Bücherwurmloch

„Er glaubte nicht an Liebe an den ersten Blick, und falls doch, dann wäre er dafür zu langsam“
Ingwer Feddersen, fast fünfzig, ist „Fensterputzer, promovierter Steinesammler, Gastwirt, Altenpfleger“ und nimmt ein Sabbatical, um zuhause seine alten Eltern zu pflegen, für die es bald zu Ende gehen wird. Zuhause, das ist Brinkebüll, das ist der Norden, das ist dieses Dorf, das ihn nie losgelassen hat, obwohl er in der Stadt lebt, in einer ungewöhnlichen WG-Konstellation mit Ragnhild und Claudius, zu zweit und zu dritt, eine Alterskommune, eine Dreiecksbeziehung mit Eifersucht und Liebe und ekligen Teebeuteln in der Küche.

„Seltsam kreisten die Kartoffelkinder lebenslang um ihre Dörfer, blieben auf den Umlaufbahnen, die sie hielten, nicht zu nah und nicht zu fern. Treue Mondgesichter, die an ihrer alten Erde hingen.“

Sie verstehen nicht, warum er zurückmuss, Ragnhild und Claudius, was ihn dort hinzieht, wo es doch eigentlich nichts mehr gibt für ihn. Die Mutter versinkt in der Demenz, der Vater hat blaue Flecken von ihren Misshandlungen, er war der Wirt in Brinkebüll, der Magnet für alle, die etwas zu feiern oder etwas zu vergessen hatten.

„Das Parkett im Saal war grau geworden, wundgetanzt. Ein alter Boden wie ein Dorfchronist, man hatte hundert Jahre Brinkebüll in dieses Holz gestampft, die ganzen Lebensläufe: Kinderfest und Konfirmandenfeier, Abtanzball, Verlobung, Hochzeit. Richtfest, Silberhochzeit, sechzigster Geburtstag. Goldene Hochzeit, achtzigster Geburtstag. Ein paar letzte, wackelige Tänze am Seniorennachmittag. Beerdigungskaffee.“

Und Ingwer war dieses Kind, das es nicht hätte geben sollen, das Kind, das verlorengehen sollte bei einem Sprung vom viel zu hohen Dach, das sich aber festgeklammert hat im Bauch der Mutter. Jener Mutter, von der niemand redet, die man Ingwer jahrelang als Schwester verkauft hat, obwohl alle es wussten, natürlich, das ganze Dorf: dass Ingwers Eltern nicht seine Eltern sind.

„Es gab in Brinkebüll viel Ungesagtes, manches schwebte schon jahrzehntelang durchs Dorf, von Haus zu Haus, von Hof zu Hof. Mal landete es kurz, wenn jemand ein paar Worte fallen ließ, betrunken meistens, nichts sehr treffsicher. Dann trieb es weiter, Angehauchtes und Vermutetes und Unaussprechliches und halb Vergessenes. Das Schweigen war wie eine zweite Muttersprache, man lernte es, wie man das Sprechen lernte. Schon die Kinder wussten, was man sagen durfte und was nicht.“

Dörte Hansen ist eine Meisterin der Sprache. Ruhig ist diese Sprache, einen langen Atem hat sie, und sie nimmt sich der Atmosphäre an, die da herrscht im Norden, sie nimmt sich der Menschen an, die dort leben. Sie entwickelt kauzige, liebenswerte Charaktere, die sich quälen in ihrer Stummheit, die ein bisschen ersticken an allem, was sie nicht sagen können. So einer ist auch Protagonist Ingwer, der ein gutes Leben hat, der es aber auch verpasst hat, ein noch besseres Leben daraus zu machen. Weil er sich immer zufriedengegeben hat mit dem Halben, weil er nicht aufbegehrt hat, weil er nie gesagt hat: Ich will das, und dich will ich auch. Er erkennt das jetzt, und man weiß nicht genau, ob es vielleicht zu spät ist für ihn oder ob er noch die Möglichkeit haben wird, neu anzufangen.

Ich mag Dörte Hansens Sätze. Ihren Roman Altes Land habe ich gefeiert, weil er spitz und böse, zugleich zutiefst ergreifend und melancholisch schön war. Mittagsstunde mit dem, Entschuldigung, absurd hässlichen Cover ist wesentlich nüchterner, passt dadurch aber wohl zu den Menschen, von denen es erzählt. Lakonisch ist der Stil, schlicht und trocken, dabei trotzdem durchwirkt von Gefühl, von Sehnsucht, von Wehmut. Und grandios sind die Sprachbilder, die Dörte Hansen findet für ihre Figuren, die man so schnell ins Herz schließt, obwohl man sie nicht kennt, obwohl sie nicht einmal existieren.

„Marret war verdreiht, schon vor der Klapperlatschenzeit und vor den Untergängen, sie war noch nie normal gewesen. Auch nicht verrückt, sie lag wohl irgendwo dazwischen. Ein Knäuel Mensch, verfilzt, schief aufgerollt.“

Ein genügsames, pathosfreies, sehr gutes Buch, das mich zwar nicht mit so viel Begeisterung erfüllt hat wie Altes Land, aber mich doch oft hat lächeln lassen, und das ist doch schon viel.

Mittagsstunde von Dörte Hansen ist erschienen im Penguin Verlag (ISBN 978-3-328-60003-9, 320 Seiten, 22 Euro).

