Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Arjouni„Die Menschen sind nun mal Schweine, das war schon immer so, das wird auch immer so bleiben“

„Chens Einfallsreichtum, wenn es darum ging, jemanden vor den Kopf zu stoßen, war grenzenlos.“

Aus diesem Grund kommt sein Partner Max Schwarzwald auch nicht gut mit ihm klar. Die beiden Ashcroft-Männer sind offiziell ein Team, in Wahrheit aber verfeindet. Wir schreiben das Jahr 2064, und die Aufgabe von Max und Chen ist es, Verbrechen aufzudecken, bevor sie geschehen. Das bedeutet: Sie sind Spione. Sozusagen Spione des Zukünftigen. Wer plant, einen Mord zu begehen, etwas zu stehlen oder mit Drogen zu handeln, wird verhaftet und eingesperrt – noch ehe er die Tat überhaupt verüben kann. Zur Tarnung betreibt Max das Restaurant „Chez Max“, und im Moment hat er Gewissensbisse, weil er den Maler Leon verpfiffen hat. Obwohl er der Meinung ist, im Recht zu sein, und obwohl er seinen Job als moralisch richtig empfindet, ist es im bis ins Mark gefahren, bei der Verhaftung Leons zusehen zu müssen. Doch bald wird er abgelenkt von einem neuen Verdacht: Ist Chen vielleicht in Wahrheit ein Verräter? Spielt er nur vor, auf der Seite der Guten zu stehen? Max will es herausfinden. Und mit allen Mitteln verhindern, dass Chen ein Verbrechen begeht …

Halleluja, war Jakob Arjouni ein schlauer Mensch! Ich bin von diesem schmalen Roman, den der leider bereits verstorbene deutsche Autor 2006 geschrieben hat, tief beeindruckt. Er ist nicht dick, er ist nicht ausführlich, und doch: Er ist durchdacht. Er ist verblüffend, raffiniert und überaus intelligent konstruiert. Jakob Arjouni nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Zukunft, ohne jedoch eine umfassende, komplizierte Welt bzw. Gesellschaft zu entwerfen, nein, er nimmt sich ein Detail heraus, die Verbrechensbekämpfung, kreiert zwei Figuren, und mehr braucht er nicht, um eine spannende, kluge Geschichte zu erzählen – die auf raffinierte Weise zu einer self-fulfilling prophecy wird. Freilich liegt der Gedanke an George Orwells 1984 nahe, wenn es um einen Überwachungsstaat geht, wobei Arjounis Dystopie weitaus humorvoller ist, und freilich ist Chez Max aus genau diesem Grund ein hochaktueller, brisanter, wichtiger Roman. Hinter dem für Diogenes typischen schlichten Cover verbirgt sich eine Story, die sich selbst auf wunderbare Art ad absurdum führt – und dabei gleichzeitig ihre eigene Hypothese beweist. Das muss man erst einmal schaffen, und dafür gebührt Jakob Arjouni, der auch bekannte Krimis sowie Theaterstücke schrieb, großes Lob. Und ihr solltet Chez Max auf jeden Fall lesen: Das ist ein Buch, das schmunzeln, aufhorchen und nachdenken lässt.

Chez Max von Jakob Arjouni ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-23651-4, 224 Seiten, Taschenbuch, 9,90 Euro).

 

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

KobekDer Roman der Stunde
Jarett Kobek hat I hate the internet im Selbstverlag bei Amazon eingestellt – und etwas geschafft, das von diesen Selbstverlagautoren so gut wie keiner schafft: Sein Buch wurde von einem Verlag aufgegriffen und publiziert, in diverse Sprachen übersetzt, ein Superseller. Dass dieser Roman im Internet seinen Anfang nimmt, das passt, denn das Internet hat er auch zum Inhalt. Nichts als das Internet. Um es einmal klar zu sagen: Dies ist ein wirklich schlechtes Buch. Eigentlich. Das betont der Autor selbst auch immer wieder, er macht daraus kein Geheimnis. Vielmehr spielt er damit, stellt sich selbst dadurch einen Freibrief aus. Dies ist ein mieser Roman, schreibt er, und deswegen kann er darin tun, was er will. I hate the internet ist ein wahnsinnig sarkastisches, fieses, böses, lustiges, grausiges Buch mit vielen Gedanken, die wir alle wohl schon hatten, und ohne Handlung. Ich hab gelacht mit diesem Roman, ich hab genickt, mich gegruselt, mich abgeholt gefühlt – und dass er schlecht ist, war mir vollkommen egal.

