Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Von Gotteskriegern, Asylbewerbern und kulturellen Unterschieden
Das dunkle Schiff ist ein dunkles Buch: Es handelt von Religion und Terror, von Gefahr, Einsamkeit und Unverständnis. Kerim wächst im Irak auf, nördlich von Bagdad. Seine Eltern führen ein kleines Gasthaus, von den politischen Unruhen bekommen sie wenig mit. Kerim ist ein dickes Kind, das wenig Freunde, aber ein Sprachtalent hat. Sein Weg wird ihn zu den Gotteskriegern führen, die das Land mit ihren grausamen Selbstmordattentaten in Angst und Schrecken versetzen. Doch in den irakischen Bergen nimmt Kerims Odyssee erst ihren Anfang: Als Asylbewerber kommt er nach Berlin, wo er Unterschlupf bei seinem Onkel Tarik und im deutschen Staat findet. Doch es scheint, als könne er den langen Armen des Islam auch in der Fremde nicht entkommen …

2008 landete Sherko Fatah mit Das dunkle Schiff auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, weshalb ich darauf aufmerksam wurde. Schon der Prolog fesselt mich derart, dass ich nicht aufhören kann zu lesen und in zwei Stunden fast 200 Seiten verschlinge. Hier schreibt jemand, der ein unglaubliches Talent hat und zudem etwas zu erzählen – die bestmögliche Kombination. Mit Kerim schafft Sherko Fatah einen Protagonisten, der beeinflusst wird von dem unglückseligen Ort, an dem er aufwächst, der gefangen genommen wird von den Umständen in seinem Land, dem Irak. In einer sehr bildlichen, eindringlichen Sprache erzählt der Autor vom Heranwachsen eines Jungen, der mit Religion und ihren fanatischen Auswüchsen eigentlich nur durch Zufall in Berührung kommt – und darin verloren geht. Er berichtet in einer sehr wertfreien Sicht von Terrorismus und kulturellen Unterschieden – und weicht dabei geschickt den Klischees aus, die mit diesem Thema einhergehen. Umso glaubhafter wirkt die Geschichte, da Kerim alles andere als ein guter Mensch ist. Er lässt sich zu Gewalt hinreißen und ist Opfer und Täter in einer Person.

Das Buch ist gut strukturiert und ungemein spannend. Meine persönliche Begeisterung flaut im letzten Drittel ein wenig ab, da Kerim plötzlich naiv und fremdbestimmt erscheint – vielleicht soll das aber auch nur zeigen, dass er hier nicht zu Hause ist. Von dem Zeitpunkt an, da er sich Asyl in Deutschland erschlichen hat, verläuft die Geschichte eher im Sand – der fulminante Abschluss ist nicht ganz gelungen, daher gibt es einen Punkt Abzug. Der Schluss selbst ist passend und in Ordnung, aber die Charaktere, die Kerim in Berlin trifft, und die Dinge, die er dort tut, wirken auf mich im Vergleich zu den Erlebnissen im Irak und den Berichten über seine Jugend hohl. Das ist allerdings Jammern auf hohem Niveau, denn mit Das dunkle Schiff ist Sherko Fatah ein grandioser Roman gelungen, der auf ganz besondere Weise Einblick gibt in das, was uns täglich mit Grauen erfüllt und dem wir hilflos gegenüberstehen: dem Wahnsinn der Selbstmordattentäter und ihrem Einfluss auf die ganze Welt. Auch ohne den Deutschen Buchpreis ist dieses Buch ausgezeichnet.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein lebendiger, einfühlsamer und glaubwürdiger Roman
Zu Beginn schafft William Kowalski eine Ausnahmesituation, wie eine gute Geschichte sie braucht: William Amos Mann wird als Säugling in einem Korb vor die Haustür seines Großvaters gelegt, seine Mutter hat ihn auf einem Zettel als “Eddies Bastard” bezeichnet. Eddie ist kurz davor in Vietnam gefallen. Der Großvater erkennt in dem Baby auf den ersten Blick als seinen Enkel und nimmt ihn auf in das alte, leere Haus, in dem es außer vielen Gespenstern und noch mehr Geschichten nichts mehr gibt. Die Manns waren einst eine Dynastie von einer gewissen Größe – nicht umsonst heißt der Ort Mannsville -, doch Schicksalsschläge und Fehlinvestitionen haben ihren Untergang herbeigeführt. So gut er kann, zieht der alkoholkranke Großvater Billy groß – mit reichlich Mortadella und vielen Erzählungen. “Mein Leben war von Anfang bis Ende aus Geschichten gemacht”, sagt Billy später. Aber was wäre das für eine Story ohne ein Mädchen? In diesem Fall heißt sie Annie und Billy nimmt sich vor, sie von ihrem tyrannischen Vater zu befreien …

