Bücherwurmloch

„In North Carolina gab es die schwarze Rasse nur an den Enden von Stricken“

Bevor ich nach North Carolina zurückgekommen bin, hatte ich auch noch nie gesehen, wie ein Mob einen Menschen in Stücke reißt. Wenn man das gesehen hat, sagt man nicht mehr, was Menschen tun werden und was sie nicht tun werden.

Und etwas, das Menschen nicht tun, das gibt es nicht, sie tun alles, was einem einfallen kann, wie grausam und vermeintlich unmenschlich es auch sein mag. Und grausame Taten gibt es zur Genüge in diesem Buch, es besteht aus solchen Taten, es ist aus ihnen gebaut, denn es geht in Underground Railroadvon Colson Whitehead, ausgezeichnet mit dem National Book Award und mit dem Pulitzerpreis, um die Sklaverei. Schon seit langer Zeit beschäftigt mich die Tatsache, dass der Mensch jemals auf die Idee gekommen ist, einer sei mehr wert als der andere, die Farbe der Haut habe eine Bedeutung, und egal, wie viele Erklärungen ich dafür im Lauf meines Lebens gelesen habe, wirklich begriffen habe ich das nie. Dieses Erhöhen der einen über die anderen, obwohl wir alle dasselbe Blut haben und Knochen und ein Herz, obwohl wir alle dasselbe empfinden und sehen und wollen, obwohl wir eine Einheit sein könnten und sollten, das leuchtet mir nicht ein – und das wird es auch nie tun.

Wenn ich ein Buch wie dieses lese, das aufbereitet, was Menschen über Jahrhunderte weg anderen angetan haben, wie sie sie verprügelt und verstümmelt, ausgebeutet und ausgepeitscht, entwertet und bei lebendigem Leib verbrannt haben, bestätigt mich das nur immer wieder in meinem Glauben, dass die Menschheit der widerwärtigste Parasit ist, den die Erde sich je eingefangen hat. Und ich hoffe wieder aufs Neue, dass er bald ausstirbt und verschwindet von diesem Planeten, damit der sich erholen kann von der Krankheit Mensch. Lange wird das nicht mehr dauern, natürlich nicht, wir sind auf dem besten Weg, uns selbst und uns gegenseitig auszulöschen und auszuradieren. Colson Whitehead erzählt durch seine Protagonistin Cora, die von einer Sklavenplantage entkommt, von den Gräueln der damaligen Zeit – doch, nein, so viel besser ist es heute nicht, da brauchen wir uns nichts vorzumachen – und von dem Kampf für die Freiheit. Einem Kampf, der auch nach dem Ende der Sklaverei noch lange nicht gewonnen ist, denn #blacklivesmatter zeigt jeden Tag, wie sehr die Menschen mit der helleren Haut sich immer noch erhöhen über jene mit dunklerer. Obwohl das doch sowas von scheißegal sein sollte.

Coras Unglück war nicht an ihre Person oder ihr Handeln gekettet. Ihre Haut war schwarz, und so ging die Welt mit schwarzen Menschen um. Nicht mehr, nicht weniger.

Sie entkommt über ein System an Untergrundeisenbahnen, das es so – man muss sagen: leider – nie gegeben hat. Der Autor selbst hat erklärt, das Buch sei kein historischer Roman, er habe es nach dem Motto geschrieben „Halte dich nicht an Tatsachen, sondern an die Wahrheit“. Die Lektüre von Underground Railroad ist schwer auszuhalten, auch wenn man kein Misanthrop ist wie ich. Denn es erzählt nun mal die Wahrheit.

Underground Railroad von Colson Whitehead ist erschienen bei Hanser (ISBN 978-3-446-25655-2, 352 Seiten, 24 Euro).

 

 

Bücherwurmloch

„Die Menschen, von denen wir lernen, nehmen einen besonderen Platz in unserer Erinnerung ein“

Fast gestorben zu sein ist nichts Einmaliges oder Besonderes. Der Tod begegnet uns ständig; wohl jeder, wage ich zu vermuten, war ihm schon einmal nahe, vielleicht ohne es zu merken.

Es sind diese Situationen, von denen Maggie O’Farrell erzählt: Momente, in denen der Tod nah war. So nah, dass sie es sehr wohl gemerkt hat. Sie, die bekannt ist für ihre bisher sieben Romane, hat sich der eigenen Geschichte angenommen, hat eine Art bruchstückhafte Autobiografie geschrieben, hat sich mit ihrem Leben beschäftigt und nur jene Augenblicke behandelt, in denen ebenjenes Leben beinahe zu Ende gewesen wäre.

Maggie O’Farrell wäre beinahe ertrunken und einer Infektion erlegen, sie wurde mit einer Waffe bedroht und war bei der Geburt ihres Kindes in Lebensgefahr. Das beschreibt sie jedes Mal mit einer Detailverliebtheit, dass ich mich frage, wie viel Wahrheit darin steckt, wie viel Fiktion, was sind unsere Erinnerungen denn anderes als Gedanken, die wir uns heute über das Damals machen? Erstaunlich finde ich die Tatsache, wie oft Maggie O’Farrell – von Kindesbeinen an – offenbar dem Tod ins Auge geblickt hat. 17 solcher Geschichten umfasst das Buch. Ich kann von keinen solchen gefährlichen Dem-Himmel-so-nah-Momenten in meinem Leben berichten, oder vielleicht: Mir war nie bewusst, dass dieser Hauch mich beinahe gestreift hätte. Die wild durcheinandergewürfelten Kapitel sind spannend und kurzweilig zu lesen, im Ganzen ergeben sie einen Bericht über Nahtoderfahrungen, eine Mahnung, das Leben zu nutzen mit dem Wissen, dass es vorbei sein kann jederzeit. So gesehen: Carpe Diem in Buchform.

Ich bin ich bin ich bin von Maggie O’Farrell ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3-492-05889-6, 256 Seiten, 22 Euro).