 

Bücherwurmloch

„Keine Frau hat jemals eine solche mit dem Tod ringende Poesie auf die Leinwand gebracht“

„Ich habe aber immer gern behauptet, ich sei 1910 geboren. Nicht um mich aus Eitelkeit jünger zu machen, sondern weil in dem Jahr die mexikanische Revolution begann, und ich bin eine Revolution.“

Wer war Frida Kahlo? Was für ein Mensch steckt hinter ihren weltberühmten, intensiven, einzigartigen Bildern? Die Spanieren María Hesse, die ihren Künstlernamen aus Verehrung für Hermann Hesse gewählt hat, nimmt sich dieser geheimnisvollen Frau an und erzählt ihre Geschichte durch ihre eigene Interpretation von Fridas Bildern. Geradezu herausragend gelungen ist die Kombination von Illustrationen und Worten – Fridas eigenen Worten, Marías Worten – zu einer unglaublich schönen, sehr berührenden Hommage an die 1954 verstorbene Künstlerin.

„Anscheinend kennen alle Frida Kahlo“, steht in der Einleitung, und als ich das gelesen habe, dachte ich: Nein, nein, eigentlich nicht. Ich weiß nichts über Frida, ich kenne ihre Bilder, ich kenne ihr Gesicht, die signifikanten Augenbrauen, ihren Stil. Aber das ist auch schon alles. Umso neugieriger war ich darauf, mehr über diese leidenschaftliche Frau zu erfahren, die nur 47 Jahre alt geworden ist. Und dann war ich überrascht von dem Schmerz. Dass Frida Kahlos Leben derart von Schmerz geprägt war – von körperlichem wie seelischem – hatte mit Sicherheit Einfluss auf ihre Kunst. Sie wurde mit Spina bifida geboren und erlitt mit achtzehn Jahren einen derart tragischen Unfall, dass sie fast gestorben wäre. Sie wurde von einer Eisenstange durchbohrt, und obwohl sie gerettet werden konnte, war der Schmerz von da an ununterbrochen bei ihr. Später mussten ihr sogar Gliedmaßen abgenommen werden. Doch auch das Herz Frida Kahlos wurde gebrochen, mehrfach gebrochen – in erster Linie von ihrer großen Liebe Diego, dem Mann, den sie gleich zweimal heiratete. Selten war der berühmte Spruch „sie liebten und sie hassten sich“ wohl so treffend.

Derart fasziniert war ich von diesem wunderschönen, liebevoll gestalteten Buch, dass ich mir, kaum hatte ich es gelesen, auch den Film mit Salma Hayek aus dem Jahr 2007 angesehen habe. Und dabei habe ich etwas Erstaunliches festgestellt: Obwohl María Hesses Biografie schmal ist, obwohl sie wenige Zeilen enthält und ein Film ja viele Bilder bietet, intensive, zusammenhängende Bilder, obwohl Salma Hayek eine gute, überzeugende Schauspielerin ist, hat mir dieses Buch viel mehr gegeben und viel mehr bedeutet als der Film. Am besten daran finde ich, dass man Frida Kahlos Stil so deutlich erkennt, dass das wirklich ihre Bilder sind – und zugleich nicht, zugleich liegt María Hesses Filter darüber, ihre Handschrift. Hier hat eine Frau eine andere Frau geehrt – auf kreative, eigenwillige, fantasievolle und vor allem völlig unkitschige Weise. Absolut großartig!

Frida Kahlo — Eine Biografie ist erschienen bei Suhrkamp Insel (ISBN 978-3-458-36347-7, 143 Seiten, 20 Euro).

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„Aber nach der Malve benannt war ich jedenfalls. So schön diese Blume ist, so hässlich war ich“

„Das Semikolon ist vom Aussterben bedroht, da heute fast niemand mehr weiß, wo er es setzen muss, und daher ist es gegenüber den anderen Satzzeichen im Nachteil, genau wie ich als Mensch gegenüber meinen Mitmenschen benachteiligt war.“

Malva erzählt aus dem Jenseits, Malva ist lange schon tot. Sie starb als kleines Mädchen, sie war bereits bei ihrer Geburt schwer krank. Und ihrem Vater ein Dorn im Auge, ihrem berühmten Vater Pablo Neruda. Als er erkannte, dass sie einen Wasserkopf hatte, dass sie missgebildet war und nicht seinen Vorstellungen entsprach, ließ er sie fallen, von einer fremden Familie betreuen, kümmerte sich Zeit ihres sehr kurzen Lebens nicht um sie. Jetzt erzählt Malva, die allwissend ist und in jedermanns Vergangenheit schauen kann, von Pablo und seinen Liebschaften, von ihrer Geburt – und von ihren neuen Freunden:

„Jetzt, wo ich tot bin, habe ich ein paar Freunde hier, darunter Oskar Matzerath, du weißt schon, dieser witzige Zwerg mit seiner Blechtrommel aus dem Roman von Günter Grass. Außerdem: Lucia (Tochter von James Joyce und angeblich schizophren) und Daniel (Sohn von Arthur Miller, Downsyndrom).“

Das ist witzig, das ist kurios, geheimnisvoll, absurd und unterhaltsam. Auf zynische, schmerzliche Art unterhaltsam, denn dieses Buch ist eine Abrechnung und eine Anklage. Die niederländische Autorin Hagar Peetersen, die unter anderem für Lyrik bekannt ist, gibt einem Mädchen eine Stimme, das in der Geschichtsschreibung nicht vorkommt.