Eddies Bastard ist ein Buch, bei dem das Lesen Spaß macht. Es lässt schmunzeln, es überrascht, es macht nachdenklich und zufrieden. William Kowalski hat seine Figuren sehr liebevoll gezeichnet – den kauzigen, aber bemühten Großvater und den verlorenen, aber mutigen Billy – und lässt sie nie ganz im Stich, auch wenn ihnen etwas Negatives widerfährt. Auf dem Klappentext wird behauptet, Kowalski werde als Nachfolger von Irving gefeiert – und auch wenn ich nicht der Meinung bin, dass es einen zweiten Irving braucht bzw. geben kann, lassen sich einige wenige Parallelen wie die Neigung zum Sex mit älteren Frauen und die absurden Elemente. Eddies Bastard ist ein Roman voller Lebensweisheit und unerklärlichen, aber logischen Ereignissen. Jedes Mal, wenn man denkt, man wüsste, was passieren wird, geschieht etwas völlig anderes. Dabei wartet der Autor durchaus mit sprachlicher Finesse auf und unterhält sogar einen anspruchsvollen Leser wie mich. Ein besonderer Pluspunkt: Im Gegensatz zu 98 % aller Bücher, in denen ein Kind nach und nach erwachsen wird, verliert Eddies Bastard auch zum Ende hin kaum etwas von seinem Zauber. Nach der Lektüre musste ich feststellen, dass ich sie richtig vermisste, Großvater und Billy.

Lieblingszitat: Vom Zusehen lernte ich, dass man betete, indem man den Kopf senkte und verlegen tat.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Großartige Kritik an der Unterhaltungsbranche
In diesem Buch ist der Originaltitel Programm, der Torture the Artist lautet: Vincent ist sieben, als die New Renaissance Academy auf ihn aufmerksam wird. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, den Mainstream mit guten Songs und Filmen zu unterwandern und die Qualität der Kunst zu verbessern. Und das soll folgendermaßen gelingen: Junge Talente werden auf der Academy zu Künstlern ausgebildet. Da die Geschichte zeigt, dass viele große Kunstwerke aufgrund des Leidensdrucks der Schaffenden entstanden, sollen die potenziellen Kreativen absichtlich gequält und manipuliert werden, damit sie sich nur in ihre Kunst flüchten können – und viel produzieren. Harlan Eiffler wird Vincent als Manager zugeteilt. Seine Aufgabe besteht vorwiegend darin, dafür zu sorgen, dass Vincent niemals glücklich sein wird.

Mit dem ideenreichen Quälgeist an seiner Seite sind für Vincent Hoffnungslosigkeit und Leid programmiert: Geschickt sorgt Harlan dafür, dass Vincent ungeliebt und einsam bleibt. Seine Methoden sind dabei ebenso effizient wie grausam. Und sie funktionieren: Vincent wird noch als Teenager zum begnadeten Songwriter und Drehbuchschreiber. Er hat keine Freunde, keine Familie, keine Liebe in seinem Leben – nur das Schreiben. Doch als Harlan und seine skrupellosen Bosse es dann zu weit treiben, zeigt sich: Ganz ohne Glück kann man dann doch nicht leben – und auch nicht kreativ sein.

Vincent ist eine bissige Kritik an der Unterhaltungsbranche, die umso härter ausfällt, da sie so viele Wahrheiten enthält. Der junge Künstler wird ausgepresst wie eine Zitrone, er wird manipuliert und verarscht – unter dem Vorwand der Kunst, die nur der Schleier ist für das viele Geld, das dahintersteht. Joey Goebel prangert die Radio- und Fernsehlandschaft durch eine originelle, realistische und extrem lesenswerte Geschichte an, vergisst aber am Ende nicht auf die Moral, die für eine gewisse Art von Gerechtigkeit sorgt. Dies ist ein herausragend gutes Buch über Manipulation und Medienkonsum, über Schicksal, Leid und Glück. Unbedingt lesen!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein grandioser Roman über Fremdheit und Einsamkeit
Eine namenlose Fremde lebt illegal in Berlin und versucht, sich Tag für Tag am Leben zu erhalten. Sie hat keinen Besitz, keine Papiere und keine Wohnung. Sie ist intelligent und gebildet, sie nimmt verschiedene Jobs an – als Pianistin, Übersetzerin oder Stripperin – und findet immer wieder Unterschlupf. Es treibt sie durch diese große, bevölkerte Stadt, in der sie stets untertauchen und verschwinden muss, sie ist eine Fremde, eine Isolierte, abgeschnitten von der Gesellschaft. Zu ihrem Glück hat sie ein paar Freunde, Außenseiter wie sie, die ihr in der größten Not helfen. Sie trifft auch zwei, drei Menschen mit dem Herz am richtigen Fleck, die sie mehr als einmal vor dem Abgrund retten.