Bücherwurmloch

„Nur weil zwei Leute heiraten, heißt das noch lange nicht, dass sie einander alles sagen“
Drei Buben, ein Mädchen: Das ist der Sommer in Apulien, das ist jeder Sommer in Apulien, wo Teresa ihre Ferien verbringt. Sie stammt aus Turin und kommt mit dem Vater, jedes Jahr, und sie ist fasziniert von Bern, Tommaso und Nicola, die auf einem Hof aufwachsen, eigentlich keine Brüder sind, aber irgendwie doch, sie leben streng religiös und arbeiten hart. Besonders für Bern interessiert Teresa sich, und aus diesem Interesse wird eine erste große Liebe, wird die vielleicht einzige große Liebe. Doch die beiden werden es nicht leicht miteinander haben in den Jahren, die folgen, sie werden sich, bei aller Liebe, wieder und wieder verletzen, verlieren, erneut finden, bis es nichts mehr zu finden gibt.

Das klingt nach einer guten Geschichte, nicht wahr? Ist es nur leider nicht. Paolo Giordano kann schreiben, keine Frage, sehr gut kann er das, und es gibt Szenen in Den Himmel stürmen, die sind getragen von seinem typischen Ton, die sind ausgezeichnet formuliert. Nur die Story, die Handlung, ist derart unstimmig, zerfasert, unglaubwürdig, dass ich mich ständig frage: Paolo, warum? Was hast du getan? Die Richtung, in die das Buch sich entwickelt, die die gesamte Geschichte einnimmt, ist dröge und unromantisch, sehr seltsam auch: Das Paar verstrickt sich in eine Obsession, plagt sich, müht sich ab, die Liebe geht in kürzester Zeit verloren und ja – das mag so sein im Alltag. Ich verstehe das, ich mache mir keine Illusionen. Aber dadurch wird es ein ganz anderes Buch, als die Rahmenhandlung glauben machen will, als Titel und Aufmachung und Klappentext sagen, ein nüchternes, schwieriges Buch. Es ist keine Lovestory. Es ist kein Roman von zweien, die sich als Jugendliche kennenlernen und über Widrigkeiten hinweg abstoßen und anziehen. Es ist vielmehr ein Roman darüber, dass Menschen sich manchmal einbilden, sie müssten etwas haben, etwas bekommen – und dann, wenn sie es nicht erreichen können, alles hinwerfen, das ihnen etwas bedeutet.

Am wenigsten mag ich die Zeitsprünge, die mir zu abrupt sind und deren Sinn sich mir nicht erschließt. Weshalb erzählt Hauptfigur Teresa ab und zu – völlig aus dem Zusammenhang und ohne erkennbare Dramaturgie – von einem Zeitpunkt fünfzehn Jahre später, warum zerstört Paolo Giordano durch diese Einschübe jegliche Spannung, jegliches Rätselraten, was geschehen wird mit Teresa und Bern? Wieso ist Teresa so erschreckend passiv, blass, unzugänglich? Manchmal habe ich den Eindruck, und das ist vielleicht das Schlimmste, dass es sich so anhört, wenn ein Mann sich vorstellt, wie eine Frau sich fühlt. Und ich mich beim Lesen winde, laut rufen möchte: So nicht, so ist es nicht! Alle Figuren im Buch sind ständig genervt. Diese jungen Menschen, die den Hof später besetzen und selbst bewirtschaften, die unabhängig sein wollen und revolutionär, sind allesamt unglücklich mit ihrem eigenen Lebensentwurf. Sie scheinen zu denken: Das hätte was werden können, das haben wir uns so gut vorgestellt, warum klappt es nicht? Und genau so geht es mir mit diesem Buch.

Den Himmel stürmen von Paolo Giordano ist erschienen bei Rowohlt (ISBN  978-3-498-02533-5, 528 Seiten, 22 Euro).

 

Bücherwurmloch

„Es gibt kein Gesetz, das den Menschen verbietet, einander zu hassen“
Lawrence Newman fühlt sich sicher. Er hat ein ganz gutes Leben, er ist Personalchef in einer großen Firma und überwacht die Stenotypistinnen. Er ist kein empathischer Mensch, als nachts eine Frau vor seiner Wohnung attackiert wird, kümmert er sich nicht weiter darum und kommt gar nicht auf den Gedanken, ihr zu helfen. Doch mit dieser Sicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen, niemals in Gefahr geraten zu können, ist es plötzlich vorbei, als Lawrence immer stärkere Sehprobleme hat und deshalb eine Brille braucht. Mit dieser Brille sieht er nämlich auf einmal aus wie ein Jude. Zumindest empfinden das die Leute so, und Lawrence gerät aufgrund dieser vermeintlichen Kleinigkeit, aufgrund dieses Eindrucks, den er nun erweckt, mit einem Mal in größte Bedrängnis. Man begegnet ihm mit Abscheu und Verachtung, er verliert seine Stellung und sein Ansehen – und man trachtet ihm sogar nach dem Leben.

Nun gut, dachte er, ich könnte ihn überzeugen, dass ich kein Jude bin. Ich könnte sogar so weit gehen, ihm meinen Taufschein zu bringen. Nun gut. (…) Doch er wusste, dass er selber damals in seinem gläsernen Büro keinerlei Beweise, keinerlei Dokumente, keinerlei Worte als Argument gegen des Aussehen eines Gesichts akzeptiert hätte.

Antisemitismus in Amerika: Das ist für uns Europäer ein eher unbeschriebenes Blatt. Wir wissen Bescheid, wir sollten Bescheid wissen über den Zweiten Weltkrieg, über die Ausgangssituation in Österreich und Deutschland, und die Geschichten, die wir hören, enden meist, im Glücksfall, damit, dass jüdischen Menschen die Flucht in die USA gelungen ist. Doch was uns nicht klar ist: Diese Geschichten, die waren damit ja gar nicht zu Ende. Und: In Amerika wollte diese Menschen eigentlich auch niemand haben. Davon erzählt der Dramatiker Arthur Miller – einst Ehemann von Marilyn Monroe und 2005 verstorben – in diesem seinem einzigen Roman, der 1945 erschienen ist. Für sein Stück Tod eines Handlungsreisendenbekam er 1949 den Pulitzerpreis, auch Die Hexen von Salemstammt aus seiner Feder. In Fokussetzt er einen beliebigen Mann, einen 08/15-Protagonisten einer seltsamen Situation aus: Durch etwas so Banales wie eine Brille bekommt er ein vermeintlich jüdisches Aussehen, und dadurch kann der Schriftsteller bestens analysieren, was das macht mit einem Menschen, wie stark optisch geprägte Vorurteile sind, wie hilflos jemand ist, der sich diesen Vorurteilen ausgesetzt sieht, wie schnell er sämtliche Privilegien verliert und letztlich auch, wie stark ausgeprägt ebenjener Antisemitismus in Amerika war. Das zu lesen, ist erschütternd.