Irgendwie, am Rande, geht es um eine Frauenfigur namens Adeline, Comiczeichnerin und Internet-Unwissende, die einen Vortrag hält und dabei Meinungen äußert, die ihr einen gepflegten Shitstorm einbringen. Der Autor bleibt aber nicht bei seiner Figur, sondern mäandert ziellos herum, kommt von einem zum anderen, springt, spottet und witzelt – stets mit ernstem Hintergrund. Sein Buch zu lesen, ist, als würde man im Internet surfen: Man klickt sich durch, kommt von einem Wikipedia-Eintrag zu einem anderen zu einem Youtube-Video zu einer Band-Website zu Facebook und dann hat man längst vergessen, was man ursprünglich gesucht hat.

I hate the internet löst ein Lachen aus, das einem im Hals stecken bleibt. Silicon Valley, Hipster, Google, Gentrifizierung, Rants und Grids und Likes, geistiges Eigentum und dessen Diebstahl, Geld, Banken, Lug und Trug, Hatespeech: Das ist unsere Welt. Jarett Kobek analysiert sie nicht, er bildet sie ab, und das ist wahrlich schlimm, denn: Alles, was er schreibt, ist wahr. Und damit ihr euch besser vorstellen könnt, wie sich I hate the internet liest, soll das Buch hier selbst zu Wort kommen:

The internet was a wonderful invention. It was a computer network which people used to remind other people that they were awful pieces of shit.

Some of her other mistakes: She was a woman in a culture that hated women. She’d become kind of famous. She’s expressed unpopular opinions.

The One True God was an idea that took many forms and shapes. The One True God was a potent weapon used by sexually repressed members of society to inflict misery on everyone else.

Automobiles were mechanized vehicles which transported human beings from one point to another while destroying the atmosphere and the planet.

The formalized systems in which grown men threw around balls were called sports. Sports were big money for men who threw around balls, and even bigger money for the men who paid other men to throw around balls. Typically the men who paid other men to throw around balls would find their employees among the poor and ill-educated, as the poor and ill-educated were more likely to sign bad contracts.

It was the twenty-first century. It was the internet. Fame was everything. There was nothing left to buy. Fame was everything because traditional money had failed. Fame was everything because fame was the world’s last valid currency.

Adeline’s real error was critizising both Beyoncé and Rihanna and their fans’ relationship to their achievements. Beyoncé and Rihanna were pop stars. Pop stars were musical performers whose celebrity had exploded tot he point where they could be identified by single words. You could say BEYONCÉ or RIHANNA to almost anyone anywhere in the industrialized world and it would conjure a vague neurological image of either Beyoncé or Rihanna. Their songs were about the same six subjects of all songs by all pop stars: love, celebrity, fucking, heatbreak, money and buying ugly shit.

All the while, Google was making money.

Sometimes it feels like there are only eleven people in the world and that the rest are paste.

Weirdly, anywhere in America, gay people could marry other gay people of the opposite gender. This tended to defeat the purpose of marriage, a social tradition by which sex is legitimized through shared bank accounts.

The illusion of the internet was the idea that the opinion of powerless people, freely offered, had some impact on the world. This was, of course, total bullshit and a crzy idea of who ran the world. The world was not run by its governments. The world was not run by its celebrities. The world was run by its bankers. The history of human destiny was money, the men who controlled it, and nothing more.

I hate the internet von Jarett Kobek ist auf Deutsch unter dem Titel Ich hasse dieses Internet bei S. Fischer erschienen.

 

 

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Bronsky„Wir sind den Menschen unheimlich. Sie scheinen zu glauben, dass die Todeszone sich an die Grenzen hält, die Menschen auf Landkarten einzeichnen“

„Es gibt Tage, da treten sich in unserer Hauptstraße die Toten auf die Füße. Sie reden durcheinander und merken nicht, welchen Unsinn sie erzählen. Das Stimmengewirr hängt über ihren Köpfen. Dann wiederum gibt es Tage, da sind sie alle weg. Wohin es sie dann verschlägt, weiß ich nicht. Vielleicht erfahre ich es, wenn ich eine von ihnen bin.“

Und eine von ihnen könnte Baba Dunja bald sein: Sie ist alt, und sie lebt in Tschernowo. Das ist ein Gebiet um Tschernobyl, so verstrahlt, dass niemand es betreten will, sogar der Bus hält an einer Stelle zwei Stunden Fußmarsch von Tschernowo entfernt. Baba Dunja ist heimgekehrt. Sie weiß genau – zumal sie ihr Leben lang Krankenschwester war –, was für eine Gefahr das Gemüse darstellt, das sie in ihrem kleinen Garten erntet, wie tödlich jeder Schluck Wasser sein kann, doch es kümmert sie nicht. Sie will zuhause sein, sie will hier ihre letzten Jahre verbringen, sie will hier sterben. Und sie ist nicht allein: Die Gavrilovs sind da, der alte Petrov, die dicke Marja. Ein paar andere Alte haben sich wieder niedergelassen in Tschernowo, sie alle sind eine kleine Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig die meiste Zeit in Ruhe lässt, aber zusammenhält, wenn es drauf ankommt. Dass die Öffentlichkeit sie für verrückt hält, ist Baba Dunja und ihren Nachbarn egal:

