Bücherwurmloch

„You’re on Planet Earth until you’re dead. Everything between now and then is survival“
Ich werde jetzt nicht so tun, als könnte ich den Inhalt dieses Buchs wiedergeben. Niemand kann das, denn dieses Buch ist crazy. Es hat keine Storyline, keine Kohärenz und die Handlung? Good  God. Jarett Kobek gab schon in I hate the internetallzu gern zu, dass er gar nicht schreiben kann. Das hat sich nicht geändert. Zwischen dem Überraschungsbestseller, den auch ich großartig fand, weil er so herrlich böse, entlarvend und witzig war, und diesem neuen „Roman“ hat er ein Buch geschrieben, das niemand gekauft hat – auch ich habe nie davon gehört. Und weil er selbstironisch ist, macht Jarett Kobek sich darüber lustig. Genau wie über die Tatsache, dass er sexuell belästigt, im Internet beleidigt und von so vielen Menschen öffentlich verspottet wurde.

Dazwischen schreibt er über Donald Trump, die Intelligenzija, die Tatsache, dass alte weiße Männer mit dem Hype um #metoo Milliarden verdient haben, und geheime Kriege, die von den Medien verschwiegen werden. Verwoben wird das alles mit der Geschichte von Celia, der Königin eines magischen Feenlandes, in dem nur Frauen leben. Celia liebt es, mit Männern zu schlafen, was schwierig ist, weil es keine Männer in ihrem Land geben darf, die werden alle abgeschlachtet. Ab und an reist Celia in die „echte“ Welt, meistens aber nur, um ihre Tochter Fern zu suchen – also alle paar Jahrhunderte. Dadurch hat Jarett Kobek eine Figur, die die Gepflogenheiten dieser Gesellschaft nicht kennt und durch deren Augen er ausgezeichnet zeigen kann, wie absurd alles ist.

Und absurd, ja, ist auch dieses gesamte Ding von einem Buch. Verstehen kann man es nicht, einen größeren Zusammenhang braucht man nicht einmal zu suchen. Man kann es einfach häppchenweise konsumieren, sich drauf einlassen, sich amüsieren – sofern einem das Lachen nicht im Hals stecken bleibt. Jarett Kobek ist auf unangenehme und schockierende Weise ehrlich. Er bringt das, was niemand ausspricht, auf den Punkt – und reitet auch noch drauf herum. Freilich ist das zum Teil sehr anstrengend, und ich finde Only Americans burn in hell bei Weitem nicht so gelungen wie I hate the internet. Trotzdem hatte ich beim Lesen augenöffnende Momente – und gelacht hab ich auch. Ein bisschen.

Bücherwurmloch

Seit 2009 gibt es diesen Literaturblog, und in diesen 10 Jahren habe ich exakt 1000 Beiträge geschrieben. Unglaublich, aber wahr – und ein Grund zum Feiern! Deswegen könnt ihr ausnahmsweise mal was gewinnen. Einmal in zehn Jahren ist das okay, denke ich. Tausend Dank an die Verlage, die mir zehn Titel zum Verlosen zur Verfügung gestellt haben – darunter aktuelle Romane aus dem Frühjahrsprogramm, aber auch Lieblingsbücher von mir. Aus dieser schönen literarischen Mischung könnt ihr 1 Buch pro Person gewinnen, und die Gewinnspielmechanik funktioniert so:

Such hier in den 1000 Beiträgen (die Suchfunktion ist in der Leiste rechts) nach deinem Lieblingsbuch.

a) Ich hab es gelesen? Dann poste das unter #10jahrebücherwurmloch oder #1000lieblingsbücher auf Instagram und tagg mich, damit ich es finde.

b) Ich hab es nicht gelesen? Dann poste das auch und fordere mich auf, mich deinem Lieblingsbuch zu widmen. Benutz  #10jahrebücherwurmloch oder #1000lieblingsbücher, tagg mich und schreib kurz dazu, warum ich es lesen sollte. Die drei Bücher mit der witzigsten, sinnvollsten oder schrägsten Erklärung lese ich dann tatsächlich.