Sein Leben lang hatte er diese Abneigung gegen das Judentum mit sich herumgetragen, ohne sie allzu ernst zu nehmen. Es war nicht wichtiger als ein Widerwillen gegen gewisse Nahrungsmittel.

Das ist eine sehr bezeichnende Aussage, die auf den Punkt bringt, wie stark der Antisemitismus in den Menschen verankert ist – ohne dass sie dem jedoch Beachtung schenken. Lawrence Newman muss sich erst damit auseinandersetzen, als er sich persönlich damit konfrontiert sieht. Und genau darin liegt die Stärke des Romans: Einer wird vom Mitläufer zum Ziel, einer wird vom Teil der Masse zum Exponierten. „Heute fragt man sich unweigerlich, ob es je wieder zu einer Situation kommen könnte, wie sie im Roman beschrieben wird, und die Antwort kennt niemand“, heißt es im Vorwort. Und ich wünschte, sagen zu können, die Antwort lautet Nein, aber wir wissen alle, dass das leider eine Lüge wäre.

Fokus von Arthur Miller ist in dieser wunderschönen Ausgabe mit Holzschnitten von Franziska Neubert erschienen bei der Büchergilde.

 

 

 

Bücherwurmloch

Mehr als 120 Bücher hab ich in diesem Jahr gelesen. Kranker Scheiß, ey, ich weiß nicht genau, wie ich das geschafft habe, es muss an den vielen Zugfahrten für meine Lesereisen gelegen haben. So oder so: Derart viele waren es noch nie (zum Vergleich: Letztes Jahr waren es 83). Dabei habe ich aber nur jene gezählt, die ich wirklich gelesen habe, ich sortiere ja sehr schnell aus und breche ab, was mich nicht fesselt. Um die Quantität soll es aber heute gar nicht gehen, sondern, das ist ja immer wichtiger, um die Qualität: Bedeuten mehr Bücher auch mehr GUTE Bücher? Offenbar nicht unbedingt, zu den absoluten Highlights, die ich 2018 gelesen habe, gehören trotzdem nur sieben Titel. Und das sind sie:

Mariana Leky hat mich mit ihrem hochgelobten Bestseller Was man von hier aus sehen kann erst sehr spät überzeugt, dafür aber umso mehr: Es ist ein fein ausbalanciertes, melodisch komponiertes Buch mit einer großen Portion Verrücktheit, es ist nicht alltäglich, und das macht es originell. Es ist bittersüß und zart, es hat liebenswerte, kauzige Charaktere, Handlung hat es nicht viel, aber eine meisterhafte, verspielte Sprache, die durchgängig bis zum Schluss den Ton hält. Am Ende ergibt alles einen Sinn, und das ist vielleicht das Beste, was man über einen Roman sagen kann.

Jacqueline Woodson hat mit Ein anderes Brooklyn ein intensives Buch geschrieben, das ich auf einer eineinhalbstündigen Zugfahrt inhaliert habe. Es kribbelt auf der Haut während der Lektüre, es rumort im Magen und im Herzen auch. Man kann nicht genau festmachen, woran das Unwohlsein liegt, warum es so sticht und schmerzt. Idealerweise klingt in Büchern wie diesem, die so viel ungesagt lassen, genau das Ungesagte noch viel lauter. Das ist hier der Fall, und es ist sehr gut.

Mit The Power hat Naomi Alderman mich total geflasht, weil die Idee hinter dem Buch sehr gut, sehr originell und sehr konsequent umgesetzt ist. In dieser Geschichte sind die Frauen den Männern überlegen. Es dauert nicht lange, bis sie ihre neue Gabe nutzen, bis sie sich auflehnen und aufbegehren, sich wehren und die Ketten sprengen, in die das Patriarchat sie gelegt hat. Weltweit bricht eine nie dagewesene Revolution los. Unbedingte Leseempfehlung!

Jennifer Clement hat mit Gun Love einmal mehr bewiesen, was für eine herausragende Schriftstellerin sie ist: Sie sticht einem mit dieser Geschichte mitten ins Herz. Ich hab geweint, unter Tränen gelacht, ich war schon von der ersten Seite an ergriffen, ich hab diesen Roman seither sogar bei meinen eigenen Lesungen empfohlen, und ich hab ihn zu Weihnachten mehrmals verschenkt. Weil er einfach so gut ist. Weil er viele Leser finden muss. Weil er mein Jahreshighlight ist.

Wie großartig Sibylle Berg ist, lässt sich kaum in Worte fassen. Sie ist eine Meisterin, ein Genie. Im Frühsommer habe ich ihren Roman Vielen Dank für das Leben gelesen und mich bei so vielen Sätzen im Innersten erkannt gefühlt. Nur sie kann mit einem derart nüchternen, klaren Blick auf die Menschheit schauen und beschreiben, wie sie funktioniert, wie sie ausgrenzt und verlacht, wie sie tötet, manchmal schnell, mit gezielten Hieben, manchmal langsam, mit Liebesentzug und Ignoranz. Dieses Buch ist grausam und authentisch und echt, es ist traurig, unfassbar traurig, es ist schwarz und scharf und klug und pointiert. Es ist, wie die Menschen sind: gnadenlos. Und es tut weh.

