organ. Ein grausamer Lebensbeginn kann es zu merkwürdigen Formen verkrüppeln. Das Herz eines verwundeten Kindes kann so verkümmern, dass es auf immer und ewig so hart und vernarbt wird wie ein Pfirsichkern.“

„Sie hatten so lange zusammengelebt, die beiden Alten, dass sie sich wie Zwillinge glichen. Sie waren braun und verhutzelt, zwei umherwandelnde Erdnüsse.“

„Das Leben wird oft zu einer einzigen langen, trübseligen Plackerei, um nur die zum nackten Leben notwendigsten Dinge zusammenzuscharren. Verwirrend ist nur, dass alle brauchbaren Dinge ihren Preis haben und nur mit Geld erworben werden können, denn so ist der Lauf der Welt. Ohne zu überlegen weiß man, wieviel ein Ballen Baumwolle oder ein Liter Sirup kostet. Doch das menschliche Leben hat keinen Geldwert, es wird uns umsonst gegeben, und es wird uns genommen, ohne dass wir dafür bezahlen. Wieviel ist es wert? Wenn man um sich blickt, könnte man meinen, dass es wenig oder gar nichts wert ist.“

Die Ballade vom traurigen Café von Carson McCullers (Erstveröffentlichung 1951) ist 1988 erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-20142-0, 128 Seiten, 8,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

dexter„Möglicherweise muss man verletzt werden, ehe man überhaupt etwas begreift“

„Niemand, der sich für die Frage interessiert, wo Journalisten ihre Storys herhaben, sollte glauben, dass die Kompassnadel jedes Mal neu ausgerichtet wird. Was sie fasziniert, das ändert sich nicht, nur der Ort, an dem sie es aufspüren.“

Für die Journalisten Yardley und Ward ist dieser Ort im Jahr 1965 eine Kleinstadt in Meat County, Florida, zufällig die Heimat von Ward. Hingelockt hat sie Charlotte Bess, die sich in den inhaftierten Mörder Hillary Van Wetter verliebt hat und seine Freilassung erwirken will. Er soll den Sheriff ermordet und ausgeweidet haben, den Sheriff, der in Ausübung seines Amtes zahlreiche Schwarze umgebracht hat. Yardley und Ward finden schnell heraus, dass Van Wetter ohne haltbare Beweise verurteilt wurde. Sie schreiben ihre Story. Doch das ist noch lange nicht das Ende der Geschichte …

Pete Dexter war selbst 15 Jahre lang Zeitungsreporter und hat sich mit Paperboy an den alten Grundsatz gehalten, über das zu schreiben, was man kennt. Sein Ich-Erzähler ist der Bruder von Journalist Ward und der Sohn eines Zeitungsinhabers. Er hat allerlei Probleme: Seit er von der Uni geflogen ist, kriegt er sein Leben nicht auf die Reihe – und spielt vorerst den Fahrer für Yardley und Ward, die betrunken am Steuer erwischt wurden. Deshalb ist er bei allen Recherchen live dabei – und die liefen in den 60er-Jahren noch sehr viel persönlicher ab als heute. Ohne Google, ohne Mails. Die Beziehung der Brüder zum Vater ist nicht gut, Mutter gibt es keine, aber immerhin nähern die beiden sich durch die Zeit, die sie zusammen verbringen, wieder an. Für den Ich-Erzähler geht es um das eigene sexuelle Erwachen, um das Nachahmen des Erwachsenenlebens, um das Sich-selbst-Finden. Für alle anderen geht es um eine gute Story, aber irgendwie auch um Leben und Tod.