„Meine Arbeit hat mich gelehrt, dass Menschen immer und ausschließlich das tun, was sie wollen. Sie fragen nach Ratschlägen, aber eigentlich brauchen sie fremde Meinungen nicht. Aus jedem Satz filtern sie nur das heraus, was ihnen gefällt. Den Rest ignorieren sie.“

Baba Dunjas Kinder sind weit fort, ihr Sohn lebt am anderen Ende der Welt, ihre Tochter in Deutschland. Manchmal bekommt Baba Dunja ein Paket mit praktischen Dingen, manchmal einen Brief. Doch dann erhält sie zum ersten Mal einen Brief von Laura, ihrer Enkelin, und das macht Baba Dunja Sorgen: Was steht drin? Warum hat Laura ihr geschrieben? Sie hat keine Möglichkeit, die Worte zu entschlüsseln, versteht sie doch weder Deutsch noch Englisch. Klar ist nur: Etwas ist passiert. Und obwohl Baba Dunja nur ihre Ruhe möchte, weitab der Zivilisation, im giftigen Herzen des nuklearen Katastrophengebiets, wird ihr genau diese Ruhe nicht gewährt …

Alina Bronsky ist ziemlich großartig, das wusste ich schon nach Scherbenpark vor vielen Jahren – mit Baba Dunjas große Liebe ist es mir wieder eingefallen. Es ist gut möglich, dass ich nun auch die Bücher lesen werde, die sie dazwischen geschrieben hat, und ihr wisst, ein größeres Kompliment kann ich kaum aussprechen. Alina Bronsky hat die seltene Gabe, gewitzt, schlau und ohne großes Drama über Themen zu schreiben, die eigentlich großes Drama bedeuten. Ihre Idee, eine Geschichte rund um eine alte Tschernobyl-Heimkehrerin zu erfinden, ist schlichtweg genial. Sie hat eine Protagonistin erschaffen, die lebensklug ist und erfinderisch, einfallsreich und entspannt, eine gute Beobachterin, jemand, der schon viel gesehen und erlebt hat, den nichts mehr erschüttern kann. Das würde man denken, denn dann – und das macht den kurzen Roman durchaus spannend – geschehen sehr wohl Dinge, die Baba Dunja erschüttern. Sie ist eine von den Heldinnen, die gar keine Heldinnen sein wollen, und denen gerade deshalb das Herz des Lesers zufliegt. Sie ist kein weicher, manipulierbarer Mensch, im Gegenteil, mit ihr sollte man es sich nicht verscherzen. Das alles macht sie einerseits sympathisch und interessant, zugleich auch sehr authentisch: Baba Dunja ist die Oma, die dich liebevoll mit Kuchen füttert, dir aber auch spöttisch in den Speck zwickt.

Dieses Buch ist eine Geschichte über Außenseiterdasein und das Glück derer, die sich nicht mehr den Zwängen der Gesellschaft unterwerfen müssen.

„Was ich an Tschernowo niemals gegen fließend Wasser und eine Telefonleitung eintauschen würde, ist die Sache mit der Zeit. Bei uns gibt es keine Zeit. Es gibt keine Fristen und keine Termine. Im Grunde sind unsere täglichen Abläufe eine Art Spiel. Wir stellen nach, was Menschen normalerweise tun. Von uns erwartet niemand etwas.“

Es ist auch ein Buch über das Altern und Loslassen, über Mut, Zusammenhalt und die Bindungen innerhalb einer Familie. Über Tote, die nicht gehen wollen, die Dummheit der Menschen und über Lügen, die Folgen haben. Wer es noch nicht kennt: Unbedingt lesen!

Baba Dunjas letzte Liebe von Alina Bronsky ist als Taschenbuch erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-05028-8, 160 Seiten, 8 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Swift„Es ging darum, dem, was das Leben ausmachte, treu zu sein, zu versuchen, genau das einzufangen, was Lebendigsein bedeutete“
Sie ist jung, sie ist hübsch, und sie ist eine Bedienstete: Jane hat ein Verhältnis mit Paul. Er ist reich, sie ist es nicht, er muss bald des Standes wegen heiraten, sie wird allein zurückbleiben. Schon seit Jahren hegen die beiden eine heimliche Zuneigung zueinander, treffen sich zu Stelldicheins, wann immer es möglich ist. An diesem einen Tag, das wissen beide, ohne dass es ausgesprochen wurde, wird es das letzte Mal sein, dass sie miteinander im Bett liegen. Und Jane genießt dieses letzte Mal, denn sie darf, weil die Herrschaften nicht da sind, das Haus durch die Vordertür betreten, ihren Geliebten in seinem Gemach besuchen, mit ihm schlafen, mit ihm reden, ungezwungen und frei von all der gewohnten Heimlichtuerei. Sie beobachtet ihn, versucht, sich die Details zu merken, die sie bald schon vermissen wird, seinen Bauchnabel, die Art, wie er raucht, wie er spricht. Sie ist eifersüchtig auf seine Verlobte, natürlich, aber es ist keine rasende, sondern eine resignierte Eifersucht, denn Jane weiß, dass für sie keine Möglichkeit besteht, so weit oberhalb ihres Standes zu heiraten. Später, sehr viel später, wird sie auf diesen einen Tag zurückschauen, wird sich erinnern, wie es war, als ihr Leben sich völlig verändert hat – allerdings auf andere Weise als gedacht.