Der Trafikant von Robert Seethaler ist ein Roman, den ich ausnahmslos jedem in die Hand drücken würde. Weil er so gut ist. Weil er dringend gelesen werden muss. Weil er vielleicht etwas bewirken, etwas verändern kann. Robert Seethaler kann etwas, das nicht viele können: Er erzählt mit einer beneidenswerten Leichtigkeit. So easy hört sich das an, so fließend, dass man gar nicht merkt, dass es da um die großen, um die größten Themen überhaupt geht, um die Liebe, um den Tod, um den beginnenden Holocaust. Alles kann er erzählen, alles, ohne dass es schwer zu sein scheint, und deswegen mag ich ihn so. Ein richtig, richtig gutes Buch, das auch ihr lesen und jedem in die Hand drücken solltet.

Überrascht hat mich Sina Pousset mit ihrem Debüt SchwimmenEs ist ein Buch über die Freundschaft und jene Grenzen, an denen Freundschaft ausfranst, sich verwandelt, wenn man es zulässt, an denen sie aber auch zugrunde gehen kann, wenn man nicht aufpasst, wenn man den Zeitpunkt verpasst, immer wieder. Es ist außerdem ein Buch über die Unfähigkeit weiterzumachen nach einem Verlust, der so umfassend ist, dass man sich wie ausgehebelt fühlt danach, als sei oben unten und unten oben, als habe man kein Ziel mehr und keinen Anker. Und es erzählt in einer hervorragenden Sprache.

Und nun, meine Damen und Herren, folgen in zufälliger Reihung ebenfalls außerordentlich gute Bücher, die ich 2018 gelesen habe:

Chris Kraus: Sommerfrauen Winterfrauen
Andrea Gerk: Lob der schlechten Laune
E. Lockhart: We were liars
Sabrina Janesch: Die goldene Stadt
Willi Achten: Nichts bleibt
Karosh Taha: Beschreibung einer Krabbenwanderung
Ruth Cerha: Traumrakete
Garth Greenwell: Was zu dir gehört
Helmut Krausser: Geschehnisse während der Weltmeisterschaft
Lucy Fricke: Töchter
Arno Frank: So, und jetzt kommst du
Matthew Heiner: Alles über Heather
Juli Zeh: Unterleuten
Ian McGuire: Nordwasser
Yael Inokai: Mahlstrom
Marie Gamillscheg: Alles was glänzt
Andrew Sean Greer: Less
Kirsten Fuchs: Signalstörung
Kathrin Weßling: Super, und dir?
Paulus Hochgatterer: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war
Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen
Brit Bennett: Die Mütter
Leila Slimani: Dann schlaf auch du
Torsten Seifert: Wer ist B. Traven?
Davit Gabunia: Farben der Nacht
James Baldwin: Von dieser Welt
Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt
Gerhard Jäger: All die Nacht über uns
Nell Leyshon: Die Farbe von Milch
Wolf Haas: Junger Mann
Bret Anthony Johnston: Remember me like this
David Whitehouse: Der Blumensammler
Lina Wolff: Die polyglotten Liebhaber
Virginie Despentes: King Kong Theorie
Chloe Benjamin: The Immortalists
Karoline Menge: Warten auf Schnee
María Hesse: Frida Kahlo
Kai Wieland: Amerika

Es war, wie ihr sehen könnt, ein sehr abwechslungsreiches, literarisch ausgefülltes Jahr. Habt ihr manche dieser Titel auch gelesen? Und freut ihr euch, wie ich, schon auf das Frühjahrsprogramm?

Bücherwurmloch

„In unserem Teil von Florida lief alles durcheinander. Das Leben war wie ein Schuh am falschen Fuß“
Pearl lebt seit ihrer Geburt vor vierzehn Jahren in einem Auto, das am Rande eines Trailerparks und neben einer Müllkippe steht. Sie lebt in diesem Auto mit ihrer Mutter, ihrer zarten, kleinen Mutter, die im Veteranenkrankenhaus putzt, weil sie Pearl mit siebzehn bekommen hat und keinen Schulabschluss machen konnte. So schlimm, wie es klingt, ist das nicht, Pearl sieht dieses Auto als ihr Zuhause, sie stört sich nicht daran. Sie und ihre Mutter haben eine sehr enge Bindung, und Pearl weiß: Ihre Mutter kann in die Menschen hineinschauen, kann ganz genau sehen, woraus sie im Innersten gemacht sind.

Meine Mutter war eine Tasse Zucker. Man konnte sie jederzeit ausleihen.

Und dann tritt Eli in ihr Leben. Eli, der sich hineindrängt in dieses Auto, in dem ohnehin kaum Platz ist, der Schaum aufwirbelt und Wellen, die sich nicht mehr glätten lassen.

Eli Redmond ist die Brise, aus der ein Hurrikan über dem Atlantik wird. Der Kerl ist ein waschechter Lügner. Er ist der Typ Mann, der sämtliche Scheiben in deinem Haus einschlägt.

Eli bringt Unheil, Eli bringt Verrat, und Pearl wird alles verlieren, was sie hat.

Ich habe mich auf der ersten Seite schockverliebt in dieses Buch. So sehr verliebt hab ich mich, ich hab die erste Seite zweimal gelesen, langsam. Weil das so ein Moment war, wie man ihn manchmal erlebt, in dem man weiß: Das mit uns, das könnte was werden. Und das wollte ich auskosten, ich wollte kribbelig sein vor Vorfreude. Ich habe Großes erwartet von Jennifer Clement, weil Gebete für die Vermisstenzu den intensivsten Büchern gehört, die ich je gelesen habe, und sie hat mich nicht enttäuscht. Im Gegenteil, sie hat mich mitgenommen nach Florida, um zwei Menschen kennenzulernen, deren Leben so anders ist als das, was wir uns unter einem guten Leben vorstellen, und die es trotzdem schön haben miteinander, weil sie die Liebe haben. Pearl und ihre Mutter sind ein Team, sie stehen am Rand der Gesellschaft, sie haben niemanden, aber sie haben einander. Es geht um Waffen in diesem Roman, um den Handel und den Umgang damit, ein heißes Thema in den USA, es geht um die Normalität, die im Extremen liegen kann, um Freundschaft und um eine besondere Mutter-Tochter-Beziehung. Um rohe Gewalt geht es auch, um ein Gefühl der Verlorenheit, und um die Liebe. Es ist ein Buch, das einem das Herz bricht, und das macht es so großartig.