Paperboy ist wild und rau und ungnädig. Sehr geil ist das Ambiente der 60er, es wird geraucht, gesoffen, geflucht, die Arbeit der Journalisten ist seltsam unstrukturiert und frei, sie sonnen sich noch im Glanz ihres Berufsstands, und so mancher, der sich einen Namen gemacht hat, tut einfach, was er will. Frauen sind Magneten, von denen die Männer angezogen, aber auch abgestoßen werden, alle spielen miteinander, umkreisen sich, treffen falsche Entscheidungen. Auch Homosexualität, damals noch stärker tabuisiert als heute, spielt eine entscheidende Rolle. Pete Dexter erzählt in einem coolen Matter-of-fact-Ton, der insofern typisch männlich wirkt, als dass er möglichst distanziert sein will und gerade dadurch etwas sehr Emotionales bekommt. Die Gefühle, über die keiner spricht, schimmern stets durch. Ein düsteres, dunkles, beklemmendes, sehr lesenswertes Buch aus einer Zeit, die erst 50 Jahre her ist – und doch längst vergangen.

Paperboy von Pete Dexter ist erschienen bei Liebeskind (ISBN 978-3-95438-008-4, 320 Seiten, 19,80 Euro). Das Buch wurde mit John Cusack, Matthew McMcConaughey und Nicole Kidman verfilmt.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

VannVon der Liebe zu den Fischen und dem Hass auf die Familie
Caitlin verbringt viel Zeit im großen Aquarium, weil sie dort jeden Tag nach der Schule auf ihre alleinerziehende Mutter wartet. Die reißt sich den Arsch auf, weil sie keine gute Bildung hat, weil sie Geld braucht, sie arbeitet hart und viel. Caitlin ist auf sich gestellt, doch dann trifft sie im Aquarium einen älteren Mann, der sich für die vielen Fische interessiert – und für sie. Das Mädchen blüht unter der Aufmerksamkeit des Fremden auf und hat doch keine Ahnung, wer das ist. Als Caitlin es erfährt, gerät ihre kleine Welt völlig aus den Fugen – und ihre Mutter offenbart ihr wahres Gesicht, das alles andere ist als liebevoll.

David Vann ist einer, der mit aller Kraft zuschlägt. Er hat es nicht so mit Zurückhaltung. Wenn er was sagen will, dann haut er mitten in die Fresse, um den heißen Brei redet er nicht herum. Wo andere wegschauen würden, da greift er voll hinein. Das ist sehr mutig. Das ist auch sehr gewöhnungsbedürftig. Als ich seinen Roman Dreck gelesen habe, war ich vorübergehend regelrecht verstört. Er hat mich aus der Balance geworfen, mich erschreckt und abgestoßen. Deshalb wusste ich einerseits vor der Lektüre von Aquarium in etwa, was auf mich zukommen würde – und hatte zugleich Angst davor. Das Buch im Regal stehen zu sehen, war ein bisschen so, wie im Wartezimmer beim Zahnarzt zu sitzen. Eins aber vorweg: Aquarium ist nicht so schlimm wie Dreck. Und ich finde es viel besser.

David Vann geht brutal mit seinen Figuren um – aber das bedeutet nicht, dass er kein Herz für sie hätte. Er wirft sie hinein in ihr Leid, lässt sie dort jedoch nicht allein. Mit seiner zwölfjährigen Protagonistin hat er ein Mädchen erdacht, das für sein geringes Alter vieles erdulden und verstehen muss – und dabei doch so gern einfach nur ein behütetes Kind wäre. Diese tiefe Sehnsucht nach einem intakten Zuhause, die in uns allen schlummert, ist der eigentliche Kern des Romans. Was tut eine Mutter, wenn sie ein solches Zuhause nicht bieten kann? Wenn die eigenen Erwartungen an das Leben nicht einmal ansatzweise erfüllt wurden? Wie weit geht ein Kind, um sich diesen Wunsch vom familiären Zusammenhalt auch gegen jeden Widerstand zu erfüllen? Die Geschichte, die David Vann erzählt, ist hart und grenzwertig, schmerzhaft und unerträglich realistisch. Er setzt sich mit dem Konstrukt Familie auseinander, mit der Frage nach Schuld und Sühne, mit der Verantwortung, die wir für jene haben, die wir lieben. Auf diese Fragen findet er ungewöhnliche Antworten – die garantiert jeden Leser aufwühlen. Wenn ihr etwas lesen wollt, das euch herausreißt aus eurem Trott, das euch angreift und rüttelt und zum Nachdenken bringt, dann ist David Vann euer Mann (der Reim, Verzeihung, ist nicht beabsichtigt) und Aquarium euer Buch. Ich kann es absolut empfehlen, es nimmt den Schleier von unseren Augen und von unseren Herzen.