Graham Swift ist eine bekannte Größe der britischen Literatur. Er hat bereits den Man Booker Prize abgestaubt, wird in siebzehn Sprachen übersetzt und liefert internationale Bestseller. Dieser Roman, Mothering Sunday im Original, ist wunderbar unaufgeregt und feinsinnig. Graham Swift erzählt darin so klug, zurückhaltend und doch emotional, dass wieder einmal bewiesen ist: Gute Schriftsteller brauchen nicht viele Worte. Sie brauchen nur die richtigen. Mit viel Einfühlungsvermögen hat er sich hineinversetzt in seine junge Jane, die vor dem ersten großen Verlust ihres Lebens steht, sie ist traurig, ja, aber auch voller Lebensmut und Lebensfreude, sie lässt ihren Geliebten nicht gern gehen, dennoch ist ihr Herz, so scheint es, leicht. Sie weiß: Es muss sein. Sie weiß: Es ist jetzt Zeit. Nur wenige Stunden beschreibt der Roman, einen einzigen Tag, und doch entfaltet sich sehr viel darin: das Standesdenken einer vergangenen Zeit, eine heimliche Liebschaft, die Zuversicht der Jugend, noch viele Jahre zur Verfügung zu haben. Graham Swift stellt diese junge Jane außerdem der gealterten, lebenserfahreneren Frau gegenüber, zu der sie später wird, und das verleiht den Ereignissen, von denen er berichtet, zusätzliche Tiefe. Der schmale Band mit gerade mal 140 luftig gesetzen Seiten ist schnell gelesen, doch das macht nichts, die Geschichte ist stimmig, rund, in sich geschlossen. Kein aufregendes Leseereignis, aber ein sehr empfehlenswertes, das gerade durch seine stille Schönheit und schlichte Eleganz beeindruckt.

„Und was muss man noch haben, wenn man Schriftstellerin werden will?“
„Na, man muss verstehen, dass Wörter nichts als Wörter sind. Einfach Luft …“

Ein Festtag von Graham Swift ist erschienen im dtv Verlag (ISBN 978-3-423-28110-2, 142 Seiten, 18 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

KureishiDie Schönheit von Mut

Ich meine, dass wir beide allein sind. Wir sind schon viel zu lange uns selbst überlassen. Seit Jahren. Ich bin einsam. Ich dachte, du vielleicht auch. Deshalb wollte ich fragen, ob du zu mir kommen und bei mir übernachten würdest. Und mit mir reden.

Das sagt Addie, eine Witwe im Alter von 70 Jahren, zu ihrem Nachbarn Louis, der ebenfalls alleinstehend ist. Eines Tages klingelt sie an seiner Tür, sie kennen sich nur vom Sehen, sind seit Jahrzehnten aneinander vorbeigelaufen, und sie macht ihm diesen ungewöhnlichen Vorschlag, der ihn verblüfft. Aber er geht darauf ein, und während es anfangs merkwürdig ist, weil sie einander fremd sind, sind beide froh über die Gesellschaft. Sie freunden sich an, schlafen in Addies Bett, unterhalten sich, erzählen einander aus ihrem Leben. Alles könnte richtig gut sein, wären da nicht noch die anderen Menschen.

Kent Haruf, der 2014 leider verstorben ist, hat fünf Romane geschrieben, die in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado spielen. So auch dieser, sein letzter Roman. Diese erfundene Stadt ist das perfekte Abziehbild, die ideale Kulisse für kleinkarierte amerikanische Spießbürgerlichkeit. Genau die wird den beiden Protagonisten Addie und Louis zum Verhängnis. Was sie tun, schadet niemandem, ganz im Gegenteil, und es ist außerdem ihre Privatsache. Sie leben auf, verbringen ihre letzte Zeit miteinander, um der Einsamkeit zu entkommen, sie helfen einander, sind füreinander da. Doch Nachbarn und Familie denken, sie müssten sich einmischen, müssten den beiden ihre eigenen, beengten Moralvorstellungen aufdrängen und sie verurteilen. Das ist ebenso glaubwürdig wie traurig.