Ich weiß, dass die Erinnerung der einzige Ersatz für die Liebe ist.

Jennifer Clement schreibt statt mit einem Stift mit einem Messer. Sie ritzt einem ihre Worte in die Haut und ins Herz, und ich frage mich beim Lesen immer, wie sie das macht. Wieso sie das kann. Woher sie diese Kraft hat, dieses Talent. Was für eine originelle, wehmütige, unglaublich schmerzhafte Geschichte das ist, sprachlich präzise, mit so einzigartigen Charakteren und Szenen, die man nicht mehr vergessen kann. Auf der ersten Seite war ich schon auf den Knien, und bis zur letzten Seite hat das nicht aufgehört. Großartig.

Bei uns weiß man, dass man auch spricht, wenn man schweigt. Und dass man jemanden lieben kann, ohne es ihm je zu sagen.

Gun Love von Jennifer Clement ist erschienen bei Suhrkamp (ISBN 978-3-518-42832-0, 251 Seiten, 22 Euro).

Bücherwurmloch

„Schon vor langer Zeit hatte ich ein Naturgesetz entdeckt: Wenn man etwas Schönes erlebte, passierte immer gleich etwas entsprechend Schreckliches“
Vor dem Tscho hat er Respekt, unser dreizehnjähriger Held, denn „sogar von seinen Schritten fühlte man sich zusammengeschissen“. Er bewundert ihn für seine 70er-Jahre-Coolness und für die Autos, die er repariert, fährt, verkauft. Außerdem bewundert er den Tscho für seine Frau, die er eines Tages auf der Tankstelle, an der er in den Ferien arbeitet, durch das Autofenster sieht.

Dieses Lächeln sympathisierte in einer Weise mit mir, dass ich nicht anders konnte, als mit diesem Lächeln ebenfalls zu sympathisieren. Aber Sympathisieren wäre vielleicht noch in Ordnung gewesen. Mein Leben wäre normal weitergegangen, wenn ich nur sympathisiert hätte. Wenn ich mich nicht augenblicklich um den Verstand verliebt hätte.

Da hilft nur eins: Er muss an diese Frau heran. Dazu muss er aber erst einmal abnehmen, weil er zu dick ist. Zu jung eigentlich auch, doch das spielt in Sachen Liebe ja keine Rolle. Also geht er auf Diät, was seine Mutter schrecklich findet. Der Vater verbringt seine Zeit auf Entzug in der Landesnervenklinik, wo er sich, weil er seine Ruhe hat, ganz wohl fühlt. Durch einen „Zufall“ landet unser Held bei der schönen Frau zuhause – Fernfahrer Tscho ist mal wieder unterwegs –, und sie scheint sich für ihn zu interessieren, zumindest auf eine süße, leicht herablassende Art. Der Dreizehnjährige ist entflammt:

Mein Gesicht war so heiß, dass mir der Kaffee leidtat, als er sich an meinen Lippen verbrannte.

Doch ab da fangen die Überraschungen erst an.

Die Bücher von Wolf Haas sind österreichische Seele zwischen zwei Buchdeckeln. Hochkonzentriertes Österreichischsein sind sie, wie eine Kapsel mit konzentriertem Schmäh drin, die muss man nur noch drücken und genießen. Ich liebe das. Ich liebe es so sehr, man kann gar nicht Österreicher sein und das nicht lieben – Wolf Haas ist in der Literatur wie Rainhard Fendrich in der Musik, und was wären wir ohne unser „I am from Austria“? Eben. Für diesen Roman, der im Salzburger Pinzgau spielt, bin ich fast ein bisserl zu jung, in den Siebzigern waren meine Eltern gerade erst Volksschulkinder, aber: Da steckt so viel Nostalgie drin, auch für mich, die ich direkt im Grenzgebiet aufgewachsen bin und das noch bestens kenne, und schon ewig habe ich das Wort „schätzomativ“ nicht mehr gehört, das in meiner Kindheit gebräuchlich war. So wunderwunderschön und lustig und großartig ist diese literarische Reise in die Vergangenheit, ich bin innerhalb von zwei Stunden durchgerauscht, weil ich nicht aufhören konnte, mich zu freuen. Vor allem über die grandiosen Dialoge, in denen der dreizehnjährige Held sich als schlagfertig und witzig hervortut.

„Ich werd sicher nicht Pfarrer.“
„Wieso nicht? Da hast immer eine sichere Stelle. Und Weiber hast mehr als jeder andere.“

Dieses Buch ist eine Wohltat. Weil es nicht exaltiert daherkommt, weil es nichts verlangt und nichts will – außer zu unterhalten. Und das gelingt hervorragend, auf durch und durch österreichisch schmähvolle Weise. Ein echter Haas eben. Ich bin begeistert!

Junger Mann von Wolf Haas ist erschienen bei Hoffmann & Campe (ISBN 978-3-455-00388-8, 240 Seiten, 22 Euro).

Bücherwurmloch

Ich glaube ich sage einfach nur die Wahrheit“

„Es gefällt mir wie du redest.
Na, das ist eine Erleichterung, denn ändern werd ich mich sicher nicht.
Ich muss sagen du kommst mir auch nicht vor wie die Sorte Mädchen die sich ändert.“

Mary ist ein eigenwilliges Mädchen, das sich nicht zurückhält. Und dabei wäre Zurückhaltung gefragt in ihrer Zeit, in ihrem Land und ihrer Stellung, sie ist eine einfache Bauerstochter ohne Bildung. Von den Eltern und den Schwestern geächtet, weil sie ein Bein nachzieht, schuftet Mary Tag und Nacht auf dem Hof – bis der Vater beschließt, dass sie ins Dorf in den Pfarrhof ziehen soll, um der kranken Gattin des Pfarrers zu helfen. Das tut Mary äußerst widerwillig, doch die Kranke schenkt ihr Aufmerksamkeit und liebe Worte – etwas, das das Mädchen nicht kennt. Und noch etwas lernt Mary im Pfarrhaus: lesen und schreiben. Deshalb ist es ihr möglich, ihre Geschichte zu erzählen. Deshalb kann sie berichten von all dem, was dann noch geschehen ist.