Aquarium von David Vann ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42536-7, 282 Seiten, 22,95 Euro). Besprechungen dazu findet ihr bei Literaturen, Masuko13, literaturleuchtet und Buchrevier.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

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„Das wünsche ich uns allen. Einen friedlichen Tod“
Da gibt es die Fotografin, die Bilder von den wenigen Menschen macht, die den großen Brand vor so vielen Jahrzehnten überlebt haben, das Matheson Fire 1916, und noch nicht gestorben sind. Da gab es Boychuck, von dem sie sich Informationen hofft, der aber leider schon tot und begraben ist, als die Fotografin im Wald ankommt. Dort hat Boychuck wie ein Einsiedler gelebt, zurückgezogen von der Welt – gemeinsam mit Charlie und Tom. Sie wollen nichts mehr wissen von ihren Verpflichtungen, von ihrer Vergangenheit und ihren Angehörigen. Dies ist ihre Freiheit: zu leben und zu sterben, wo sie wollen. Und dann gibt es da noch Marie-Desneige, die mehr als 60 Jahre in der Psychatrie verbracht hat und die eigentlich gar nicht so heißt. Wobei vermutlich keiner der Alten noch seinen wahren Namen trägt – was auch gar keine Rolle mehr spielt, denn jetzt sind sie zusammen, jetzt sind sie, wer sie am Ende ihres Lebens noch sein wollen.

Jocelyne Saucier lebt angeblich an einem Ort mit nur zehn Menschen, im Wald. Das gibt mir, als ich es lese, zu denken. Sind die miteinander verwandt, kannten die sich vorher schon? Wer liebt wen, wie geht das zusammen? Und warum lebt man an einem solchen Ort? Auf diese Fragen werde ich wohl keine Antwort finden. So oder so kennt die Autorin sich aus mit dem, worüber sie schreibt: dem Leben fernab der Zivilisation. Dieses Buch mit dem sehr schönen Cover ist ebenso gut wie merkwürdig. Der Stil, in dem es geschrieben ist, ist höchst eigenartig: Die Perspektiven wechseln, mal ist die Fotografin eine Ich-Erzählerin, dann nicht mehr, und ein allwissender Erzähler gibt regelmäßig einen Zwischenstand bekannt, wie weit die Geschichte schon gekommen ist und was ihr noch bevorsteht. Das finde ich manchmal verwirrend, generell aber ganz originell.

Überhaupt punktet Ein Leben mehr mit dem Faktor, sehr originell zu sein: Ich hab schon viel gelesen, aber so etwas tatsächlich noch nicht – weder stilistisch noch inhaltlich. Auch die Story an sich ist endlich mal was völlig Neues. In den nordkanadischen Wäldern war ich noch nie, über die Menschen dort weiß ich nichts. Umso mehr Spaß macht es, etwas über sie zu erfahren. Alt sind Jocelyne Sauciers Figuren, gewitzt, zäh und verlogen. Sie sind Aussteiger, die sich nichts mehr scheren, um niemanden. Der Einblick in ihren Lebensabend inmitten einer Kifferplantage ist höchst vergnüglich und absolut lesenswert.

Ein Leben mehr von Jocelyne Saucier ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-458-17652-7, 192 Seiten, 19,99 Euro). Sehr schöne Besprechungen dazu findet ihr auch bei Literaturen und Leseschatz.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