Für das Gewinnspiel ist es nicht relevant, ob ich dein Lieblingsbuch kenne oder nicht – alle, die unter dem Hashtag #10jahrebücherwurmloch oder #1000lieblingsbücher einen Beitrag posten, hüpfen in den Lostopf und haben die Chance auf eins von zehn Büchern. Diese werden nach dem Zufallsprinzip verlost (ihr dürft natürlich einen Wunsch äußern oder anmerken, welches ihr schon kennt). Der Einfachheit halber findet das Gewinnspiel auf Instagram statt, weil ich es dort am besten überblicken kann (und sich ohnehin der meiste traffic dorthin verlagert hat).

Geil, oder? Find ich auch. Und jetzt macht mit, ihr süßen Nasen! Teilen dürft ihr es natürlich auch gern. Ich bin sehr gespannt auf eure Lieblingsbücher – und auf die Trefferquote bei 1000 Beiträgen (ja, sorry, ich kann es nicht oft genug sagen).

Und diese 10 Titel gibt es zu gewinnen:
– Nell Leyshon: Der Wald (Eisele Verlag)
– Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall (Diogenes)
– James Baldwin: Von dieser Welt (dtv)
– Jennifer Clement: Gun Love (Suhrkamp)
– Kathleen Collins: Nur einmal (Kampa)
– Ada Dorian: Die Zähmung der Tiere (Ullstein)
– John von Düffel: Wassererzählungen (Dumont)
– Radka Denemarková: Freude (Hoffmann & Campe)
– Demian Lienhard: Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat (Frankfurter Verlagsanstalt)
– David Schalko: Schwere Knochen (Kiepenheuer & Witsch)

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„Es wird immer Menschen geben, die man berühren kann und die einen auch berühren“
Yrsa Daley-Ward ist noch am Leben. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, was ihr alles passiert ist, was für eine Kindheit sie hatte, wie oft sie nah dran war, einfach aufzugeben – abzurutschen, nicht mehr weiterzumachen. Yrsa Daley-Ward ist schön. Sie ist Model, Autorin und Dichterin, sie hat eine Stimme. Und sie erzählt: von der Mutter, die sie nicht großgezogen hat, die es vielleicht wollte, aber nicht konnte, die sie deshalb zu den Großeltern gegeben hat, die viel zu streng und viel zu lieblos waren. Von ihrem Bruder, mit dem sie später kaum spricht, obwohl sie einander lieben, der abstürzt wie Yrsa selbst. Von dem Wunsch nach mehr, nach Geld, nach Ruhm, nach der eigenen Bedeutung, die kaum vorhanden zu scheint, begraben unter Perspektivenlosigkeit und Armut. Von Verlust und Tod und Drogen und Liebe, von Alkohol und Sehnsucht.

„Diese tickende Bombe von einem Körper. Man versucht, sein Leben zu leben, arbeitet für die Kinder, hetzt sich ab, schwitzt, vögelt, arbeitet und arbeitet, will geliebt werden, kriegt Kinder und arbeitet und lernt und schläft und spart, und am Ende muss man trotzdem gehen.“

Dies ist ein merkwürdiges, denkwürdiges Buch, ganz anders, als ich es erwartet habe. An manchen Stellen ist es poetisch, sogar magisch, an anderen dumpf und nüchtern. Yrsa Daley-Ward hat versucht, ihre eigene Lebensgeschichte in eine lyrisch anmutende Form zu gießen, das ist nicht zur Gänze gelungen, aber doch in großen Stücken. Sie berichtet offen und ehrlich, auch von Dingen, bei denen man sich beinahe krümmt, wenn man sie liest – vor Mitgefühl, vor Scham. Letzten Endes ist dies ein Überlebensbericht. Denn dass Yrsa noch am Leben ist, das ist erstaunlich.