Unsere Seelen bei Nacht ist ein schmaler Band, eine kleine Geschichte. Alles daran ist fiktiv, und doch habe ich bei jeder Zeile das Gefühl, sie könnte wahr sein. Kent Haruf schreibt sehr schlicht, schnörkellos, klar. Er zeichnet mit wenigen Linien ein Bild, das dennoch deutlich erkennbar wird, und ich mag so etwas sehr. Ich leide mit. Ich schließe Addie und Louis ins Herz, es geht nicht anders, sie sind alt und rührend, ich finde sie mutig, stark, unangepasst und wunderbar. Wie die anderen Menschen mit ihnen umgehen, zeigt einmal mehr, wenn auch nur im Fiktiven, wie unfähig wir sind. Unsere Gesellschaft kann niemanden leben lassen, wie er will. Nicht einmal zwei Alte, die sonst nichts mehr haben auf der Welt. Ein sehr nachdenklich stimmendes Buch mit einer originellen Story. Lesenswert!

Unsere Seelen bei Nacht von Kent Haruf ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-60785-7, 208 Seiten, 16,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne


Beijnum„Sie denken, dass wir dumm sind, Vater. Und wahrscheinlich haben sie recht“

Die Welt, in der sich der niederländische Richter Rem Brink befindet, ist tatsächlich zerbrochen. Wir schreiben das Jahr 1946, und er wird in das vom Krieg zerstörte Japan geschickt, als Teil des internationalen Tribunals, das über die japanischen Kriegsverbrecher urteilen soll. Obwohl er in den Niederlanden eine Frau und drei Kinder hat und weiß, dass er wohl jahrelang nicht nachhause kommen wird, ergreift Brink diese einmalige berufliche Chance. In Japan merkt er schnell, wie unglaublich fremd die Kultur und die Menschen ihm sind. Und dass es sehr schwer ist, allein zu sein: Als er die hübsche Sängerin Michiko kennenlernt, trifft er sich so oft wie möglich mit ihr – weil er ihre Gesellschaft und ihre Nähe genießt. Das Problem ist nur: Er zerstört dadurch ihr Leben.

Im Zuge der Frankfurter Buchmesse mit dem Gastland Niederlande bin ich auf dieses Buch aufmerksam geworden. Kees van Beijnum hat bereits elf erfolgreiche Romane veröffentlicht, von denen einige verfilmt wurden, hat zahlreiche Preise eingeheimst und gehört zu den bekanntesten Autoren seiner Heimat. Mit Die Zerbrechlichkeit der Welt hat er dort 2014 einen literarischen Skandal ausgelöst, in dem es um die Verwendung von Material ging, das dem Autor angeblich für ein Drehbuch anvertraut worden war – und zwar vom Sohn jenes Richters, auf dem die Figur des Rem Brink beruht. Unklar ist, was Fiktion ist und wo Kees van Beijnum sich tatsächlich an den Tagebüchern bedient hat. Der Richterssohn hat ebenfalls 2014 eine Biografie über seinen Vater veröffentlicht.

Der Roman an sich spielt nicht in den Niederlanden, sondern in Japan. Dem Japan nach dem Krieg, ruiniert, am Boden, mit Menschen, die traumatisiert sind, Verluste erlitten haben und gegen das Verhungern kämpfen. Zu ihnen gehören die Sängerin Michiko, der nichts auf dieser Welt geblieben ist, und der Soldat Hideki, die dritte Figur im Roman, der im Krieg verwundet wurde und nun ohne Zukunftsperspektiven in seinem Elternhaus in einem kleinen Dorf in den Bergen sitzt. Dorthin flieht auch Michiko, nachdem Richter Brink sie in jene Situation gebracht hat, in die solche Männer Frauen immer bringen.

Ich mag das Ruhige an diesem Roman, das Bedächtige und Überlegte. Kees van Beijnum erzählt langsam – wirklich sehr langsam. Das ist stellenweise ermüdend, und das Buch zieht sich über einen recht langen Zeitraum. Immer wieder denke ich, nun müsste es zu Ende sein, nun ist die Geschichte auserzählt, und doch ist das nicht der Fall. Inhaltlich verliert sich alles ein wenig, wird immer nichtssagender. Das hat folgenden Grund: Richter Brink hat sich in eine Ecke manövriert, ist festgefahren, kann nicht vor und nicht zurück. Er hat sich selbst schachmatt gesetzt, und das hat Auswirkungen auf die Geschichte: Wir stecken alle fest. Er ist der Moralapostel, der über andere urteilt, und doch ist es mit seiner eigenen Moral nicht weit her. So können wir nur darauf warten, dass Brinks Zeit in Japan zu Ende ist – und erleichtert aufatmen. Die Zerbrechlichkeit der Welt ist ein sehr gut recherchiertes (vermutlich wegen des oben erwähnten Materials), nüchternes und bis in seine Grundfesten doppelmoralisches Buch, das sich mit verschiedenen menschlichen Dilemmata befasst. Es ist intelligent, lesenswert und wahnsinnig deprimierend.