„Gott liebtIMG_9130 die Menschen an der Küste nicht so sehr wie die in Binnenland und Städten“
„Sie waren inmitten der Jahreszeit, in der alles Lebendige stirbt, in der sich Tiere und Menschen in sich selbst verkriechen und noch kleiner werden, als sie es ohnehin schon sind, in der die Natur stumm ist, bist auf das Rauschen des Meeres, und kein Gebet auch nur das Mindeste aufzuhellen vermag.“ So ist es auf Barrøy, als Ingrid zurückkommt, als Einzige. Dies ist die Insel ihrer Kindheit, nur einen Kilometer lang und einen halben Kilometer breit, aber niemand ist hier, der Krieg hat sie verstreut, verschwinden lassen, getötet. Norwegen ist im Jahr 1944 stumm und kalt und gefährlich. Ingrid ist allein, bis das Meer die Leichen ausspuckt, einen Berg an Leichen, überall auf der Insel, nur eine lebt noch, gerade so. Ingrid kümmert sich, sie pflegt und füttert und wäscht, und tatsächlich kommt das Bündel Mensch zurück ins Leben. Er ist Russe, ein Kriegsgefangener vermutlich, sie haben keine gemeinsame Sprache und brauchen doch keine. Ihre Körper können einander wärmen, sie können zeigen und benennen und lachen. Nur rücken die Schergen näher, wie eine unaufhaltsame Welle rollt die Gefahr heran. Als Ingrid im Krankenhaus erwacht, ist die Erinnerung an das, was geschehen ist, fort – genau wie der Mann.

Ich mag Roy Jacbsen. Ich mochte schon Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte, und Weißes Meer hat mich tief beeindruckt. Das Buch ist wie seine Protagonistin: schweigsam, stark und ungezähmt. Die Naturgewalten beherrschen das Leben auf Barrøy und diesen Roman: der Wind, das Meer, der Winter. So eindringlich schildert der bekannte norwegische Autor den Alltag von Ingrid, dass ich fast meine, den Salzfisch zu riechen, die kratzige Wolle zu spüren und die Angst vor der Flut zu fühlen. „Barrøy ist das Land des Schweigens, wo die Erwachsenen den Kindern nicht erklären, was sie zu tun haben, sie zeigen es ihnen, und die Kinder ahmen nach.“ Niemand ist geschwätzig, und dieses Buch ist es auch nicht. Die Menschen packen an, ringen dem Land ihr eigenes Überleben ab – Tag für Tag. Wortkarg sind sie, ruppig und unzugänglich.

Und dann: die Liebe. Aber mit keinem Satz lässt Roy Jacobsen das Klischee teilhaben an dem, was geschieht, nicht einmal reinschauen darf das Klischee in das Buch. Die Liebe ist für Ingrid wie ein üppiges Essen: etwas, das man zu schätzen weiß, weil es wertvoll ist, an dem man sich mit Hast und ohne Zurückhaltung bedient, um Kraft zu haben für die schrecklich kalten Zeiten, die kommen werden. Mit überaus bewundernswertem Einfühlvermögen hat ein Mann die Gesch, und die doch so gern weich wäre. Weißes Meer ist kraftvoll, hochinteressant, intensiv und klug. Ein sehr, sehr gutes Buch, das viele Leser und viel Aufmerksamkeit verdient hat.

Lieblingszitat: „Niemand weiß, wo er gewesen ist, aber er gehört dermaßen hierher, dass auch niemand fragt, er sieht so alt aus, dass nur seine Stimme noch von ihm übrig ist.“

Weißes Meer von Roy Jacobsen ist erschienen im Osburg Verlag (ISBN 9783955101053, 250 Seiten, 20 Euro). Eine begeisterte Besprechung findet ihr auch bei Leseschatz.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

King„Schon damals glaubte sie fest daran, dass es irgendwo auf der Erde eine bessere Art zu leben gab und dass sie sie finden würde“
Die Amerikanerin Nell Stone ist Ethnologin. Anfang der 1930er-Jahre erforscht sie gemeinsam mit ihrem Mann Fen verschiedene Stämme in Neuguinea. Die Arbeit ist gefährlich, die Eingeborenen sind den Weißen selten wohlgesonnen, Kannibalismus ist keine Seltenheit und die Malaria sucht sie mit Fieberschüben heim, von denen jeder der tödliche sein könnte. Aber Nell liebt das, was sie tut, es ist ihre Leidenschaft, ihr ganzes Leben. Sie freundet sich mit den Kindern an, baut Beziehungen zu den Frauen auf, lernt die Sprache.