„Ich will mir eine Hand leihen, die ausdrücken kann, aufschreiben kann, was ich denke. Mein Vater tut es nicht. Die Hand meines Vaters hat sich mir schon längst entzogen. Ich suche eine andere Hand, eine Hand ohne Abscheu vor mir. Komm, Hagar, tust du es?“

Malva wurde unterschlagen, Malva wurde verborgen. Für Malva hat man sich geschämt, und deshalb haben die Biografien über Pablo Neruda, die von seinen revolutionären Ideen und Gedichten, von seinem Leben und seinen Lieben erzählen, über Malva kein Wort verloren. Dieser Roman ist ein Sprachrohr für ein Mädchen, über das nie gesprochen wurde. Aus dem Jenseits begehrt es dagegen auf, rückt die Tatsachen zurecht. Das ist in meinen Augen eine sehr originelle Idee – und ein ebenso originelles, fantasievolles Buch, das besonders bibliophilen, recht belesenen Menschen gefallen wird. Weil es zahlreiche Anspielungen auf literarische Figuren enthält und Parallelen zieht zu anderen Größen der Literatur, die sich schöner dargestellt haben, als sie waren. Nicht körperlich, sondern charakterlich. Malva ist die Ungewollte, die Ausgestoßene. Die Gefühle dieses Mädchens, das hier eine fiktive Figur ist und doch real existiert hat, hat Hagar Peetersen meisterhaft eingefangen. Sie hat jemanden porträtiert, der keine Beachtung gefunden hat, und es ist nur logisch, dass Malva erbost ist, aber auch voller Selbsthass. Besonders schön finde ich an diesem Roman, dass er etwas Bekanntes beleuchtet aus einer völlig neuen Perspektive. Pablo Neruda, der gefeierte Dichter, wird gezeigt als egozentrischer Mann, als treulose Seele, als liebloser Vater und somit letztlich: als Mensch.

Malva von Hagar Peeters ist erschienen im Wallstein Verlag (ISBN 978-3-8353-3341-3, 245 Seiten, 20 Euro).

 

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„Sprache ist überbewertet, ein fehlerhaftes, schmutziges Werkzeug“

Kunst ist nicht da, um den Alltag zu dekorieren, Kunst muss ein Messer sein, das du reichst, mit der Klinge voran, die Leute greifen zu, weil es so magisch funkelt, obwohl es ihnen tief ins Fleisch schneidet. Diejenigen, die nicht loslassen und dich verfluchen, haben etwas verstanden.

Das sagt Georg. Und der muss es wissen, denn er ist Künstler. Ein Künstler, der nicht mehr malt und nicht mehr ausstellt, obwohl die Galerien und die Leute sich reißen würden um seine Bilder. Stattdessen plant Georg eine Aktion, eine irrwitzige, aufsehenerregende Aktion, und dafür braucht er die Hilfe von Viktor. Der wiederum ist kein Künstler, sondern Einbrecher. Und Koch. Und frisch aus dem Gefängnis entlassen, in dem er nach einem verpfuschten Einbruch gelandet ist. Er hat eine Frau und ein Kind, und er muss jetzt sauber werden, damit er die beiden zurückgewinnen kann. Deshalb möchte er ein Restaurant eröffnen, endlich ein eigenes Restaurant, und da kommt wiederum Georg ins Spiel: Er hat Geld. So besitzen beide das, was der andere braucht, und sie schließen einen Deal, der, man ahnt es bereits, mehr Schwierigkeiten bringt als Lösungen.

Lilian Loke, preisgewürdigt und mit vielen Stipendien bedacht, hat mit Auster und Klinge ihren zweiten Roman vorgelegt, der außerordentlich gut lesbar ist. Durchzogen mit klugen Gedanken und auf einem durchaus hohen Niveau angesiedelt, wartet dieser Unterhaltungsroman mit einer originellen Story auf. Zwei Männer als Protagonisten, sehr unterschiedlich, aber beide angetrieben von dem, was sie haben, was sie erreichen wollen – und beide bereit, dafür über Grenzen zu gehen. Wo kann dieses Setting hinführen, das Lilian Loke kreiert hat? Kann es für diese beiden Kerle, von denen der eine sich exponieren und der andere sich retten will, ein gutes Ende geben? Was so leicht und locker klingt, enthält in seinem Inneren viel Reibung, viel Tiefgang: Um Kapitalismus geht es in diesem Buch, um schmutziges Geld, um das Habenwollen, auch um Gewalt und die Wege, mit denen wir sie rechtfertigen.

Am schönsten finde ich die misanthropischen, schwarzhumorigen Einschübe, die besonders aus Evelyns – Georgs Freundin – Mund kommen:

Der Mensch glaubt, er könne die Natur überwinden, erfindet Pflanzengifte, das Unkraut wird resistent, erfindet die Moral immer wieder neu und bleibt resistent. Der Mensch ist Natur, und Natur ist hässlich.

Diese Liebe zwischen Georg und Evelyn, die seit Kindheitstagen besteht, ist ein zart gesetzter, sehr schöner Lichtblick im Buch:

Über die Jahre haben sie sich gegenseitig wieder und wieder ein Stück Herz herausgeschnitten und ins eigene eingesetzt, Herzen, zusammengeflickt wie Frankensteins Monster, manchmal schlagen sie im Takt, mal nicht.

Kunstsatire oder Gangsterkomödie: Auster und Klinge ist definitiv beides. Man kann dieses Buch mit der Absicht lesen, sich unterhalten zu lassen, und wird dennoch Gedanken begegnen, die einen aufwühlen. Die bestmögliche Kombination also. Eine Zufallsbegegnung wird Ausgangspunkt für vielschichtige Veränderungen im Leben der beiden Protagonisten, und dieser Roman hat richtig Drive, eine ganz eigene Dynamik, er steht niemals still. Das ist rasant, witzig, gut gelungen und auf jeden Fall lesenswert.