Und dieser Bericht klingt, wie er klingen müsste, hätte Mary ihn tatsächlich geschrieben: simpel, fast ohne Satzzeichen, sprachlich karg, sehr authentisch. Auf den ersten zwei Seiten ist das gewöhnungsbedürftig, dann ist man drin in Marys sehr mündlicher Erzählung, dann hat man das Gefühl, neben ihr zu sitzen und ihr wirklich zuzuhören. Das hat Nell Leyshon wirklich glänzend geschafft, sich hineinzuversetzen in diese Fünfzehnjährige mit dem einfachen Gemüt und dem dennoch gewitzten Verstand, in dieses Mädchen, mit dem umgesprungen wird, als habe es keinen eigenen Willen – und das letztlich, darin liegt der Akt der Rebellion, darin liegt der Höhepunkt des Buchs, aufbegehrt. Dass Mary den Befreiungsschlag wagt, den man ihr als Leser wünscht, ist logisch und aus der Dramaturgie des Romans ersichtlich, es ist notwendig, es ist aber auch, wie in allen Fällen, in denen der Schwache sich gegen die Starken auflehnt, Marys Untergang.

Ich war ganz frisch auf Instagram, als dieses Buch gehyped wurde und Florian Valerius #teammary ins Leben gerufen hat. Wohl aus Trotz habe ich es erst so viel später gelesen, ich wollte meine Ruhe mit diesem Buch haben und nicht jedes Mal, wenn ich Social Media öffne, eine Meinung dazu hören. Jetzt hatte ich Mary für mich allein – und das Buch in kürzester Zeit inhaliert. Eine starke, herausragende Stimme, eine vermeintlich banale Geschichte, die so schüchtern an die Hintertür klopft und dann, kaum hat man geöffnet, mit umso mehr Präsenz eintritt, sich entfaltet, den Platz einnimmt im Kopf und im Herzen. Gutes Buch, Hype berechtigt.

Die Farbe von Milch von Nell Leyshon ist erschienen im Eisele Verlag (ISBN 978-3-96161-000-6, 208 Seiten, 18 Euro).

Bücherwurmloch

„Sterben Menschen, sterben ihre Nächsten für einen kurzen Moment mit ihnen“

„Im Dorf, zwischen seinen leeren Häusern, hängen die Tage wie weiße Laken, die man auf der Wäscheleine vergessen hat.“

Weil einfach nicht viel passiert im Dorf, weil eigentlich weniger und weniger passiert, seit die Menschen verschwinden, seit sie in der Nacht das Dorf verlassen. Pauli und Karine wissen nicht, wohin die anderen gegangen sind, auch nicht, wohin ihre Mutter gegangen ist. Sie wissen nur, dass niemand zurückkehrt. Und was können sie tun? Sie haben keine Ahnung, was hinter dem Wald liegt, was überhaupt außerhalb des Dorfs liegt, und nachzusehen, dazu fehlt ihnen der Mut. Außerdem besteht ja noch die Hoffnung, dass die Mutter sie nicht für immer im Stich gelassen hat, und dann sollten sie anwesend sein zuhause. Doch die Tage sind eintönig, Schule gibt es schon lange keine mehr, die Lebensmittel gehen zur Neige. Was wird geschehen, wenn sie zu Ende sind? Was wird passieren, wenn der Winter kommt? Pauli und Karine sammeln Holz, sie versuchen, sich vorzubereiten auf das Unausweichliche: auf den Schnee.

„Alles ist still, aber wenn man genau hinhört, machen die Flocken ein Geräusch, wenn sie auf dem Boden aufkommen. Es macht dann ganz leise Srrt, ja srrt. Und das ist das schönste Geräusch, das je ein Mensch vernommen hat, und deshalb schläft die ganze Welt besser, wenn es schneit.“

Warten auf Schnee, das Debüt von Karoline Menge, für das sie mit dem Ulla-von-Hahn-Preis ausgezeichnet wurde, ist ein sehr ruhiges Buch. Es verzichtet auf jegliche Effektheischerei, es erzählt bedächtig, als habe es alle Zeit der Welt. Als Leser stellt man sich darauf ein, fährt runter, entschleunigt. Und nimmt Platz in diesem namenlosen Dorf, an diesem sich auflösenden Ort, der exemplarisch für all die ruinierten Dörfer steht, in denen niemand mehr leben will, die so viel Vergangenheit haben und keine Zukunft. Ich-Erzählerin Pauli ist fast volljährig, ihre Ziehschwester Karine, die eines Tages von der Mutter aufgenommen wurde, ohne Fragen, ohne Erklärungen, ein paar Jahre jünger.

„Karine ist mir nach sieben Jahren noch immer fremd. Ich weiß nicht, was sie denkt oder fühlt, wenn sie mich mit ihren nackten grünen Augen ansieht.“

Die Beziehung zwischen den beiden ist erst durch die Not eng geworden, davor waren sie verfeindet. Damals, als es noch andere Kinder gab im Dorf, darunter Powel, den Jungen mit dem verschobenen Gesicht, den Pauli vielleicht geliebt und ganz sicher geküsst hat. Doch das spielt alles keine Rolle mehr, seit nur noch das Warten auf den Schnee zählt, ein Warten, dessen Ziel, der Winter, alles noch schwieriger machen wird, womöglich sogar beenden wird. Mit zarten, behutsamen Worten entspinnt Karoline Menge, die in Hildesheim studiert hat, eine intensive Geschichte von Leere und Verlust, ein Psychogramm der Einsamkeit, eine Analyse des Aufgebens. Ein schönes, leises und in seiner Stille umso eindringlicheres Buch.

Warten auf Schnee von Karoline Menge ist erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt (ISBN 9783627002589, 200 Seiten, 20 Euro).