„Du kannst nicht weglaufen vor dem, was du bist. Ob du willst. Oder nicht. Was du bist, steckt tief in dir, ist tief in dich eingedrungen. Du und das, was du bist, ihr habt viele Namen. Wo auch immer du dich befindest, alles, was passiert ist, holt dich ein.“

Alles, was passiert ist von Yrsa Daley-Ward ist erschienen bei Aufbau (ISBN 978-3-351-05067-2, 240 Seiten, 20 Euro).

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„Es ist eigenartig, jemanden zu lieben, der sich dabei so ungeliebt fühlt“

„Ich glaube an die Kraft handgeschriebener Texte. Schreiben ist Zeichnen, das hat Paul Klee gesagt, oder? Und es frischt das Gedächtnis auf. Wer schreibt, hinterlässt Spuren.“

Also schreiben sie, allen voran Boris: Ihm wurde von seinem Therapeuten dazu geraten. Per Brief nimmt er Kontakt mit seiner Familie auf, mit der er gebrochen hat. Er befindet sich in einem Scheidungskrieg, seine beiden halbwüchsigen Söhne dürfen oder wollen ihn nicht sehen. Er hegt unglaublich viel Groll, und er lässt ihn in seine Briefe fließen. Die Geschwister und Eltern antworten ihm, sie schreiben auch einander und geben dabei Einblick in das, was passiert ist – und wie sie jeweils unterschiedlich damit umgehen.

Um wirklich in die Tiefe gehen zu können, dazu ist Gérard Salems Buch ein wenig zu dünn. Er lässt einige Familienmitglieder zu Wort kommen, auflösen können sie selbstverständlich nichts – wie auch? Sie schreiben sich aus der Ferne, sie kratzen an den Krusten, die sich in den vielen Jahren über die Verletzungen gelegt haben, sie haben alle ihren Standpunkt, von dem sie nicht abweichen. Der Therapeut von Boris steht in Verbindung mit Boris’ Schwester und gibt ihr Anweisungen, wie sie sich zu verhalten haben – das wirkt auf mich reichlich bemüht und künstlich. Was eigentlich eine gute Idee ist, nämlich in Briefform den familiären Geheimnissen auf die Spur zu kommen, verliert sich leider in Schimpftiraden, aufgewärmten Vorwürfen und seltsam uninteressanten Alltagsbeobachtungen. Was ist das für eine Familie, um die es hier geht? Eine ganz normale Familie. Mit ganz normalen Problemen, Eifersüchteleien, Entzweiungen. Und das mag zwar einerseits realistisch sein, ist aber in einem literarischen Werk letztlich auch heillos banal. Ein Buch, das man schnell gelesen hat und bei dem man mit Sicherheit das eine oder andere Mal schmunzeln muss, das aber keinen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst von Gérard Salem ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-8375-2, 206 Seiten, 20 Euro).

 

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„Jeder weiß, dass er sterben muss und vergisst es wieder und vertrödelt seine Zeit auf der Erde“
Ein Buch über den Holocaust, ein Buch über Auschwitz. Ein Buch über Gräuel, so gewaltig, dass man sie sich nicht vorstellen kann, dass das tatsächlich geschehen ist, weil es den Verstand übersteigt und das Herz sowieso. „In diesem Buch sind Taten beschrieben, zu denen ein Mensch nicht fähig sein sollte“, sagt Margarete Mitscherlich im Nachwort, „der Roman beschreibt Menschen, die mit makabrem Witz, Humor, Zynismus, Verdrängung, zwanghaftem Erzählen-Müssen und nicht abzustellenden Assoziationen – Rampe, Gas, Schornstein, Stacheldraht – versuchen, das Leben nach Auschwitz zu meistern.“ Das trifft es sehr gut, und das IST auch sehr gut. Monika Held hat einen Weg gefunden, von einem Leben zu erzählen, das nur noch ein halbes ist, ein Viertel vielleicht, einem Leben, das sein Ende hätte finden sollen, aber nicht tat. Wie kann man, wenn man dem größtmöglichen Elend dieser Welt in die Seele geschaut hat, noch einmal lieben? Wie kann man glauben, wie kann man lachen?