Auster und Klinge von Lilian Loke ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-70059-0, 313 Seiten, 19,95 Euro).

Bücherwurmloch

„Aber die Dunkelheit gibt dir alle Möglichkeiten“

Es gibt einen Punkt, so denkt er sich, an dem es gar keine andere Möglichkeit gibt, als die Menschen zu verlassen, mit denen man eine gemeinsame Geschichte hat, weil diese gemeinsame Geschichte zu einem Albtraum geworden ist und nur zurückgelassen werden kann, wenn man auch die Menschen, die etwas damit zu tun haben, zurücklässt.

Was hat der Soldat zurückgelassen, er, der nachts auf diesem Wachturm steht, er, der nicht einschlafen darf, weil es da angeblich eine Bedrohung gibt, die jedoch, wenn wir ehrlich sind, keine Gefahr im eigentlichen Sinn ist. Nur Menschen sind das auf der Flucht, Menschen, die kein Zuhause mehr haben – und die aber nicht ins Land gelassen werden sollen.

Zudem haben sie einen klaren Auftrag, einen sehr klaren Auftrag: die Grenzen, das Land, die Gemeinschaft, die Werte, all das muss geschützt werden, geschützt nicht nur mit der Waffe in der Hand, sondern auch mit der Waffe im Anschlag, mit dem Finger am Abzug, der sich seit einigen Wochen ganz offiziell krümmen darf, wenn es die Gemeinschaft, die Sicherheit verlangt.

Der Soldat selbst ist sich nicht ganz sicher, was richtig ist. Freilich führt er die Befehle aus, die er erhält, aber er denkt auch darüber nach, dass da vielleicht ein Vater mit einem Kind vor dem Haus steht, jemand, der im Leben einfach mal Bäcker war oder Mechaniker, er fragt sich, wie es ihm ergehen würde da draußen, müsste er plötzlich fliehen.

Wenn irgendwo Menschen ankommen, stellen die einen Teller auf die Tische und die anderen marschieren mit Transparenten.

So eine Nacht kann lang sein, wenn man wachbleiben muss, und in der Dunkelheit hat man keinen Schutz, schon gar nicht vor den Erinnerungen. Und so wird unser Soldat, der keinen Namen hat in diesem Buch, bestürmt von ihnen, den eigenen und jenen seiner Großmutter, die sie aufgeschrieben hat für ihn, in einem Heft.

„Nicht jeder hat das Glück, dass ihm die Heimat bleibt“, steht darin, und so ist es eigentlich bittere Ironie, dass die Geschichte sich wiederholt, dass der Soldat, Nachfahre einer Vertriebenen, nun selbst Menschen vertreiben soll. Aber das ist nicht das Einzige, was ihn an seine inneren Grenzen bringt in dieser Nacht, denn ihm selbst ist die Zukunft gestorben, das Glück ist ihm davongelaufen, erfüllt ist er von einem großen Verlust und einer ebenso großen Traurigkeit.

2016 hat Gerhard Jäger mich mit seinem Roman Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod rausgerissen, das kann man nur so sagen. Ich bin ein riesiger Fan von Buch und Autor – und hab mich deshalb umso mehr gefreut, als Gerhard mich im Oktober kontaktiert hat, um mir zu berichten, dass er ein dunkelgrünes Buch gelesen hat. Ich war im Zug, unterwegs zu einer Lesung in Graz, und im Gepäck hatte ich, wie der Zufall es wollte, seinen neuen Roman. Zu dem Zeitpunkt standen wir beide auf der Longlist für den Österreichischen Buchpreis. Einer von uns kam weiter auf die Shortlist – nämlich er – und ein anderer – nämlich ich – las daraufhin dieses nominierte Buch, All die Nacht über uns. Ich saß in Graz beim Frühstück im Hotel und fing unvermittelt und beobachtet von verwunderten Gästen an zu weinen. Das ist es, was dieser Roman mit mir gemacht hat: Ich habe mitgelitten. Du gehst aber nicht gerade zimperlich mit deinem Soldaten um, habe ich Gerhard geschrieben, im Wortlaut: „Dem hast du aber ordentlich zugesetzt, deinem Soldaten, den hast du ja komplett zerlegt.“ Und er hat geantwortet: „Ist das nicht das Schicksal eines Schriftstellers? Man erfindet eine Person und tut ihr all das an, was man selber nie erleben möchte …“ Und ja, vielleicht ist das so, aber eins kann ich euch sagen: Lesen möchte man das, und ihr solltet es auch unbedingt tun. Weil das Buch klug und intensiv ist, voll mit den großen Fragen, voll mit den großen Gefühlen. Und mit wirklich klingenden Sätzen, denn die hatte er einfach drauf, der liebe Gerhard. Beweise dafür hab ich zur Genüge:

Die Zukunft ist scheu, man muss leise sein, um sie nicht zu verscheuchen, leise, sehr leise.

Es gibt Worte, die uns manchmal anfallen, unser Denken in Haft nehmen und nicht mehr freigeben. Man kann diese Worte nicht rechtzeitig erkennen, sie mischen sich in eine lange Reihe von anderen Worten, unauffällig. Ihre Bedeutung wird erst klar, wenn man sie gelesen hat, und dann ist es zu spät, dann wird man sie nicht mehr los.