„Im Grunde behindert die Sprache die Kommunikation, merke ich immer wieder, sie steht im Weg wie ein zu dominanter Sinn. Man achtet viel stärker auf alles Übrige, wenn man keine Worte versteht. Sobald das Verstehen einsetzt, fällt so viel anderes weg. Man beginnt sich ganz auf die Worte zu verlassen, aber Worte sind nur bedingt verlässlich.“

Nell ist hart im Nehmen, frei von Vorurteilen und wahnsinnig interessiert. Es ist jedoch nicht einfach, zu beurteilen, ob das, was die Frauen und Kinder ihr erzählen, auch tatsächlich die Wahrheit ist.

„Ich glaube, mehr als alles andere ist es die Freiheit, nach der ich in meiner Arbeit suche, in all diesen entlegenen Gegenden der Welt – nach einer Gruppe von Menschen, die einander den Raum geben, so zu sein, wie es den Bedürfnissen eines jeden entspricht.“

Schwieriger als der Umgang mit den Stammesangehörigen ist Nells Beziehung zu Fen. Er neidet ihr den Erfolg, sabotiert ihre Arbeit, gibt ihr allein die Schuld an ihrer Kinderlosigkeit. Er ist besitzergreifend und aggressiv. Fen will die „Wilden“ nicht erforschen, er will einer von ihnen sein.

„Nichts in der primitiven Welt schockiert mich“, sagt er, „Ich hatte schon immer einen Blick für die Barbarei unter dem Firnis der Zivilisiertheit. Sie liegt gar nicht tief unter der Oberfläche, egal, wo du hinkommst.“

Und dann begegnen sie Andrew Bankson. Der junge Forscher ist vor Einsamkeit derart ausgehungert, dass er Nell und Fen braucht wie ein Stück Brot. Aber auch sie brauchen ihn, als Gegengewicht, als Inspiration. Tief im malariaverseuchten Urwald entspinnt sich eine Dreiecksgeschichte, die letztlich gefährlicher ist als alles andere.

Ich mag, ganz platt gesagt, Bücher, bei denen ich etwas lerne. Die mir nicht nur Unterhaltung bieten, sondern auch ein Plus an Wissen. Darin kann ich mich so richtig verlieren, ein Aha-Effekt tritt ein, Information und Fiktion vermengen sich und sorgen für den perfekten Kitzel im Hirn. So ist Euphoria von Lily King. Inspiriert wurde das Buch von den wahren Ereignissen rund um die weltberühmte Ethnologin Margaret Mead. Die New York Times hat es 2014 unter die besten fünf literarischen Bücher des Jahres gewählt, und obwohl ich lange gebraucht habe, um in die Geschichte hineinzufinden, kann ich sagen: absolut zu Recht! Euphoria ist wild, ungezähmt, fantastisch und sehr ungewöhnlich. Die merkwürdigen, wechselnden Erzählperspektiven haben es mir anfangs schwer gemacht, dann aber wusste ich ihre originelle Aufstellung zu schätzen. Der Reigen aus Liebe und Neid, Gefahr, Fremdheit und Betrug ist wie ein wirbelnder Sturm, der mich mitgerissen hat, und er ist ebenso lehrreich wie unterhaltsam. Über Neuguinea der 1930er-Jahre wusste ich nichts, über die Feldarbeit der damals lebenden Ethnologen wenig. Ihnen standen nicht im Geringsten die heutigen Mittel zur Verfügung, und sie waren, natürlich, nicht frei von menschlicher Gier. Etwas abrupt kommt in meinen Augen der Schluss daher, was ich schade fand – denn kaum waren meine Anfangsschwierigkeiten überwunden, wollte ich gar nicht mehr, dass der Roman zu Ende geht. Euphoria ist spannend und sinnlich, faszinierend und fantasievoll. Ein Buch über Begierde, Macht, die Unterschiede zwischen den Kulturen und den Tod. Ihr solltet es unbedingt lesen.