„Er wollte ein glaubwürdiger Zeuge sein, dafür war er am Leben geblieben.“

Heiner wird nach Auschwitz gebracht, weil er Kommunist ist, und als er später aussagt beim Prozess gegen die Nazis, trifft er auf Lena.

„Liebe kann man nicht erklären.
Versuch es.
Liebe, sagte Lena, ist wie Luft. Du siehst sie nicht, aber du atmest sie ein. Du kannst sie greifen und hast nichts in der Hand.“

Sie verlieben sich, und Lena zweifelt. Nicht an der Liebe zweifelt sie, sondern an ihrer eigenen Fähigkeit, mit Heiner zu leben. Weil er zutiefst zerstört ist, von innen nach außen gekehrt, eine Erinnerung von einem Mann. „Schau, Lena“, sagt er wieder und wieder und wieder, und dann führt er sie in Dunkelheiten, aus denen sie nicht entkommt. Er kann nicht arbeiten, nicht schlafen, er isst mit einer Getriebenheit, die erbarmt, er wird und soll und darf nicht schweigen über das, was er gesehen und erlebt hat. Und doch. Wie hört man zu, zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang? Wie erträgt man das Dunkle, den Schmerz, das Grauen?

„Heiner, flüsterte Lena, wo in euch ist das Archiv, in dem ihr die Erinnerungen aufbewahrt? Ihr verändert die Geschichte, ihr schreibt sie um, ihr erzählt sie jedes Mal anders, merkt ihr das? Wenn ich einen Text, der mich zum Weinen bringt, zehn mal lese, kommen keine Tränen mehr – ist das der Grund, warum ihr die Geschichten verändert? Macht ihr es nicht für die anderen, sondern für euch? Wollt ihr eure Trauer retten?“

Ich bin lange um dieses Buch herumgeschlichen, denn ich wusste – natürlich –, dass es mir wehtun würde. Ja, ich habe geweint. Ja, es gab Momente, in denen ich dachte, ich müsste mich gleich übergeben. Ich habe viel gelesen über den Holocaust, ich werde es auch weiterhin tun, eine Abstumpfung stellt sich nicht ein. Zum Glück, denn das ist das Letzte, was passieren darf – dass wir abstumpfen gegenüber der Vergangenheit, die uns immer noch in den Knochen sitzt.

„Als wäre die Strecke eine Einbahnstraße, fuhr immer nur Lena nach Wien, nie Heiner nach Frankfurt. Mein Schatz, schrieb er, in Dein Land zu kommen und durch Deine Stadt zu laufen, ist wie Geisterbahn fahren. Ich weiß nie, aus welcher Ecke mich der Teufel anspringt.“

Mit vierzehn war ich in Mauthausen, ich bin die Todesstiege hinuntergegangen und wieder hinauf, ich habe Baracken gesehen und Bilder und Stofffetzen und Lampen mit Menschenhaut. Ich war danach nicht mehr dieselbe, und ich werde es nie mehr sein. Und das, obwohl ich nur Erinnerungen betrachtet habe, nur Spuren. Wie muss es gewesen sein, dort zu (über)leben? Zuzusehen, wie Menschen erschlagen, gefoltert, verhöhnt und zerprügelt werden? Wie kann man noch Mensch sein danach, wie kann man noch zur selben Spezies gehören wie diese Ungeheuer? Wie kann man noch lieben – und Liebe annehmen?

„Liebster Schatz, schrieb Lena, wir haben zwei Karten für die Geisterbahn gelöst, vergiss das nicht.
Mein Schatz, schrieb Heiner, die Frage ist dumm, ich frage trotzdem: Wie kannst Du einen wie mich lieben?
Lena ging mit der Sprache strenger um als Heiner. Ich liebe nicht einen wie Dich, ich liebe Dich.“

Ich weiß es nicht. Ich werde nicht sagen, dass Liebe stärker ist. Und Monika Held sagt das auch nicht. Sie zeigt, wie schwer es ist, unmöglich fast. Sie zeigt, wie weh es tut, immer noch, jeden Tag, durch all die Jahre. Und trotzdem.