Er kann sich sogar erinnern, ihr einmal von so einem Bild erzählt zu haben, dass es ihm manchmal vorkomme, als ob jeder Mensch auf einem Turm lebe und es keine Chance gäbe, wirklich nahe an einen anderen Menschen zu kommen.

Das waren diese Augenblicke, in denen sie es schaffte, ihn zu überzeugen, dass es so etwas tatsächlich geben konnte, so etwas wie Miteinander, ein wirkliches Miteinander, so etwas wie Ineinander, so etwas wie Verstehen ohne Worte, Sprechen ohne Sätze, eine Situation, in der das Wir wirklicher war als das Du und das Ich.

Wie sinnlos ist ein Gewehr, das nur Menschen töten kann, wo die Ziele doch ganz andere sein müssten: Gerüchte, Hass, flüsternde Stimmen, die alles vergiften, das wären lohnenswerte Ziele.

Viele Mails sind geflogen zwischen Gerhard und mir, er hat von seinem neuen Manuskript erzählt und wir hatten vereinbart, demnächst einen Tausch zu machen, seinen Roman gegen meinen. Er war lustig und selbstironisch, sehr wortgewandt und ungemein sympathisch. Als ich erfahren habe, dass er diese Woche überraschend gestorben ist, hat mich das tief getroffen. Ich hab ihn nur ein bisschen gekannt und nicht einmal persönlich, aber dieser kleine Einblick hat ausgereicht, um mit Überzeugung sagen zu können: Er war ein wunderbarer Mensch, und dieser Verlust ist ein großer. Nicht zuletzt für die Literatur, der seine einzigartige Stimme fehlen wird, sondern vor allem für seine Familie. Von ganzem Herzen mein Beileid. Vielen Dank, Gerhard, dass du mich teilhaben hast lassen, dass du mich zum Lachen gebracht und mir Mut gemacht hast. Ich wollte noch so viel mit dir besprechen, noch so viel von dir lesen.

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„Die Literatur ist einfach nichts Handfestes. Du kannst dich nicht auf sie verlassen“
Im schwäbischen Rillingsbach gibt es kaum etwas, und bald gibt es vielleicht auch den Schippen nicht mehr, das einzige Gasthaus. Aber noch schenkt Martha aus, noch sitzen hier jeden Abend dieselben Gestalten, noch werden ihre Geschichten erzählt. Deshalb bekommt er etwas zu hören, der Chronist, der nach Rillingsbach reist und Fragen stellt. Wobei, so viel muss er nicht fragen, denn das Erzählen fließt ohnehin aus ihnen heraus, aus Hilde und Alfred und Frieder, weil da so viel ist, das sie schon oft gesagt haben, und so viel, das sie noch nie gesagt haben, weil es ein wenig Glanz in ihr Leben bringt, dass jemand plötzlich etwas wissen will. Da landet alles auf dem Bartresen, was sie wieder und wieder durchgekaut haben in all den Jahren, da wird jedoch auf einmal auch serviert, was sie stets verschwiegen haben.

Es gibt viele Metaphern für das Leben. Einen Boxring, eine Achterbahn, ein Spiel – einig ist man sich, dass das Leben nicht immer gleich verläuft, und manchmal ist eine Spanne von zehn Jahren so schnell erzählt wie ein einziger Nachmittag.

Kai Wieland geht erstaunlich sanft mit seinen Figuren um. Er gruppiert sie dort im Schippen, er widmet ihnen Zeit, er hört ihnen zu. Nie stößt er sie zu fest, er stupst sie höchstens, es ist auch kaum notwendig, so bereitwillig machen sie ihre Münder auf. „Du bist so nett zu deinen Figuren“, hab ich ihm geschrieben, da hatte ich den Roman gerade erst begonnen, „als würdest du sie mögen.“ „Das tu ich auch“, war seine Antwort, und das merkt man. Das gibt dem Roman eine eigene Ruhe, eine Gesetztheit, und das ist erstaunlich, denn dramafrei ist er nicht. Er kommt so beschaulich daher und berichtet dann doch von einem Mord, von Verlassenwerden und Missbrauch, von Wünschen, die sich nie erfüllt haben, von Resignation und Kummer.

Man kann sein Leben jederzeit ändern, wenn man zu einem Kurswechsel wirklich bereit ist und keine Angst hat. Oder, besser noch: Wenn man getrieben ist von der Angst, alles könne für immer bleiben, wie es ist.

Kai Wieland hat beim Blogbuster 2017 für Aufsehen gesorgt – und darüber den wohlverdienten Buchvertrag generiert. Sehr gespannt war ich auf dieses Debüt, von dem ich viel Gutes im Vorfeld gehört hatte, zumal Kai dieselbe beste Agentin der Welt hat wie ich. Und, was soll ich sagen, diese Agentin hat nun mal ein gutes Händchen für Talente, auch Denis Scheck war von Amerika begeistert. Es ist ein Buch, das sich Zeit lässt, das verlangt, dass man sich anpasst als Leser, dass man sich in den Schippen setzt und alles andere vergisst, das einen sonst stresst und die Aufmerksamkeit besetzt.

„Ein Buch ist wie ein Mensch. Wenn du es immer fleißig fütterst, setzt es den Speck irgendwann von ganz alleine an. Jeder, der es wirklich möchte, kann ein Buch schreiben“, lässt Kai Wieland eine seiner Figuren, die er so mag, sagen, und nun ja – Speck hat sein eigenes Buch gar nicht so viel angesetzt, und ich bin mir außerdem sicher: Nicht jeder hätte es schreiben können, sondern nur er.