Euphoria von Lily King ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-68203-2, 262 Seiten, 19,95 Euro). Eine begeisterte Besprechung findet ihr auch bei Mara.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

MelandriZwei stolze Frauen und ein umkämpftes Land
„Auch hier in den Bergen machten die Menschen, wenn die Emotionen überhandnahmen, den Mund fest zu, während der Blick offen blieb, so, als flehe man darum, vom Schweigen erlöst zu werden.“ Genau wie zuhause in Südtirol. Das fällt Gerda auf, als sie mit 16 Jahren in den Norden geschickt wird, um in einem Hotel zu arbeiten. Mädchen wie sie werden gemeinhin „Matratze“ genannt, doch Gerda ist keine Matratze. Sie ist von solcher Schönheit, dass niemand im Hotel es wagt, sie anzurühren. Schwanger wird Gerda aber trotzdem, von einem von zuhaus, einem Reichen, der nichts zu tun haben will mit ihr. Das Kind nennt Gerda Eva, und in ihrer Verzweiflung bringt sie es heim nach Südtirol, lässt es dort bei Verwandten zurück, die sie kaum kennt, um ihre Arbeit nicht zu verlieren. Heute ist Eva vierzig Jahre alt, und sie erinnert sich. Sie macht sich auf den Weg zu einem Mann, der ihr Vater hätte sein können vor all den Jahren, einem Mann, der im Sterben liegt und sie gebeten hat zu kommen. Auf ihrer Fahrt durch ganz Italien reist Eva zurück in die Vergangenheit: in ihre Kindheit, in der sie immer gewartet hat auf den Bus, der die Mama bringt, zu ihrem besten Freund Uli, der ihr so sehr fehlt, in die Zeit, in der sie eine Familie hätten sein können, sowie in die Geschichte Südtirols, dieses ebenso stolzen wie gepeinigten Landes, in dem die Menschen von Freund zu Feind zu Freund wurden und dabei aufs Glücklichsein vergaßen.

Ich kenne Francesca Melandri durch ihr großartiges Buch Über Meereshöhe. Als mir irgendwann in einer Buchhandlung ihr Erstling unterkam, hab ich trotz der Nur-ein-Buch-pro-Autor-Beklemmung, unter der ich leide, zugegriffen. Eva schläft ist ein Roman über Südtirol. Er enthält sehr viele Informationen und Hintergrundwissen, er erläutert und setzt in Bezug, ohne dabei je langweilig und belehrend zu werden. Ganz im Gegenteil. Vieles weiß ich noch aus der Schule und von der Uni, doch Francesca Melandri – die selbst lange in Südtirol gelebt hat – füllt die harten Fakten mit dem weichen Zauber der Fantasie, sie lässt Historie und Fiktion verschmelzen. Das ist sehr interessant und wirklich gelungen. Das Verhalten ihrer Figuren erklärt sich durch die Umstände, durch Krieg, Zwangsumsiedelung und Verrat. Die Menschen sind hart, schweigsam und zum Großteil sehr arm. Viele wollen etwas verändern, viele haben Angst.

Eva schläft ist zudem ein Buch über zwei Frauen: Eva selbst, eine abgeklärte, emotional stabile Frau Anfang vierzig, und Gerda, ihre Mutter, die ihr Leben lang schwer gearbeitet hat und immer allein geblieben ist – trotz ihrer überwältigenden Schönheit. Eva weiß viel über ihre Mutter, aber sie weiß eben nicht alles. Und das, was sie nicht weiß, betrifft auch sie selbst, hätte ihr Leben verändern können vor langer Zeit. Manche Entscheidungen haben so weitreichende Konsequenzen, dass auch Generationen nach uns sie spüren. Francesca Melandri ist eine grandiose Erzählerin. Die beiden Romane, die ich nun von ihr kenne, unterscheiden sich sehr stark. Beide sind auf ihre Weise über die Maßen lesenswert, beide kann ich euch absolut empfehlen. Ich würde mir sogar ein drittes Buch von dieser Autorin kaufen, und wer mich ein bisschen kennt, der weiß: Das heißt was!