„Das Paar war in der Nacht von Stille und Frieden umgeben. Wenn man Liebe sehen könnte, läge sie in diesem Bett.“

Es geht um die absolute Entwürdigung. Um das Ende. Und gleichzeitig um die absolute Liebe. Um einen neuen Anfang. Es geht um den Tod von Millionen Menschen. Und um die Pflicht von uns allen, wider das Vergessen zu kämpfen.

„Immer dieses verfluchte Auf Wiedersehen, sagte Heiner. Wo denn, mein Freund, in welchem Land, an welchem Grab?“

Der Schrecken verliert sich vor Ort von Monika Held ist erschienen bei Eichborn/Bastei Lübbe (ISBN 978-3-404-17626-7, 271 Seiten, als Taschenbuch 11 Euro).

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„Ich glaubte nicht mehr daran, dass es noch weitere Veränderungen geben würde. Dann fand ich das Kind“
Skalde lebt mit ihrer Mutter Edith in einem Haus, nur die beiden, weitgehend abgeschnitten von der Gemeinschaft. Und eine seltsame Gemeinschaft ist das, eine, die so sehr für sich sein will, dass sie vor Jahren beschlossen hat, die Brücke – die der einzige Weg war, wie man den Ort erreichen konnte – zu zerstören. Niemand kann hinein. Niemand kann hinaus. Edith war die Letzte, die hierherkam, und man will sie heute noch nicht hierhaben. Skalde ist ein einsames Kind und später eine verschrobene Frau, die beiden haben sich eingerichtet in ihrem Zusammenleben, gehen einander großteils aus dem Weg. Edith trägt jahraus, jahrein einen viel zu warmen Kaninchenfellmantel, liegt tagelang in der Badewanne und scheint nie zu essen. Skalde kümmert sich um den Garten und versucht, Vorräte anzulegen – denn die Nahrungsmittel werden immer knapper. Und dann taucht das Kind auf: Die rothaarige Meisis scheint aus dem Nirgendwo zu kommen. Skalde nimmt sie auf, obwohl sie sich damit jede Menge Ärger einhandelt.

„Es kommt mir vor, als wären die Mauern des Hauses aus Papier, die Wände viel zu fragil, als ließe es sich nur in wenigen Handgriffen zusammenfalten, niederbrennen, in Schutt und Asche legen.“

Helene Bukowski hat ein Buch geschrieben über die Grausamkeit und die Dummheit der Menschen. Das sieht vielleicht auf den ersten Blick nicht so aus, es geht vermeintlich um Mutter und Tochter, um Beziehungen und Familie, doch in Wahrheit hat sie einen Blick geworfen auf die Seelenlosigkeit derer, die andere ausgrenzen, verachten, wegschicken wollen und sie, wenn das mit dem Wegschicken nicht funktioniert, wenn das nicht genügt, töten. Das Fremde. Das Andere. Jemand, der in Not ist, jemand, der Hilfe braucht, kann sicher sein, dass er sie nicht bekommen wird. In diesem Buch nicht, in der Realität nicht. Das ist ebenso wahr wie trostlos, und beides trifft auch auf diesen Roman zu. Es wird immer heißer darin, die Lebensmittel gehen zur Neige – eine Dystopie? Natürlich nicht. Auch das ist Wirklichkeit an so vielen Orten dieser Welt. Der Gedanke an Flucht steht im Raum, er ist in seiner Naivität süß: Wir werden nicht fliehen können. Wir werden nirgends Zuflucht finden. Sie, die niemanden aufnehmen, werden auch andernorts nicht aufgenommen werden. Wir Menschen werden niemals Menschlichkeit erlernen, und deshalb bleibt uns nur der kollektive Untergang. Das hat Helene Bukowski nicht geschrieben, das hat sie vielleicht nicht einmal gemeint – und doch ist es das unausgesprochene Ende ihres Debüts, das unausgesprochene Ende von uns allen. Milchzähne ist ein gutes Buch, irgendwie zäh, ein wenig anstrengend, klar und unverklärt, genau wie das, worum es geht: Angst.