Geschichten wie diese tragen ein systematisches Risiko in sich, nämlich peinlich zu werden, wenn man sie den falschen Leuten erzählt.

Das ist zum Glück nicht geschehen, denn Kai Wieland hat diese Geschichte den richtigen Leuten erzählt – und auf die richtige Weise.

Lieblingszitat:

Wissen Sie, Gottlob, das Wichtigste ist, nicht auf Teufel komm raus etwas Tiefsinniges schreiben zu wollen. Man kann die Welt ja doch nicht neu erfinden, man kann sie nur neu ordnen. Alles wurde schon einmal gedacht. Stattdessen lasse ich die Worte einfach fließen, und der Rest ergibt sich von allein. Nur ganz selten, wenn ich ausnahmsweise einmal nicht auf der Hut bin, rutscht selbst mir ein tiefsinniger Gedanke heraus.

Amerika von Kai Wieland ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3-608-96261-1, 240 Seiten, 20 Euro).

Bücherwurmloch

„Das Leben ist der allergrößte Lehrmeister und es wird ihnen früher oder später schon die passende Lektion erteilen“
Rita ist verliebt in ihre Nachbarin Ulla. Die wiederum lässt sich von ihrem Ehemann verprügeln, während ihre halbwüchsigen Töchter dabei zusehen. Die Männer gefallen sich in ihren Rollen als Versorger, wir schreiben die Achtzigerjahre, die Frauen bleiben brav zuhause. Um den Nachwuchs zu hüten, der gelangweilt ist von der schnurgeraden Kleinstadtsiedlung, in der sie alle leben: Rita und Ulla, Cotsch und Lexchen, Klara und Johannes. Sie könnten glücklich sein, sind sie aber nicht, keiner von ihnen. Die Gründe sind unterschiedlich, die Konsequenzen gleich: Sie beneiden einander, glauben, bei den Nachbarn sei alles besser, sehen nicht, dass die genauso im eigenen Alltagsmief ersticken. Und tun merkwürdige, eventuell gefährliche Dinge, um vielleicht doch auszubrechen, um vielleicht doch etwas zu ändern – und endlich etwas zu fühlen.

Überspitzt ist Alexa Hennig von Langes neuer Roman, sehr überspitzt. Jeden einzelnen ihrer Charaktere, ihrer wechselnden Ich-Erzähler hat sie derart überzeichnet, dass es ironisch wirkte, wäre es nicht so bitterernst: Da geht es um häusliche Gewalt und Neid unter Nachbarn, um das Vernachlässigen der Kinder und die Blindheit gegenüber ihren Bedürfnissen, da geht es um erste Verliebtheit und eine Vergewaltigung.  Das ist böse und am Punkt, und deshalb ist es unterhaltsam. Den Stimmen in diesem Roman verleiht die Autorin, die mit Relax berühmt geworden ist und zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen ihrer Generation gehört, Sarkasmus und Biss, lässt uns durch den geschärften, gefilterten Blick der vielen Protagonisten auf die vermeintliche Siedlungsidylle schauen. Und da fühlen wir uns natürlich alle angesprochen, die wir in den Achtzigerjahren vielleicht noch keine Erwachsenen, aber durchaus Kinder waren, so geht es zumindest mir: Ich erinnere mich. An das Draußensein, an die Fadesse, an diese zähen Nachmittage, die wir in den Häusern der anderen verbrachten, an die Handylosigkeit, an die merkwürdige Gleichgültigkeit unserer Eltern, die mir so typisch erscheint für die damalige Zeit. Wir waren keine behüteten, beschützten Kinder, mit denen die Eltern sich beschäftigt hätten, wir waren einfach nur da.

Stakkatoartig ist der Stil dieses Buchs, wie Wurfgeschosse zischen einem die Sätze um die Ohren, die kurzen, prägnanten Sätze. Gehässigkeit steckt darin, Bosheit, verborgenes Leid und Unglück. Alexa Hennig von Lange hat alles abgewatscht, was es  gab in den Achtzigern, hat kein gutes Haar gelassen an den Möbeln, der Kleidung, der Einstellung, der Art, die Kinder zu erziehen oder vielmehr: nicht zu erziehen. Aus der heutigen Sicht rückblickend geschrieben, wirkt das wie eine einzige große Abrechnung, ein Auskotzen, ein Verantwortlichmachen für das, was schiefgelaufen ist. Ich finde das lustig, mein Humor ist schwarz, ich finde es stellenweise aber auch too much, sehr einseitig, nicht ambivalent genug. Subtil ist was anderes. Aber das macht dieses Buch, diese Gesellschaftskritik, so heftig – und so kompromisslos gut.

Kampfsterne von Alexa Hennig von Lange ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-9774-2, 224 Seiten, 20 Euro).