Eva schläft von Francesca Melandri ist als Taschenbuch erschienen im Heyne Verlag (ISBN 978-3-453-40936-1, 448 Seiten, 9,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Glavinic„Solange ich lebe, bin ich ewig“
Dass das Leben des jungen Jonas ungewöhnlich ist, hat folgende Gründe:

– Er hat einen Zwillingsbruder namens Mike, mit dem bei der Geburt was schiefgegangen ist.
– Seine Mutter säuft und kümmert sich nicht.
– Er kommt bei seinem Freund Werner unter und wächst dort auf.
– Er kann sich mit Werner telepathisch unterhalten.
– Werner lebt bei Picco in einer riesigen Villa, hat Privatlehrer, einen Chaffeur und den Arsch voll Geld.
– Dieses Geld kommt aus dubiosen Quellen.
– Als Jonas volljährig wird, gehört all das Geld ihm.

Jetzt ist Jonas erwachsen und mitten auf dem Mount Everest. Er will auf den Gipfel, trotz aller tödlichen Risiken, denn ob er bei dem Versuch, ganz hinaufzukommen, stirbt, ist ihm egal. Denn Jonas vermisst Marie, und ohne Marie hat nichts einen Wert. Dies sind weitere interessante Fakten über Jonas:

– Er hat ein großes Baumhaus in einem Wald in Oslo.
– Der Frau, die es für ihn gebaut hat, hat er höchstwahrscheinlich das Herz gebrochen.
– Er kann Sprachen verstehen, ohne sie je gelernt zu haben.
– Marie ist seine Seelenverwandte.
– Marie ist fort.

Thomas Glavinic ist einer der bekanntesten Autoren Österreichs, und trotzdem hat es lang gedauert, bis ich endlich ein Buch von ihm gelesen habe. Allerlei Gutes hatte ich über Das größere Wunder gehört, das 2013 auch für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Eine konkrete Vorstellung hatte ich allerdings nicht von diesem Roman, und so war ich doppelt überrascht: zum einen von der sprachlichen Schlichtheit, zum anderen von der verrückten Geschichte. Da erzählt einer einfach so, wie es ihm Spaß macht, kümmert sich wenig darum, dass mancher Dialog eher seicht ist, manche Idee ein wenig haarsträubend. Und das ist bei Buchpreiskandidaten, seien wir ehrlich, ja doch eher ungewöhnlich, denn da wird normalerweise moralisiert und geschichtelt, gewusst und übertrumpft. Es bewirkt außerdem, dass auch das Lesen Spaß macht, hat man sich erst einmal auf Glavinics Wellenlänge eingestellt. Ich wusste nicht, dass man Thomas Glavinic nicht ernst nehmen darf, dass er experimentiert, der Realität ausweicht, Dinge tut, die man in Wirklichkeit nicht tun kann. Erstaunt bin ich auch über die Vielzahl an sprachlichen Misstönen, über das Danebenhauen und Schludrigsein, damit hatte ich wahrlich nicht gerechnet. Das größere Wunder ist erstaunlich leicht, fantasievoll, originell und amüsant. Seine großen Gedanken kommen nicht aufg’mascherlt, sondern schüchtern lächelnd daher, und das Buch ist genau das, was man niveauvolle Unterhaltung nennt. Es ist ein Todeskampf auf einem Berg, auf dem Menschen nicht sein sollten, es ist ein Erwachsenwerden, ein Nachdenken, ein Sichfinden und ein Sichverlieben, und eigentlich ist es auch die ganze Zeit die Frage: Was soll das alles, wozu sind wir hier? Bestes Zitat:

„Elend wird nach Richter gemessen.“
„Wovon reden Sie da?“
„Von Erdbeben. Oder eigentlich davon, wie man Erdbeben und Elend misst. Die Mercalli-Skala endet bei 12. Richter ist prinzipiell nach oben offen. Übelkeit, Elend, Depression – alles Richter. Freude, Lust, Glück – alles Mercalli.“

Das größere Wunder von Thomas Glavinic ist als Taschenbuch erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-14389-9, 528 Seiten, 11,90 Euro).