Bücherwurmloch

Das Geilste an Weihnachten sind ja die Geschenke, Geschenke, Geschenke! Und zwar nicht nur die, die man bekommt, sondern auch die, die man gibt, nicht wahr. Da wir Lesefreunde sind, haben diese Geschenke gern mal vier Ecken und einen Rücken. Nur: Welches Leseabenteuer soll in diesem Jahr unterm Weihnachtsbaum liegen? Ich hab da was für euch. Einen (höchst subjektiven, aber äußerst effektiven) Leitfaden zur Beschenkung von Freunden, Verwandten, Bekannten. Wie immer ohne bibliografische Angaben, weil ich zu faul bin, die rauszusuchen, aber ihr könnt ja beim Buchhändler eures Vertrauens bestellen #buylocal, der weiß Bescheid. Oder ihr klickt auf den Link im Buchtitel, da steht es. Alle Bücher hab ich 2018 selbst gelesen, sie wurden also am eigenen Leib getestet. Viel Vergnügen beim Verschenken! Sich die Bücher einfach selbst zu wünschen, ist freilich auch ein heißer Tipp. Gut sind sie alle, sonst stünden sie nicht hier. 😉

Für Sehnsüchtige: Less von Andrew Sean Greer
Ein Schriftsteller, der sich auf Reisen begibt, um sich abzulenken von der nahenden Hochzeit seines jüngeren Lovers: Das ist die Story in diesem Buch, das mit dem diesjährigen Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde. Dahinter steckt aber viel mehr: eine Suche nach sich selbst, ein Kämpfen mit den inneren Dämonen, ein Auseinandersetzen mit dem letzten Lebensabschnitt, dem Altern. Es ist ergreifend und kitschig und sarkastisch und schön, es ist auch auf Deutsch erschienen, und ihr könnt es allen schenken, die noch an die Liebe glauben.

Für Workaholics: Super, und dir? von Kathrin Weßling
Marlene ist 31 Jahre alt, sie hat studiert, sie hat einen Freund, einen lieben, sie hat 532 Freunde auf Facebook und außerdem einen Trainee-Platz in einem bedeutsamen Unternehmen. Marlene hat alles richtig gemacht. Die Frage ist nur: Warum fühlt es sich dann nicht richtig an? Kathrin Weßling schreibt über eine, die gedacht hat, dass alles gut wird, wenn sie nur fleißig ist und motiviert und den Erwartungen gerecht wird, und die, als sie merkt, dass das nicht eintritt, nicht weiß, wohin mit dieser ganzen Enttäuschung. Ein rasantes, kluges, hochaktuelles Buch, das zu Recht viel Aufmerksamkeit bekommen hat – und genau das Richtige ist für alle, die glauben, ihr Job sei der Sinn ihres Lebens.

Für Grantler: Lob der schlechten Laune von Andrea Gerk
Andrea Gerk ist die Beste, wenn es darum geht, Wissen mit Unterhaltung zu vereinen, ihre Bücher sind hervorragendes Infotainment. Sie nimmt das Thema schlechte Laune gründlich durch, zeigt, was im Gehirn geschieht, wenn man missmutig ist, wie Unmut als Schutzschild funktioniert, geht auf die Kunst des Schimpfens ein, widmet sich grantigen Kommissaren und kreativen Cholerikern, außerdem dem Dienstleistungssektor und der Gastronomie, wo man schlechte Laune am besten beobachten kann. Sie bringt alle großen Dichter, Denker, Theaterschreiber, Autoren, Schauspieler zusammen, die eines eint: ihre berühmt gewordene schlechte Laune. Und widmet dem Grant der Österreicher ein eigenes Kapitel. Großartig!

Für Abenteurer: Die goldene Stadt von Sabrina Janesch
Dieses Buch erinnert an jene Abenteuerromane, die man als Kind geliebt hat, mit mutigen Männern und undurchdringbaren Dschungeln, an diesen Rauschzustand, den man dann manchmal hatte beim Lesen, als man noch jung und naiv war und sich so herrlich schnell für etwas begeistern konnte. Perfekt getroffen hat Sabrina Janesch den Ton, heiter und jovial, wie man sich die Stimmung dieser damaligen Entdecker vorstellt, die ein Leben voller Entbehrungen führten, ein Leben der Obsession, aber mit Optimismus und unerschütterlicher Zuversicht. Ein Schmöker, der all jene begeistern wird, die gern etwas Neues lernen beim Lesen.

Für Schüchterne: Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky
Wenn Oma Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand im Dorf, so heißt es, und deswegen sind die Dorfbewohner dann nervös. Zu Recht, denn die Legende ist tatsächlich wahr. Der Hype, die überschwänglichen Lobeshymnen, die begeisterten Kritiken zu diesem Roman sind berechtigt. Dies ist ein melodisch komponiertes Buch mit einer großen Portion Verrücktheit. Es ist bittersüß und zart, es hat liebenswerte, kauzige Charaktere, Handlung hat es nicht viel, aber eine meisterhafte, verspielte Sprache, die durchgängig bis zum Schluss den Ton hält. Am Ende ergibt alles einen Sinn, und das ist vielleicht das Beste, was man über einen Roman sagen kann. Schenkt es allen, die mehr Bewegung in ihrem Leben bräuchten.

Für Extrovertierte: Geschehnisse während der Weltmeisterschaft von Helmut Krausser
Helmut Krausser ist eine geile Sau – mit seinem neuen Werk beweist er es einmal mehr. Endlich mal was Neues, endlich Fantasie und Utopie und Gestörtheit! Es geht um eine Sexweltmeisterschaft im Jahr 2028, um Leon, den Sex-Superstar, der ein Problem hat: Er ist in seine Teampartnerin Sally verliebt. Sie, mit der er täglich mehrmals vögelt, ist unerreichbar für ihn. Das ist absurd, unterhaltsam, großartig. Sex als satirisches Mittel für Gesellschaftskritik zu verwenden, ist freilich nicht neu und trotzdem genial. Helmut Krausser schreibt über das Zusammenspiel und die Getrenntheit von Sex und Liebe, über eine Obsession, die außer Kontrolle gerät, über die Politik der Zukunft und die Rückkehr zu intoleranten Weltanschauungen. Das richtige Buch für alle, die genug Mut haben.