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„Die Welt ändert sich zu schnell. Man lässt etwas, das immer da war, aus den Augen, und schon ist es nur noch eine Erinnerung“

Peter Leigh ist Missionar, und der Ort, an den er reist, um die Leute zu bekehren, ist nicht etwa, wie traditionell üblich, ein afrikanisches Land, nein, die gesamte Welt ist ja bereits missioniert. Also muss Peter eine weitere, gefährlichere Reise antreten, er wird zum Astronaut. Er lässt seine Frau Bea zurück, um mit einem Raumschiff zu einem fremden Planeten zu fliegen, sie darf aus abstrusen Gründen nicht mitkommen, obwohl sie es war, die den obdachlosen und drogensüchtigen Peter errettet und zum Glauben gebracht hat, aber hej, sie ist ja nur eine Frau. In der Raumstation angekommen, lernt Peter erst die Astronauten kennen und wird dann – nach einer Weile der Akklimatisierung – zu den Oasiern gebracht, den Bewohnern dieses Planeten. Sie haben eine merkwürdige Liebe zur Bibel, die sie „Das Buch der seltsamen Dinge nennen“, sie haben eine eigenartige Gestalt und scheinen ständig menschliche Medizin zu brauchen. Ihre Sprache „hörte sich an, als würde ein Feld aus trockenem Schilf und nassen Salatköpfen mit der Machete gemäht“, Peter macht sich nicht die Mühe, sie zu lernen. Mit seiner Frau hat Peter Kontakt über eine Art E-Mail-Programm, er kann Nachrichten senden und empfangen, und doch gelingt es ihnen immer weniger, die große Distanz zu überbrücken. Auf der Erde geschehen schreckliche Dinge, und wäre es nicht so pathetisch, würde ich sagen: Während Peter im All ist, geht die Welt unter.

Dieses Buch der seltsamen neuen Dinge ist sehr seltsam. Und vor allem ist es eins: viel zu lang. Auf fast 700 Seiten entblättert der bekannte niederländische Autor Michel Faber, der mit dem 1,5 Millionen Mal verkauften Roman Das karmesinrote Blütenblatt weltberühmt wurde, eine Geschichte, die gar nicht so viel Platz bräuchte, weil sie in ihrem Kern sehr klar ist: Einer zieht aus, um ein fremdes Volk zu missionieren, und dieses Volk befindet sich nicht auf der Erde. So weit, so gut, so weit, so möglicherweise spannend, aber: Enttäuschend finde ich die Umsetzung. Sprachlich gesehen solide und schlicht, ohne große Sprünge, ohne große Überraschungen, bietet der Roman zwar eine gute Idee, bleibt dann jedoch dem Klischee und den eh schon bekannten Vorstellungen verhaftet. Müssen denn wirklich Außerirdische aussehen wie „Außerirdische“? Ist es auch nur annähernd glaubwürdig, dass sie sich von allem, was es im Universum gibt, von allem, was unsere Fantasie übersteigt und sprengt und fordert, ausgerechnet für die Bibel interessieren? Warum sollten sie das tun, wie kleinlich, wie minimenschlich, wie egozentrisch ist eine derartige Vorstellung? Und weshalb, bitte weshalb, sollten sie derart abhängig sein von für menschliche Körper gemachte Medizin? Wie absurd ist das? Das gesamte Buch wirkt wie ein typischer Science-Fiction-Film-Verschnitt, keine einzige Idee ist neu, keine Beschreibung dieser fremden Welt, der Raumstation, der Umgebung geht über das hinaus, was wir bereits hundertmal gesehen und gelesen haben. Und dazu noch die Nachrichten zwischen Peter und Bea, die langatmig sind und überladen und kitschig, sehr religiös und vermeintlich liebevoll, dabei aber, in dieser Liebe, sehr flach. Das finde ich, zumal es sich über wie gesagt 700 Seiten dehnt, mehr als schade. Und es wundert mich, weil die Geschichte hinter diesem Roman sehr tragisch ist: Fabers Frau ist, während er ihn geschrieben hat, an Krebs erkrankt und gestorben. Um Liebe soll es gehen in diesem Buch, um Verlust. Und was hätte es da für Möglichkeiten gegeben! Zu entführen in etwas wirklich Fremdes, zum Nachdenken anzuregen über andere Weltanschauungen, den eigenen Kosmos einmal zu verlassen, endlich, und sei es nur für ein Buch. Stattdessen hält Michel Faber uns auch bei dieser Reise ins All fest auf der Erde mit all ihren Beschränkungen und ihrer offenbar nicht zu überwindenden Schwerkraft.

Das Buch der seltsamen neuen Dinge von Michel Faber ist erschienen bei Kein & Aber (ISBN 978-3-0369-5779-1, 688 Seiten, 25,70 Euro).

Bücherwurmloch

„Immer versteckst du dich hinter etwas“
Schon einmal waren Anna und ihr Mann in Taormina auf Sizilien: während ihrer Hochzeitsreise. Jetzt kehren sie dorthin zurück, sie haben inzwischen zwei Kinder, und nicht nur das hat sich verändert. Das Schweigen ist in ihre Ehe eingezogen, genau wie die Genervtheit, die immer einhergeht mit Monogamie. Der Ort, den Anna als zauberhaft in Erinnerung hat, erscheint ihr so viele Jahre später erstaunlich dröge und gewöhnlich. Sie ist enttäuscht. Auch Alexander, seine um einiges jüngere schwangere Frau und sein erwachsener Sohn sind gemeinsam in Taormina, und da gibt es noch mehr schwelende Geheimnisse als in Annas langweiliger Ehe. Auf sie, die Alexander an einem Cafétisch sitzen sieht, wirkt sein Leben interessanter und aufregender als ihres. Das mag auch so sein. Doch sich zu vergleichen, ist ja nie unbedingt sinnvoll.

