Lebensliteratur
Letzte Woche bin ich 30 Jahre alt geworden. Was das mit Büchern zu tun hat? Auf den ersten Blick nichts. Und gleichzeitig alles. Weil das Lesen mein ganzes Leben prägt – und weil ein runder Geburtstag immer Anlass gibt für eine Art Zwischenbilanz. Was hab ich erreicht, gesehen, erlebt, welche Wünsche sind in Erfüllung gegangen, welche Wunden verheilt? Und: Welche Bücher haben mich verändert? Bücher haben mich zu dem gemacht, was ich bin – Lektorin und Texterin – , ich verbringe meine Freizeit mit Büchern, ich träume davon, sehne mich danach – sie sind mir wichtig. Also habe ich mich pünktlich zum Jubiläumsgeburtstag vor mein Regal gestellt, ich besitze ja nur eins, und habe die wenigen Buchrücken betrachtet, die mir wichtig genug sind, dass sie bei mir bleiben dürfen, und habe mich gefragt, welche davon die größte Wirkung auf mich gehabt haben. Die Auswahl ist mir überraschend leicht gefallen. Viele, viele, viele Bücher haben mich beeindruckt, berührt, meinen Horizont verändert. Diese hier gehören zu den wichtigsten meines Lebens:
Michael Ende: Die unendliche Geschichte
Es war sicher nicht das Buch, mit dem alles begann, weil ich schon davor gelesen habe. Aber es war das Buch, mit dem alles begann. Nie werde ich das Gefühl vergessen, als ich mit acht Jahren zum ersten Mal begriff, wie mächtig, wie unendlich die Fantasie ist. Michael Ende öffnete mir die Tür zu einem Reich, das ich niemals mehr verlassen wollte: zur Welt der Literatur. Dem Paradies, gewissermaßen.
Astrid Lindgren: Mio, mein Mio
Astrid Lindgren war genial und in meinen Augen die beste Kinderbuchautorin der Welt. Ich besitze fast nichts aus meiner Kindheit, aber Pippi und Ronja, die Brüder Löwenherz und Klingt meine Linde sind immer bei mir. Astrid Lindgrens unsterbliches Werk habe ich Zeile für Zeile verschlungen und geliebt. Mio, mein Mio ist ein unfassbar trauriges, stolzes, mutiges Buch, das mir für immer viel bedeuten wird.
Arundhati Roy: The God of small things
Arundhati Roy markiert einen Wendepunkt in meiner literarischen Persönlichkeitsfindung. Nach dem Hanni-und-Nanni-Genre, vielen Biografien, Hohlbein-Fantasy und zahlreichen Krimis habe ich mit 15 The God of small things gelesen. Und war elektrisiert. Zu Tränen gerührt. Fassungslos. Verstört. Und glücklich. Ich wusste plötzlich, dass ich die Entdeckungsreise ernsthaft angehen musste: Die “echte” Literatur wartete auf mich.
Javier Marias: Mein Herz so weiß
Den Beginn dieser Entdeckungsreise machte Javier Marias. Seine endlosen Sätze legten sich wie Schlingen um mich, und ich musste mir den Zugang zur Geschichte hart erkämpfen. Das hat sich gelohnt, und ich habe gemerkt, dass es nicht das Gefällige ist, das ich suche, sondern dass ich durchaus interessiert bin an der Herausforderung.
Peter Hoeg: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels
“Ich glaube, es war Liebe. Ist man ihr einmal begegnet, dann will man nicht mehr sinken. Dann sehnt man sich für immer nach dem Licht und der Oberfläche.” Das ist mein Lieblingszitat aus diesem Buch. Die Geschichte ist tieftraurig und ging mir an die Substanz. Ich habe mich mehr denn je in Worte verliebt, in ihre Melodie, wenn sie klingen, in die Poesie, die sie bilden können.
José Saramago: Die Stadt der Blinden
Was für ein Kaliber! Dieses Buch hat mich niedergestreckt. Und mich wachgerüttelt. Es hat mir gezeigt, dass mit Worten alles, alles möglich ist, dass wir damit erschaffen können, was nicht existiert, und beschreiben können, was wir empfinden. José Saramago hat mich innerlich umgegraben, und das war gut so.
Yann Martel: Life of Pi
Es gab eine Zeit, da habe ich mich viel mit Religion beschäftigt – ich war sieben Jahre lang Ministrantin, ehe ich mit 18 aus der katholischen Kirche ausgetreten bin. Yann Martel hat einen sensiblen Punkt in mir berührt, indem er mit diesem Buch so wunderbar zeigt, dass alle Religionen Geschichten sind – weil Menschen Geschichten brauchen, weil Gott eine gute Geschichte ist. Das hat mir viel bedeutet und es hat dazu beigetragen, mich tolerant und offen zu machen, ich konnte all das Erlebte besser loslassen.
John Irving: A prayer for Owen Meany
Als ich 17 war, hatte ich meine erste ernste Beziehung mit einem Autor: John Irving. Es fing an mit A widow for one year, und als ich A prayer for Owen Meany in die Finger bekam, war es um mich geschehen. Ich wusste, dass Literatur für mich so sein musste wie dieses Buch: wild, verrückt, unfassbar klug, ergreifend, sinnvoll. Nach vielen Jahren und vielen Büchern haben wir uns, wie es oft der Fall ist in einer Liebesbeziehung, ein wenig aus den Augen verloren und im Guten getrennt. Aber John Irving gehört für mich persönlich nach wie vor zu den genialsten Autoren überhaupt, und alle anderen müssen sich mit ihm messen.
Per Petterson: Pferde stehlen
Mit diesem Buch war die Suche nach meinem literarischen Ich sozusagen abgeschlossen. Mit dieser Lektüre wurde mir klar, dass ich angekommen war – bei dem Stil, den ich liebe, und bei mir selbst. Ich will es melancholisch und ein bisschen schwierig, ich will es tiefgründig, klug und berührend. Ich will Bücher, die mich nicht in Ruhe lassen und die Gefühle in mir auslösen.