Die Fremde ist ein fesselndes Buch über eine Frau, die am Rand des genormten Gesellschaftslebens steht. Sie entspricht nicht dem Bild, das man von illegalen Einwanderern und Obdachlosen hat, sie trinkt nicht, sie arbeitet (wenn sie darf), sie ist jung, hübsch und klug, spricht mehrere Sprachen und ist teilweise in der Schweiz aufgewachsen. Aber die Mischung aus innerer Ruhelosigkeit und äußerer Gefahr führt dazu, dass sie keinen Platz findet, an dem sie bleiben könnte. Gekonnt entwickelt Magdalena Felixa in einer sehr schönen, metaphernreichen Sprache einen faszinierenden Sog, ich konnte das Buch kaum zur Seite legen. Auf den Spuren der Protagonistin sieht man als Leser Vor- und Nachteile eines geregelten Lebens mit anderen Augen. “Die Dunkelheit gibt mir Geborgenheit, sie ist meine Verbündete, sie versteckt mich vor dem Unheil. Sie wird die Zeit eine Weile aufhalten, falls ich im nächsten Augenblick fliehen muss”, sagt die Fremde, und: “Meine Freunde sind Neger, Kanaken, Schwule, Fliehende, Fremde. So wie ich.” Sie lebt eine große Freiheit und kann tun, was sie will – doch als sie zum Beispiel an einer Lungenentzündung erkrankt, bedeutet das beinahe ihren Tod.

Inhaltlich wie stilistisch ist dieser Roman ein Highlight. Die Autorin versteht es, ein Gefühl für diese verlorene Frau zu vermitteln, die sich nicht festlegen kann und die jedes Angebot, sich lieben zu lassen, ausschlägt. “Mein Herz ist aus Eis”, sagt sie, “mein Verlangen gilt der Flucht.” Magdalena Felixa fällt kein Urteil über eine solche Lebensweise, sie schildert sie nur – in einer sehr eindrucksvollen Sprache. Einziger Wermutstropfen: Natürlich gerät die Protagonistin auf ihrem Weg durch die sumpfartigen Schichten Berlins an Leute, die ihr Böses wollen. In diesem Fall sind es Russen (eh klar), die sie jagen – das war mir dann doch zu platt. Davon abgesehen, ist Die Fremde originell, sehr gut geschrieben, rasant, spannend und unbedingt lesenswert. 

Lieblingszitat: Mein Herz trägt tausend Wunden, und sie bluten immer noch. Eines Tages wird aus ihm kaltes, klares Wasser fließen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

MaraiÜber die Freundschaft, die Liebe und das Leben
Es sind die großen Themen, mit denen sich der ungarische Schriftsteller 1942 in seinem Roman Die Glut auseinandergesetzt hat: Es geht um die Freundschaft zwischen zwei Männern, um Verlust und Verrat. Seit 41 Jahren wartet Henrik darauf, dass Konrad zurückkehrt – dieser ist am 2. Juli 1899 überstürzt nach einem gemeinsamen Abendessen aufgebrochen und aus Henriks Leben verschwunden. Seit Jahrzehnten fragt er sich nun, was geschehen ist – und welche Rolle seine Frau Krisztina dabei gespielt hat.

Ein halbes Leben vergeht, bis die ehemals besten Freunde einander wiedersehen – die Monarchie ist zerbrochen, das 200 Jahre alte Schloss von Henrik ist zerfallen, ein Krieg hat begonnen und wieder geendet. Nun endlich erhält Henrik Antworten auf seine Fragen – und berichtet uns in einem langen, aber nicht langatmigen Monolog vom Wesen der Freundschaft. Sándor Márai, der sich im Alter von 89 Jahren das Leben genommen hat, war ein meisterhafter Beobachter. Schon in Wandlungen einer Ehe hat er mich mit seinen pointierten und scharf gezeichneten Analysen der Welt begeistert.