Milchzähne von Helene Bukowski ist erschienen bei Blumenbar (ISBN 978-3-351-05068-9, 256 Seiten, 20 Euro).

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„Kann man jemanden vermissen, der einem fünfzig Jahre lang entfallen war?“

„Vielleicht ist das eine meiner hervorstechendsten Eigenschaften, sagt er sich auf dem Weg zur Garage und muss grinsen: übersehen zu werden.“

Martin Schmidt ist Tierarzt in Bayern, seine Frau ist verstorben, seine Tochter lebt in den USA. Er hat es gut, eigentlich, er hat sich etabliert und eingerichtet, alles ist fein. Und darüber kann er froh sein, bedenkt man seine Geschichte: Als er achtzehn war und noch in der DDR lebte, wurden seine Eltern von der Stasi verhaftet. Sie hatten für den BND spioniert und waren verraten worden. Der Vater ist mittlerweile verstorben, die Mutter ist alt, Martin hat immer noch Kontakt zu ihr – doch ihrem Geheimnis ist er nie so ganz auf die Schliche gekommen. Bis jetzt. Denn als Angelika, in die er damals mit achtzehn verliebt war, wieder in sein Leben tritt, beschließt Martin, dass es Zeit ist, herauszufinden, was damals tatsächlich geschehen ist.

Klingt spannend? Ist es aber nicht. Denn Die Unscheinbaren ist leider so, wie Titel, Cover und das Eingangszitat mit dem „übersehen zu werden“ vermuten lassen: lahm. Ich könnte nicht einmal sagen, dass wenig passiert, das wäre nicht wahr, die Ereignisse überschlagen sich aber auch nicht gerade. Martin als Protagonist ist weder sympathisch noch unsympathisch, das Wiedersehen mit der alten Jugendliebe verläuft erstaunlich unspektakulär, die Mutter ist eine unzugängliche, grauenhafte Person. Diese Spurensuche, auf die Dirk Brauns seinen Leser schickt, ist aufgebaut, wie sie es sein sollte: Man bekommt Hinweise, am Ende gibt es eine Auflösung. Trotzdem ist das nicht im Geringsten interessant. Dabei hat der Autor die wahre Lebensgeschichte seines eigenen Vaters verarbeitet, dessen Eltern tatsächlich verhaftet wurden wie im Buch. Ich rätsle, warum das nicht für mehr Grip und mehr Emotion gesorgt hat, dass es eine persönliche Parallele gibt. Was mich am meisten gestört hat? Das Pathos! Denn wenn jemand immer Rufzeichen setzt, hat man das Gefühl, ständig angeschrien zu werden! Ganz normale Sätze, die ständig so enden! Das verstehe ich nicht! Das macht mich ganz verrückt! Ich möchte das nicht dauernd lesen müssen! Und mehr Drive gibt es dem Roman auch nicht! Tut mir leid, netter Versuch, hat aber nicht geholfen!

Die Unscheinbaren von Dirk Brauns ist erschienen bei Galiani (ISBN 978-3-86971-188-1, 336 Seiten, 20 Euro).

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„Es ist nichts, ich habe nur das Gefühl, in eine gewaltige Leere zu fallen und dass diese Leere in mir drin ist“

„Ich wusste nicht, was ich wollte, wollte es dafür aber umso energischer.“

Das beschreibt den jungen Studenten ganz gut, der fasziniert ist von den Vögeln, die tot vom Himmel fallen. Es geschieht nahe seinem Heimatort, und so bricht er auf von Paris, wo er ein ereignisloses Leben führt, um mehr über das geheimnisvolle Vogelsterben herauszufinden. Damit er sich an der Küste entlangbewegen kann, reist er auf einem Schiff – und lernt dort die schöne Clarisse kennen. Die beiden kommen sich näher, irgendwie, zumindest kurz – doch es gibt eben Geheimnisse, die sich nicht lösen lassen.