Die Zerbrechlichkeit der Welt von Kees van Beijnum ist erschienen bei C. Bertelsmann (ISBN 978-3-570-10281-7, 480 Seiten, 22,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Angerer„Die Sehnsucht nach Licht“
Eine Facebook-Freundschaftsanfrage an Weihnachten – das wäre eigentlich nichts Besonderes. Doch das Profilbild, das Valerie da sieht, ist nicht von irgendwem. Sondern von Bojan. Er ist der Vater ihrer Tochter. Er war ihre erste große Liebe. 30 Jahre lang hat sie ihn nicht gesehen. Und das hat einen Grund: Die Beziehung war keine gute. Sie hat ihre Spuren hinterlassen, sie hat vermutlich, das könnte man so sagen, Valeries Leben zerstört. Denn als sie Bojan traf, war sie jung und naiv, lieb, hübsch, sie wollte noch so viel. Plötzlich war sie verrückt nach diesem vermeintlichen Künstler, der dubiosen Geschäften nachging, an jeder Hand mindestens ein Mädchen hatte, Valerie abfällig „Madame“ nannte und sich nicht besonders um sie bemühte. Sie wollte ihm gefallen. Sie wollte, dass er sie liebte. Um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, tat sie viel – und ließ sich viel gefallen. Denn der manipulative Bojan war nicht nur abschätzig, untreu und kriminell, sondern auch gewalttätig.

Ich hab dieses Buch in zwei Stunden inhaliert. Der Roman von Ela Angerer, die sich als Autorin, Theaterschreiberin und Kolumnistin einen Namen gemacht hat, ist scharf und intensiv. Er schmeckt nach einer leeren Wohnung, nach Wein und Blut. Sie erzählt darin die Geschichte einer Frau, die in jungen Jahren blind ins Verderben gelaufen ist, von Abhängigkeit und der seltsamen Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu belügen, die Augen zu verschließen vor der Wahrheit – selbst wenn diese einem direkt ins Gesicht schlägt. Im Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird klar, welch weitreichende Folgen die Begegnung mit Bojan für Valerie hatte und wie anders ihr Leben ohne ihn mit Sicherheit verlaufen wäre. Denn an dem Weihnachtsabend, an dem sie seine Freundschaftsanfrage erhält, ist Valerie ganz allein.

Wie blind sind wir, wenn wir lieben? Wie weit gehen wir, um zurückgeliebt zu werden? Und wann kommt der Moment, in dem der Wille, zu überleben, doch stärker ist als alles andere? Das sind die Fragen, auf die Und die Nacht prahlt mit Kometen Antworten gibt, fiktive Antworten aus dem Pool der Möglichkeiten, die das Leben bietet. Und beachtet bitte kurz das grandiose Cover, das mir wahnsinnig gut gefällt, weil es nicht nur ästhetisch schön ist, sondern zugleich, durch diese nicht vorhandene Schattenfigur, einen raffinierten Hinweis auf den Inhalt des Romans enthält. Sehr klar und geradlinig ist zudem Ela Angerers Sprache, angenehm zu lesen, einfühlsam und klug. Absolute Empfehlung!

Und die Nacht prahlt mit Kometen von Ela Angerer ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03647-8, 191 Seiten, 19,95 Euro). Und hier könnt ihr der Autorin beim Lesen zuschauen und zuhören.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Balzano„Sie sind spurlos verschwunden, denn die Mühe der armen Leute hinterlässt niemals Spuren“
Ninetto ist arm, sie nennen ihn Pelleossa, Haut und Knochen, so dünn ist er. In seinem Heimatdorf gibt es kaum was zu beißen, und als Ninettos Mutter einen Schlaganfall erleidet, schickt der Vater den Neunjährigen von Sizilien nach Mailand.

„Mailand ist eine Stadt voller Lichter, da ziehen Leute aus ganz Italien hin.“

Ninetto schlägt sich durch, er ist ein kleiner Überlebenskünstler, und meistens ist er allein.

„Ninè, es gibt keine Freunde. Es gibt nur Leute, mit denen man sich die Zeit vertreibt, wenn man nichts zu tun hat und nicht an seine Scheißsorgen denken will.“

Das hat ihm der Vater gesagt, und obwohl Ninetto ab und an bei Erwachsenen Unterschlupf findet – Freunde hat er wirklich keine. Dann verliebt er sich in Maddalena, und als sie fünfzehn sind, heiraten sie.

„Doch schon nach kurzer Zeit haben wir nicht mehr an unsere Träume gedacht. Wir haben vergessen, dass es sie gibt.“

Und so blickt Jahrzehnte später ein alter, resignierter Ninetto zurück auf das, was geschehen ist. Auf das, was er getan hat – und was er falsch gemacht hat.