Die Lichter unter uns von Verena Carl ist ein glänzend geschriebener Roman, der Momentaufnahmen sammelt und die Erwartungshaltung einer Handvoll Figuren analysiert. Die Handlung reicht nicht zurück in die Vergangenheit und nimmt keinen Raum in der Zukunft ein, vielmehr werden unterschiedliche Menschen porträtiert, hineingeworfen in diese Augenblicke auf Sizilien, in denen wir als Leser an ihrem fiktiven Leben teilhaben. Was also ist dieser Roman? Eine Figurenstudie, eine Skizze diverser Protagonisten, eine Überlegung, wie sie umeinander gruppiert funktionieren könnten und warum? Die Feststellung, dass man sich früher oder später in jeder Ehe fadisiert, dass das, was die anderen haben, stets verlockender erscheint, dass die klassischen Kirschen in Nachbars Garten gar so rot leuchten? Ich hätte erwartet, dass mehr hinter der Begegnung zwischen Anna und Alexander steckt, dass etwas ausgelöst wird dadurch, dass sich etwas verändert und das Buch einen Höhepunkt bekommt, ein dramatisches Element, einen Konflikt. Das ist nicht der Fall, und Auflösung folgt ebenso keine. Hat man das einmal akzeptiert, bleibt eine schöne, melancholische, sehr momentbezogene Kurzbeschreibung von Menschen, die sich gefangen fühlen in ihrem Leben, die jedoch in ihrer Passivität nicht einmal versuchen, auszubrechen. Wie sie sich mit sich selbst quälen, wie sie sich sehnen nach etwas anderem, das mehr Aufregung, mehr Erfüllung verspricht, ist auf bittere Weise wahr und entlarvend.

Die Lichter unter uns von Verena Carl ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-10-397363-1, 320 Seiten, 20 Euro).

Bücherwurmloch

„Du weißt, dass ich eine zu kleine Seele habe“
Im Sommer 1996 fliegt Jonas nach New York. Er soll alles vorbereiten für seine Studienkollegen, die anreisen werden, um einen Film zu drehen, soll ihnen eine Unterkunft besorgen, Locations checken, eine Idee finden. Der Film muss von Sex handeln, das ist die Forderung ihres Professors. Jonas hat eine Freundin, die Vietnamesin Mah, die zuhause in Deutschland bleibt. Sie ist ihrer eigenen Definition zufolge eine Winterfrau, und in New York trifft Jonas eine Sommerfrau: die eigensinnige Nele. Aber nicht nur die Begegnungen mit ihr sind verwirrend, denn eigentlich läuft nichts so, wie Jonas sich das vorgestellt hat. Er wohnt in einer versifften Bude in einer gefährlichen Gegend, muss durch das Mienenfeld der Gefühle seiner Freundin hüpfen, bekommt überall nur Absagen, denkt darüber nach, Ohrläppchen zu filmen, und drückt sich vor allem vor der Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte: In New York lebt eine alte Dame, die ihm etwas erzählen möchte. Jonas will nichts zu tun haben mit der „Nazischeiße“ und kann letztlich doch nicht länger davor davonlaufen.

Was für ein Buch! Es ist wild und weird und böse und witzig. Chris Kraus hat mich richtig überrascht. Zwischendrin dachte ich: was für eine merkwürdige, merkwürdige Geschichte, und dennoch habe ich sie geliebt. Weil sie anders ist und originell. Weil es um Sex geht, ohne dass es awkward wird, weil so viel Sarkasmus und Menschenhass drinsteckt. Und sehr viele richtig kluge Gedanken.

Gewinnende Eigenschaften habe ich wenige, dazu sind mir Menschen entweder zu egal oder zu unheimlich. Im Allgemeinen wird mir von den üblichen geselligen Talenten höchstens Humor nachgesagt, ein viel strapaziertes Wort. Auf der Stufe der Nicht-vollkommen-Behämmerten, auf der ich mich einordne, entspringt mein Lachen aber absolut nicht dem Wunsch, zu heiterem Lebensgenuss beizutragen oder etwa die Welt lustig zu finden. Ich finde die Welt nicht lustig.

Die Leute wollen nicht, dass man zu viel Vergnügen hat. Sie glauben, das sei schlecht für einen, vor allem, wenn man das Gegenteil erdulden musste. Sie wollen auch dieses Gegenteil nicht, dass der Mensch also zu viel Leid erfährt, das will niemand. Beunruhigend ist sowohl das grenzenlose Verlangen als auch das grenzenlose Leid. Das Grenzenlose macht uns Angst.

Natürlich ist dieses Buch mit dem (Entschuldigung) reichlich uninspirierten Titel Sommerfrauen Winterfrauen eine Coming-of-age-Story, allerdings keine klassische. Keine Angst also vor einem 08/15-Setting! Euch erwartet alles andere als das. Wir folgen einem jungen Mann, der sich dem Beängstigendsten stellen muss, das es gibt: der Vergangenheit – und der Zukunft. Woher kommt er, was hat es mit der Nazivergangenheit seiner Familie auf sich? Muss er sich wirklich anhören, was sein Großvater getan hat, oder darf er im Ungewissen bleiben? Und welche ist die richtige Frau für ihn, was möchte er erreichen, wo könnte sein Weg an der Filmhochschule hinführen, soll er Vater werden oder nicht? Chris Kraus, der selbst Filmregisseur und Drehbuchautor ist, schreibt sehr szenenstark, sehr bildlich, mit guten Schnitten und Dialogen, die sitzen. Das ist ein herrlich lesenswerter Schlagabtausch, eine Suche, ein Sommerrausch – inklusive Wendungen, mit denen man nicht rechnet. Am Ende ist eigentlich nichts so, wie man es sich am Anfang ausgemalt hat, und das ist, abgesehen von vielen guten Sätzen, vielleicht das Beste.

Sommerfrauen Winterfrauen von Chris Kraus ist erschienen bei Diogenes (ISBN 978-3-257-07040-8, 416 Seiten, 24 Euro).