Und eigentlich ist von Anfang an klar, dass wir das alles nicht erfahren werden, nichts davon, es gibt diese Bücher, bei denen weiß man schon am Beginn, dass man auch am Ende nichts wissen wird. Wenn die Reise trotzdem eine erkenntnisreiche ist, wenn die Sprache vielleicht herausragend ist oder die Bilder tragen, dann ist das in Ordnung. Wenn alles jedoch blass bleibt und seltsam inhaltslos, nun ja – dann nicht. Die Sache ist: Warum die Vögel sterben lässt sich gut lesen, man liest es so dahin, und schon kurze Zeit später hat man vergessen, was man da gelesen hat. Es hat mich verwundert, wie ein Protagonist so wenig Kern haben kann, so wenig Persönlichkeit. Er ist durchaus sympathisch, dabei aber unglaublich langweilig. Wie leider, Verzeihung, das gesamte Buch. Das Eingangszitat fasst es perfekt zusammen: eine große Leere, innen drin.

Warum die Vögel sterben von Victor Pouchet ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN  978-3-8270-1377-4, 192 Seiten, 22 Euro).

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„Wir sind wie niemand sonst, wir haben uns selbst erschaffen, wir sind einander unentbehrlich, unvergleichlich und unangepasst, die Einzigen unserer Art“

Was für ein wildes, wildes Buch! Jocelyne Saucier – die mich bereits mit Ein Leben mehr begeistert hat – hat einmal mehr gezeigt, was für originelle Geschichten sie erfindet. Ah, so wundervoll! Der Roman spielt in einer halb verfallenen Minenstadt, doch das allein ist nicht das Besondere: Die Familie im Buch hat 21 Kinder. Ganz recht – einundzwanzig. Es ist ein Getobe und Gerenne, Geschubse, Geprügle, Gestreite, in dem die Geschwister aufwachsen – eine ganz einzigartige Kindheit. Kann man sich vorstellen, mit so vielen Menschen zusammenzuleben? Der Vater ist kaum anwesend, er sucht nach Erz und beschäftigt sich mehr mit Steinen als mit seinen Kindern, die Mutter kocht ununterbrochen, den ganzen Tag, sie bringt Mahlzeiten auf den Tisch, um alle zu versorgen.

„Das Haus ist im selben Zustand wie die Familie. Verfallen, versehrt, aber zäh, es ist das einzige Gebäude in Norco, das noch steht.“

Nachts wandert sie durch alle Zimmer und betrachtet ihre Kinder, um sicherzugehen, dass keines fehlt. Viele Jahre später kommen die Geschwister wieder zusammen – doch schnell wird klar: Etwas stimmt nicht. Es gibt ein Geheimnis.

„Es ist, als würde ich Schatten hinterherjagen. Ich laufe von einem zum anderen, renne hin und her, suche nach irgendwas, aber die Schatten huschen davon, die Grüppchen lösen sich auf, und plötzlich hängt das Gespräch in der Luft, und ich stehe allein da, mein Herz in den Händen.“

Das ist der Auftakt, und von hier an entrollt Jocelyne Saucier diese höchst ungewöhnliche Story über eine Familie, in der die Kinder schon mit sieben Jahren lernen, wie man mit Dynamit umgeht, in der jeder schläft, wo er gerade Platz hat, in der es ein Zwillingspaar gibt und viele unerfüllte Träume. Nicht jedes der 21 Kinder kann Jocelyne Saucier detailliert beschreiben, das liegt in der Natur der Sache, allein die Namen würden wohl eine halbe Seite füllen, und doch bekommt man ein gutes Gefühl für ihre Charaktere:

„Er ist zäh, unser Geronimo, er würde selbst in einem Meer von Tränen nicht ertrinken.“