„Ja, denn wenn ich mich in meinen Geschichten verliere, bin ich nicht mehr Haut, Knochen und Muskeln. Nur noch Seele und Stimme.“

Marco Balzano hat für diesen Roman mit vielen Menschen gesprochen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren als Kinder unter zwölf Jahren emigriert sind. Auch seine eigenen Eltern sind Süditaliener, die ihr Glück im Norden gesucht (und offenbar gefunden) haben. Mit seinem Ich-Erzähler Ninetto gibt Marco Balzano in seinem dritten Roman diesen Kindern eine Stimme. Fasziniert war er davon, dass diese gefährliche, entbehrungsreiche Zeit für diese Menschen, die heute etwa siebzig sind, auch ein großes Abenteuer war – im Gegensatz zu den vierzig Jahren abstumpfender Fabriksarbeit, die darauf folgten.

Ich kannte Marco Balzano bereits von seinem wunderbaren Buch Damals, am Meer, das nichts anderes als grandios ist und das ihr unbedingt lesen solltet. Das Leben wartet nicht ist im Vergleich dazu nicht so lebendig, gewitzt und ausgeklügelt, es ist vielmehr ein recht eindimensionaler Erlebnisbericht, das liegt in der Natur der Sache. Für sich genommen, ohne diesen sowieso unnötigen Vergleich, ist dieser Roman die berührende Erzählung eines Zeitzeugen, gefüllt mit den klugen Aussagen derer, die wenig Bildung haben, aber viel Lebensweisheit. Ninetto schwelgt in Erinnerungen, denn im Alter bleibt ihm nichts anderes mehr. Er gehört zum alten Eisen, das keiner mehr will, und er denkt zurück an seine Anfänge. Er hatte vielleicht kein sehr gutes Leben – aber zuhause in Sizilien wäre er vermutlich verhungert. Marco Balzano ist sehr nah dran an seinem Erzähler, er blickt durch seine Augen, fühlt mit seinem Herzen, spricht mit seiner Stimme. Ein sehr besonderes und wichtiges Buch.

Das Leben wartet nicht von Marco Balzano ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-06983-9, 304 Seiten, 22 Euro). Hier findet ihr die Besprechung von novelero.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Lehane„Die Welt kann sich verändern, aber der Mensch bleibt immer gleich“
Im Boston der Prohibition ist der junge Joe in wilde Machenschaften rund um den Schmuggel von Alkohol verwickelt. Er treibt Geld ein, raubt Banken aus, geht in den geheimen Speakeasys – den Flüsterkneipen – ein und aus. Es ist eine gefährliche Zeit:

„In Charlestown rührten sich die Leute sogar mit ihren 38ern Zucker und Sahne in den Kaffee.“

So dauert es auch nicht lange, bis Joe in ernsthafte Schwierigkeiten gerät – und schuld daran ist natürlich eine Frau. Er verknallt sich in die schöne Emma Gould, und er vertraut den falschen Leuten. Doch das ist noch lange nicht das Ende der Geschichte, denn auch hier gilt: Man sieht sich immer zweimal im Leben …

In der Nacht von Dennis Lehane ist Action pur. Hinter dem – wie üblich – schlichten Cover von Diogenes wird gemordet und geraubt, geschmuggelt und geschossen. Es geht in diesem Roman, der soeben mit Ben Affleck in die deutschen Kinos kam, heiß her. Das sind Ganoven der alten Zeit, wie man sie sich vorstellt, Gangster im Nadelstreifanzug und mit Hut, Zigarre in der einen Hand, 38er in der anderen. Jeder bescheißt jeden, und so manch einer wird umgelegt, ehe er überhaupt den Mund aufmachen kann. Herrlich schwarze Gangster-Jargon-Sätze und -Dialoge vermitteln das dazugehörige Feeling, zum Beispiel:

„Nehmen Sie lieber den Zug, Gary. Sonst legen wir Sie drunter.“

Oder:

„Ein echtes Kunstwerk, die Frau. Wer in ihr einschläft, kommt dem Himmel bestimmt ziemlich nahe.“

Dennis Lehane und ich kennen uns schon lange. Als ich Anfang zwanzig war, war ich ein großer Fan seiner nervenzerfetzenden Storys. Ich habe die gesamte in den 1990ern erschienene Reihe rund um den Ermittler Kenzie Gennaro gelesen, darunter die Titel A drink before the war, Darkness, take my hand und Prayers for rain, das Dennis Lehane einen grandiosen Aufschwung brachte, weil Bill Clinton damit gesichtet wurde. Dennis Lehane hat zudem ein Händchen für filmreiche Stoffe: Mystic River wurde von Clint Eastwood verfilmt, in Shutter Island spielte Leonardo di Caprio unter der Regie von Martin Scorsese. In beiden Fällen gilt: Das Buch ist besser! (Das muss ich ja sagen.) Ich hab sie damals alle auf Englisch gelesen und bilde mir ein, dass Dennis Lehane im deutschsprachigen Raum noch nicht so bekannt war. Das haben die Filme mit Sicherheit geändert, und der Diogenes Verlag hat sich in der Zwischenzeit dieser amerikanischen Spannungsromane angenommen. Nun wollte ich also sehen, ob wir es noch können, der Dennis und ich, nach all den Jahren. Jaaa, durchaus! Zwar hat In der Nacht mit seinen fast 600 Seiten Längen, und ich gestehe, dass ich am Ende ein wenig sauer war, weil Dennis Lehane mir DAS, was ich euch nicht verraten kann, doch noch antut, aber alles in allem ist dies der perfekte Unterhaltungsroman: gewitzt und originell, fesselnd und gefühlvoll. Ein wilder Ritt im Nadelstreif.