Die Glut ist ein lebenskluges, nachdenkliches und wahres Buch, das eine klischeehafte Situation, wie es sie tausendfach gegeben hat und gibt (“Zwischen zwei Menschen, zwischen einer Frau und einem Mann, sind das Warum und das Wie sowieso immer beklagenswert gleich”), bis ins Detail durchleuchtet und als schillerndes Kaleidoskop präsentiert – voller trauriger, tiefgründiger und lesenswerter Gedanken. Es ist ein Tag, ein Ereignis, ein Gefühl, das eine ganze Zukunft beeinflusst und dazu führt, dass ein Mensch 41 Jahre lang darauf wartet, sterben zu können. Márai beschreibt diesen Seelenzustand ohne Pathos, aber mit Stil.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

ParksScharfzüngig, sarkastisch und bitter
Cleaver ist Mitte fünfzig, erfolgreicher Journalist und Vater von vier Kindern. Kurz nachdem er, der für die BBC in London arbeitet, den amerikanischen Präsidenten interviewt und somit den Höhepunkt seiner Karriere erlebt hat, bricht er auf in die Einsamkeit: in ein abgelegenes Dorf in Südtirol, das auf den Winter wartet – ohne Gepäck und ohne Begleitung. Hier kennt ihn niemand und das ist gut, denn: “a man who is going to live on a mountain hut has no use for a reputation”. Was er dort sucht, ist Cleaver selbst nicht ganz klar: Er muss sich mit dem Buch auseinandersetzen, das sein ältester Sohn geschrieben und das ihn bis ins Mark verletzt hat.

In drei Schichten erzählt Tim Parks meisterhaft die Geschichte des fettleibigen Schwerenöters Cleaver, der sich selbst in die Isolation zwingt: da ist zum einen der Journalist und sein Ruhm, in dessen Schatten die Kinder stehen, dann gibt es zum anderen das Buch des Sohnes, das zynisch und fies den Vater zerfleischt, und schließlich sind da die Einwohner des Südtiroler Dorfs, die Cleaver nicht verstehen kann und die ihn doch so neugierig machen. Dieser Teil war besonders interessant für mich, weil auch ich ein Bergkind bin – und weil Parks im englischen Original viel Deutsch einbaut.

Cleaver ist ein richtig kluges, gut durchdachtes und überraschend amüsantes Buch. Mit beißender Schärfe und originellen Kommentaren erzählt Tim Parks von einem, der nur an sich selbst denkt, der seine Frau betrügt und seine Kinder verletzt, und der dann – konfrontiert mit dem, was er getan hat – aus der Bahn fällt. Wie Cleaver im Schnee, ohne Handy und mit zu wenig Lebensmittel gegen den eigenen Hochmut kämpft, ist richtig lesenswert.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

HansenVom Anderssein und Ausgestoßenwerden
Evas Geburt beginnt unter keinem guten Vorzeichen: Und das ist bezeichnend für den weiteren Verlauf ihres Lebens. Sie wird mit langen, feinen Haaren am ganzen Körper geboren, die nicht – wie der Vater hofft – ausfallen, sie sind überall, im Gesicht, an den Händen, am Rücken, am Bauch. Ihre ersten Jahre verbringt Eva in großer Einsamkeit, nur manchmal wird sie aufgespießt von neugierigen Blicken. Das Alleinsein ist schlimm – aber als sie endlich in Kontakt mit Menschen und anderen Kindern kommt, da wird es noch viel schlimmer.

In Das Löwenmädchen erzählt Erik Fosnes Hansen eine Geschichte über eine Außenseiterin, die von der Gesellschaft keine Chance bekommt, sich zu integrieren. Wunderbare Elemente verwebt Hansen zu einem dichten Netz, in dem die kleine haarige Eva, das Löwenmädchen, gefangen ist. Sie hat viele Talente, Wünsche und Sehnsüchte, aber die Realität schiebt ihr immer wieder einen eisernen Riegel vor. Das Löwenmädchen ist ein Buch über Ausgrenzung und Hoffnungslosigkeit, Alleinsein und die groteske Faszination der Menschen an “Missgeburten”. Manche Formulierungen muss ich drei Mal lesen, so schön sind sie – zum Beispiel: “Sie legte ihre Lippen auf seine und begann, sein Lächeln aufzuessen.”