Für Menschen, die keine Menschen mögen: Alleine ist man weniger zusammen von Paul Bokowski
Ich stelle mir vor, dass Paul Bokowski eines dieser Kinder war, die unfreiwillig komisch sind. Dass er damals schon eine nerdige Brille trug, sich dumme Polenwitze anhören musste und irgendwann aus der Not eine Tugend machte, indem er sein Leben der Satire verschrieb. Ich stelle mir außerdem vor, dass Paul Bokowski im alltäglichen Umgang ein eher grantiges Kerlchen mit einem feinen Sinn für Humor ist, das nur wenig von dem, was die Welt bietet, lustig findet. Nichts davon weiß ich, das sind nur Vermutungen. Sicher ist aber, dass Paul Bokowskis Witz intelligent ist, herrlich böse seine Darstellungsweise und wunderbar raffiniert die vielen kleinen fiesen Pointen. Das werden alle mögen, deren Humor genauso ist.

Für Politikverdrossene: All die Nacht über uns von Gerhard Jäger
Unerwartet und sehr traurig war kürzlich die Nachricht, dass der talentierte und ungemein sympathische Schriftsteller Gerhard Jäger verstorben ist. In seinem neuen Roman, der für den Österreichischen Buchpreis nominiert war, stellt er einen namenlosen Soldaten auf einen Wachposten an der Grenze und lässt ihn durch eine Nacht voller Angst, Unruhe, Erinnerungen und Schmerz gehen. Wie gehen wir um mit den Menschen, die unsere Hilfe brauchen? Lehrt unsere Geschichte uns nicht eigentlich, dass jeder plötzlich zum Flüchtenden werden kann? Und: Wie viel Leid kann ein einzelner Mensch ertragen? Dieser Roman enthält viele absolut treffende Sätze und ist das richtige Geschenk für alle, die nicht zu feig zum Nachdenken sind. Der Nachlass eines klugen Mannes, der leider viel zu früh gegangen ist.

Für egal wen: Auster und Klinge von Lilian Loke
Dieses Buch ist die sichere Bank, das könnt ihr eurem Cousin genauso schenken wie eurer Schwiegermutter. Es ist unterhaltsam, aber niveauvoll, es hat eine originelle, spannende Story, die Männer wie Frauen, Jüngere wie Ältere anspricht. A g’mahde Wiesn, wie wir in Österreich sagen. Es ist ebenso Gaunerkomödie wie Kunstsatire. Lilian Loke erzählt darin von zwei Männern, zusammengebracht vom Zufall, der eine ist ein Dieb und ein Koch, der andere ein Künstler. Der eine braucht Geld, der andere hat es – und will lernen, wie man einen Einbruch begeht. Man kann dieses Buch mit der Absicht lesen, sich unterhalten zu lassen, und wird dennoch Gedanken begegnen, die einen aufwühlen. Die bestmögliche Kombination also. Dieser Roman hat richtig Drive, eine ganz eigene Dynamik, er steht niemals still. Das ist rasant, witzig, gut gelungen und das perfekte Lesegeschenk.

Für Eltern: Man bekommt ja so viel zurück von Marlene Hellene
Auf Twitter ist Marlene Hellene ein kleiner Star, und zwar zu Recht. Weil sie witzig ist und dieses Medium, bei dem man am Punkt sein muss mit seinem Humor, perfekt beherrscht. Sie kann aber auch dann gut schreiben, wenn sie mehr Platz hat: Das hat sie in ihrem ersten Buch bewiesen, das ihr allen Eltern unter den Weihnachtsbaum legen solltet. Weil es herrlich amüsant ist, weil Eltern sich darin wiedererkennen werden, weil von kranken Kindern über Urlaub mit Kindern bis hin zum Kindergeburtstag, dem Vorhof zur Hölle, alles vorkommt, was einen halt so beschäftigt, wenn man Nachwuchs hat. Dabei ist dieses Buch aber weit entfernt von all den dämlichen Besserwisser-Ratgebern, Marlene Hellene weiß es nämlich auch nicht besser. Deshalb ist sie eine von uns. Und deshalb lieben wir sie und ihr Buch.

Für Leute mit Fernweh: Farben der Nacht von Davit Gabunia
Surab bleibt nachts wach, er steht auf dem Balkon, er hat ein Kamera in der Hand, und zu beobachten gibt es allerhand: Ein junger Mann, der gegenüber wohnt, bekommt regelmäßig Besuch. Nicht nur, dass dieser Besuch ebenfalls männlich ist, nein, es handelt sich dabei auch noch um einen bekannten Politiker. Das ist heiß im Georgien des Jahres 2012, in dem der Milliardär Iwanischwili an die Macht kommt, das ist gefährlich, und vielleicht ist es kein Wunder, dass es – kaum brechen die Unruhen los, kaum entgleitet Surabs Frau Tina ihm immer mehr – plötzlich einen Toten gibt. Ein fiebriges, ruheloses, spannendes Buch, das in Georgien spielt und einem Flächenbrand gleicht. Schenkt es allen, die in fremde Länder reisen möchten – wenigstens im Kopf.

Das Buch für ALLE: Der Trafikant von Robert Seethaler
Falls ihr jemanden kennt, der diesen Roman noch nicht gelesen hat, seid ihr fast schon verpflichtet, ihn ihm zu schenken. Robert Seethaler kann etwas, das nicht viele können: Er erzählt mit einer beneidenswerten Leichtigkeit. So easy hört sich das an, so fließend, dass man gar nicht merkt, dass es da um die großen, um die größten Themen überhaupt geht, um die Liebe, um den Tod, um den beginnenden Holocaust. Alles kann er erzählen, alles, ohne dass es schwer zu sein scheint. So schön ist dieses Buch und so traurig. Es greift einem direkt ins Herz, man muss es einfach lieben, und wenn man sich einlässt darauf, dann hat man am Ende unweigerlich Tränen in den Augen. Dies ist eines jener Bücher, die wirklich etwas zu sagen haben, die etwas bewirken können. Verschenkt es hundertfach!