In der Nacht von Dennis Lehane ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-06872-6, 592 Seiten, 10 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Tremain„Weil so das Leben ist. Man kann nie zurück, wenn etwas erst einmal vorbei ist“
Gustavs Kindheit ist grauenhaft. Er lebt mit seiner Mutter in den 1940er-Jahren in einer Schweizer Kleinstadt – und obwohl sie ihn nicht schlägt oder misshandelt, ist sie ihm gegenüber so lieblos, dass der kleine Gustav fast verkümmert. Verzweifelt klammert er sich an die Freundschaft zu Anton, dessen reiche Familie jüdisch ist. Anton ist alles für ihn, der Bruder, den er nicht hat, er möchte Antons Leben haben, er möchte Anton sein. Doch Gustavs Mutter ist diese Freundschaft ein Dorn im Auge, weil sie der Meinung ist, dass Gustavs Vater wegen der Juden gestorben ist. Da gibt es allerdings so einiges, was sie nicht weiß – und was auch Gustav erst viele Jahre später herausfindet.

Und damit fing es an von Rose Tremain ist ein Buch, bei dem ich nicht recht weiß, was ich davon halten soll. Wir haben ein paar Stunden miteinander verbracht, wir haben uns näher kennengelernt, doch als unsere gemeinsame Zeit vorbei ist, kann ich das Gefühl, das bleibt, nicht genau bestimmen. Vielleicht, weil es mehrere verschiedene Gefühle waren, die dieser Roman in mir ausgelöst hat. Zuallererst war da das Mitleid. Der erste Teil des Buchs, in dem Gustav ein kleiner Junge ist, ging mir richtig an die Nieren. Er hat kein Spielzeug, kein einziges Buch, er muss in der Kirche putzen und ist der Willkür seiner Mutter, die über seinen Kopf weg entscheidet, ausgeliefert, und als sie einmal für Wochen ins Krankenhaus muss, ist er auf sich gestellt und verhungert beinahe. Warum sie ihm ständig das Gefühl gibt, ungewollt zu sein, erklärt der zweite Teil, eine Rückblende, in der es um Gustavs verstorbenen Vater geht. Die Ehe war nicht so, wie Gustavs Mutter sie im Nachhinein dargestellt hat, und auch die Geschichte mit den Juden ist nur halb wahr. Hier spüre ich ein gewisses Feuer im Buch, sprühenden Ideenreichtum, den Funken der Originalität, und da ich es sehr gern mag, wenn offene Fragen beantwortet werden, fühle ich Zufriedenheit. Die kippt dann jedoch in Ärger um. Denn das Ende des Romans ist seltsam bitter, süß zugleich, allzu erwartbar und hohl wie alle Dinge im Leben, die einfach zu spät kommen: Irgendwann kann das Gute das Schlechte nicht mehr aufwiegen.

Ich kenne Rose Tremain von ihrem wunderbaren Buch Der weite Weg nachhause aus dem Jahr 2010. Daran reicht Und damit fing es an für mich nicht heran. Aber: Der kleine Gustav ist einer, den man einfach mögen muss. Mit dem man gehen, den man an der Hand nehmen und dem man helfen will. Er ist die Hauptfigur dieses Romans, er ist ein Grund, ihn zu lesen. Der andere ist Rose Tremains Sprache. Mit meisterhafter Lässigkeit geht sie damit um, nie wirkt ihr Schreiben sperrig, sie benutzt nicht zu viele Wörter und nicht zu wenig, sie fängt Gustavs Verzweiflung derart gut ein, dass sie einen aus dem Buch heraus packt und würgt. Dies ist ein facettenreicher Roman über Freundschaft, über Liebe und Untreue, über Musik, falsche Entscheidungen und die Tatsache, dass man manchmal im Leben einen Menschen trifft, von dem man nie wieder loskommt.

Und damit fing es an von Rose Tremain ist erschienen im Insel Verlag (ISBN 978-3-458-17684-8, 333 Seiten, 22 Euro). Hier könnt ihr euch den Buchtrailer anschauen, und hier findet ihr eine schöne Besprechung von Herzpotenzial.