Am Anfang dauert es lange, bis ich in dieses Buch hineinfinde, mich irritieren die verwirrenden Stellen, die Fragen, die dazwischen eingeworfen werden – vermutlich von Eva selbst, die das Geschehen aus der Distanz und später zu beobachten scheint. Der Autor wechselt häufig die Perspektive, er lässt Eva in der Ich-Form erzählen und springt dann wieder in die dritte Person – das mag vielleicht einen Grund haben, den ich nicht erkennen kann, aber ich bin für solche Späße nicht zu haben. Womöglich bin ich ein unflexibler Leser, aber es gefällt mir einfach nicht. Das ist allerdings der einzige Schwachpunkt dieses ansonsten lesenswerten und soghaften Romans.  Während mich die Geschichte zu Beginn nicht so richtig fesseln kann, lässt sie mich am Ende nicht mehr los und ich muss immer wieder daran denken. Definitiv ein Roman, den man – ausnahmsweise – einmal nicht so schnell vergisst.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

DrewsEin Erdbeben zerbricht eine Stadt – und eine Familie
Wir sind in der Nähe von Istanbul und es ist 1999, als ein Erdbeben mitten in der Nacht weite Teile der Stadt völlig zerstört. Es herrscht Chaos, Menschen liegen verschüttet, andere wurden erschlagen. Von der Katastrophe unmittelbar betroffen ist auch die Familie des Kurden Sinan, der mit seiner Frau Nilüfer, Tochter Irem und Sohn Ismail aus Yesilli vor dem kurdischen Krieg geflüchtet ist. Auf einen Schlag verlieren die vier alles: Ihre Wohnung ist in einem Trümmerhaufen verschwunden, nach Sohn Ismail suchen sie vier Tage lang, ohne zu wissen, ob er überhaupt noch lebt.

Was vor dem Erdbeben schon als kleine Risse in den Familienbanden zu spüren war, entwickelt sich jetzt zu regelrechten Abgründen: Irem ist in den jungen Amerikaner Dylan verliebt, Ismail hadert mit seinem Trauma, Nilüfer erwartet von Sinan, dass er seine Familie versorgt – und Sinan selbst ist rettungslos überfordert. Schnell gerät die Familie in einen Strudel aus Gewalt, religiösem Fanatismus und Armut. Souverän führt Alan Drews, der – wie der Name schon zeigt – selbst kein Türke ist, aber einige Jahre in Istanbul gelebt hat, seine Protagonisten zum vermutlich unausweichlichen Ende der Geschichte. Dabei lässt er uns hineinschauen in das Herz der türkischen Gesellschaft, in die Dynamik von Gerüchten und ihren schrecklichen Folgen, in den Krieg zwischen Christentum und Islam und nicht zuletzt in die Sehnsucht eines Kurden nach seiner Heimat.

Die Wasser des Bosporus ist ein authentisches und trauriges Buch über die Hilflosigkeit der Menschen angesichts von großen und kleinen Katastrophen. Mir ist die Kultur, die Alan Drews auf so sensible Weise beschreibt, völlig fremd, vieles von dem, was die Türken und Kurden in diesem Buch tun, kann ich nicht nachvollziehen. Dennoch bin ich ganz gefangen in dieser Geschichte voller Vorurteil und Gefahr. Sprachlich wie inhaltlich gesehen ist dieser Roman absolut lesenswert.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Krausser Über den Wahn eines Liebenden
Alexander von Brücken hat Macht und Geld, aber nicht mehr lange zu leben. Ein Schriftsteller soll seine Erinnerungen in einen Roman verpacken – und kommt dazu auf das Brücken’sche Schloss, um sich die Lebensbeichte des reichen Unternehmers anzuhören. Von Brücken erzählt vom Krieg, von seinen Eltern, von der Firma und von der Frau, die er sein ganzes Leben lang geliebt hat: Sofie. Er lernt sie mit 14 im Luftschutzbunker kennen und verliebt sich, und Zeit ihres Lebens bleibt er bei ihr – auch wenn Sofie davon meist nicht einmal etwas bemerkt.