„So betrat ich die Welt meines Bruders Tim, eine merkwürdige Welt voller Kinderlachen und schmerzverzerrten Gesichtern, eine Welt, durch die er sich mühelos bewegt, geübt im Umgang mit dem kleinen Glück eines einfachen Lebens und den Unebenheiten einer gebrochenen Seele.“

Man rauscht nur so durch die Seiten, um zu ergründen, was diese große Familie derart erschüttert hat. Und Jocelyne Saucier schreibt herrlich rau, ungezähmt und sorglos, authentisch und glaubhaft. Ich mag alles, was sie macht, weil es erfrischend anders ist. Und gut.

„Die Familie ist eine Begegnung mit dem, was man am tiefsten in sich vergraben hat.“

Niemals ohne sie von Jocelyne Saucier ist erschienen bei Suhrkamp (ISBN 978-3-458-17800-2, 225 Seiten, 20 Euro).

 

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„Für manche is’ das Leben wie eine Hühnerleiter. Kurz und beschissen“
„Du, dein Papa und i. Wir hab’n unersättliche Herz’n. Die hören von selber nit zum Schlagen auf“, sagt Urgroßvater Tat’ka zu Illy – und erklärt dadurch sein hohes Alter. Überhaupt erklärt er ihr viel, aber nicht auf eine belehrende, sondern auf eine großherzige Weise und indem er sie ihr vorlebt. Er ist ein großer, starker, sturer Mann, bekannt im Dorf als der alte Fassbinder, der mal beim Kartenspiel das Haus gewonnen hat, in dem er wohnt. Freundlich ist er nicht immer, nicht zu allen Leuten – außer zu Illy. Und manchmal gelingt das, dass eine Generation an eine andere weitergibt, was sie gelernt und erfahren hat, manchmal entsteht eine Verbindung, die stärker ist als alle anderen. Immer wieder im Mai stoßen wir zu Illy und ihrem Urgroßvater und bekommen erzählt, was in der Zwischenzeit geschehen ist – bis Illy erwachsen ist und sich lösen kann von allem, was sie gefangen hält im Innen und im Außen.

Fünf Tage im Mai geht so ans Herz! Es war mein Überraschungshighlight in diesem Frühling (und ich hab es daher auch für das Bücher-Battle für die Kategorie Österreich ausgewählt). Es hat mich beschäftigt, berührt und tatsächlich, am Ende, zum Weinen gebracht. Weil ich es mag, wenn Geschichten herzerwärmend sind, ohne dabei kitschig zu werden – und das ist der Österreicherin Elisabeth R. Hager ausgezeichnet gelungen. Überhaupt, das Österreichische, das ich jetzt schon mehrfach zur Sprache gebracht hab: Es macht diesen Roman besonders. Er ist melancholisch und witzig, er ist Tirolerisch, voller Dialekt und jenem Flair, das in den Bergen herrscht. Es ist einfach etwas anderes, ein solches Buch zu lesen, es geht auf direkterem Weg unter die Haut, es muss kaum Hürden überwinden, es bringt eine Seite in meiner Seele zum Klingen, die nur selten angerührt wird. Ein solches Buch ist, Verzeihung, ein Stückchen Heimat.

„Ich sah den baumlangen Kraftmenschen vor mir, der mich durch meine Kindheit begleitet hatte, den grauen Filzhut auf dem Kopf und ein spitzbübisches Lächeln im Gesicht. Es war möglich, den Schmerz zu bannen, indem man ihn mit anderen teilte. Es war möglich, zwischen den Menschen unsichtbare Brücken aus Wörtern zu bauen, auf denen die Gefühle von einem zum andern wandern konnten.“

Und das ist schön, genau wie dieses Buch. Lest es und lernt den alten Tat’ka kennen, ihr werdet es nicht bereuen.

Fünf Tage im Mai von Elisabeth R. Hager ist erschienen bei Klett-Cotta (ISBN 978-3-608-96264-2, 221 Seiten, 20 Euro).