Ist es Liebe oder grenzenloser Wahn, was von Brücken empfindet? Er beobachtet Sofie, er ist ihr Schutzengel, er beschützt sie und hilft ihr – unerkannt. Und Sofie hat Schutz und Hilfe sehr wohl nötig: Sie studiert Politologie und gerät in den Strudel der Studentenaufstände, die der RAF vorangehen, sie trifft die falschen Freunde und die falschen Männer. Eros ist in dieser Hinsicht auch ein Abriss der deutschen Geschichte seit 1938, sozusagen in Zehnerschritten folgen wir der Frau und dem Land durch die Ereignisse bis in die graue DDR. Das ist spannend und interessant erzählt, gut geschrieben und sehr flüssig zu lesen.

Eingebettet in die Rahmenhandlung rund um den Ich-Erzähler, den namentlich nicht genannten Schriftsteller, ist der Bericht von Alexander – der Großteil des Romans ist daher sehr mündlich, was Helmut Krausser die Möglichkeit nimmt, allzu fantasievolle Metaphern zu gebrauchen. Stellenweise tut er es dennoch und schafft dadurch eine sprachlich niveauvolle Atmosphäre. Als dritte Perspektive gibt es jene von Sofie, die ganz vom auktorialen Erzähler betrachtet wird, vermutlich sind dies Ausschnitte aus dem Roman, der anhand von Alexanders Erzählung später entsteht. Dadurch ergibt sich ein rundes Bild, das beide Beteiligten zeigt, Sofie und Alexander. Ein paar wenige Schwachpunkte haben zum Verlust des fünften Punkts geführt, das Ende hat mich nicht ganz zufrieden gestellt, es war mir zu hastig und abrupt. In jedem Fall aber ist Eros ein lesenswertes Stück Literatur.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

IrvingÜber 800 Seiten feinster Irving’scher Wirrwarr
Zu Beginn muss ich festhalten, dass ich ein großer Irving-Fan bin – was erklärt, warum ich immer noch seine Bücher lese, obwohl ich es seit Jahren vermeide, mir mehr als ein Buch von einem einzigen Autor zu Gemüte zu führen (so many books, so little time!). Aber. Irving! Ich hab ihn vor 10 Jahren für mich entdeckt und bin der Meinung, dass man ihn – wenn möglich – im Original lesen sollte (vor allem, weil Until I find you NUR 839 Seiten hat, die deutsche Ausgabe aber 1152). Irving ist ein Erzähler, ein Fabulierer, der abschweift und sich abstruse Geschichten ausdenkt, die herrlich verrückt und tragikomisch sind. Nicht anders ist es bei Until I find you, in dem er von Jack Burns erzählt, der ohne Vater aufwächst, dafür aber mit einer tätowierenden Mutter und jeder Menge Frauen – was nicht unbedingt gut für ihn ist.

John Irving weiß noch, wie es ist, ein Kind zu sein – und er kann das Staunen, das Welt-Kennenlernen ganz wunderbar beschreiben. Zu Beginn der Erzählung ist Jack vier Jahre alt und gemeinsam mit seiner Mutter Alice auf der Jagd nach seinem Vater William, einem Orgelspieler und Weiberheld. Sie reisen nach Helsinki, Oslo und Amsterdam, ehe sie aufgeben und sich in Toronto niederlassen. Dort entfernt sich Jack immer mehr von seiner Mutter und gerät in die Fänge verschiedenster Frauen, die – und das ist ebenso kurios wie typisch Irving – fast alle auf seinen kleinen Penis fixiert sind. Jack wird in Amerika erwachsen – und zu einem berühmten Schauspieler. Doch weil er in einem Buch von Irving steckt, erwarten Jack noch jede Menge Überraschungen – und ein schlüssiges, schönes Ende.

Was ich an Irving so mag, ist, dass er selbst nicht zu wissen scheint, was in seinen Geschichten als Nächstes passieren wird. Sie sind nur zu einem Bruchteil vorhersehbar – und das ist für mich ebenso Vergnügen wie Erholung. Er folgt keinem logischen Schema, wie so viele andere Autoren es tun, und dennoch haben seine Bücher einen ganz eigentümlichen Rhythmus. Until I find you ist sehr stark sexuell aufgeladen und teilweise etwas wüst. Einziger Minuspunkt ist die Länge – selbst für mich sind 839 Seiten heftig, vor allem, da es doch zwei bis drei Stellen gibt, an denen sich das Lesen ein bisschen zieht. Nichtsdestotrotz ist dieses Buch amüsant, fesselnd, absurd und sehr unterhaltsam. Ein Irving eben.