Bücherwurmloch

„Das würde ihr erst ein Jahrzehnt später einfallen, als bereits alles zu spät war“
Lefti und Eleni sind Cousin und Cousine, trotzdem sollen sie miteinander verheiratet werden. Eigentlich wurde Eleni sogar einzig aus diesem Grund gezeugt: um den Fortbestand der griechischen Familie zu sichern. Die Großmutter hat diesen Plan ausgeheckt, und niemand erhebt Einspruch. Die Sache ist nur: Lefti liebt Eleni, aber Eleni liebt Lefti nicht. Sie ist widerspenstig und ein Wildfang, schließt sich später, als sie älter ist, den Kommunisten an und bringt sich dadurch in große Gefahr. Wie es Eleni und Lefti nach Deutschland verschlägt, was sie dort erleben, wieso Eleni nach Amerika kommt, schließlich aber auf der Insel Makarionissi bleibt und wie sie beide doch noch die wahre Liebe finden, davon erzählt Vea Kaiser in Makarionissi oder die Insel der Seligen. Und sie tut dies auf so bildhafte, vor Ideen sprühende Art und Weise, dass der Roman zu einem wahren Lesevergnügen wird.

In Österreich ist Vea Kaiser eine große Nummer, und nicht nur hier: Schon mit ihrem ersten Roman Blasmusikpop hat sie in der deutschsprachigen Literaturwelt für Furore gesorgt, ihre Romane wurden zudem in verschiedene Sprachen übersetzt. Ich hab das gespannt verfolgt, bisher aber nichts von ihr gelesen. Und falls es euch genauso geht, solltet ihr das dringend ändern. Ich hab dieses Buch nämlich regelrecht verschlungen und dabei gedacht: Endlich! Endlich mal wieder eine Geschichte, die sich so richtig ausbreiten darf und mehrere Jahrzehnte umfasst, eine Geschichte, die kuriose, witzige, anrührende Elemente haben darf und eine Sprache, die nicht streng darauf getrimmt ist, durch Auslassung zu punkten. Ganz im Gegenteil: Vea Kaiser hat Spaß am Formulieren und Spaß an ihren Figuren, das ist dem Buch deutlich anzumerken – und deshalb macht es auch Spaß beim Lesen. Da schwingen Melancholie und Traurigkeit mit, doch die Lebensfreude überwiegt. Da geht es um zwei, die nicht zueinander passen, aber glücklich werden sie dennoch. Die Sprachbilder sitzen, die Vergleiche sind schön originell, und am Ende ist man so zufrieden, wie man es nach einem Leseerlebnis nur sein kann. Deshalb: Reist mit Eleni und Lefti nach Griechenland, nach Deutschland, nach Chicago und in die Schweiz, ihr werdet es nicht bereuen.

Makarionissi oder die Insel der Seligen von Vea Kaiser ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

Bücherwurmloch

„Auf uns wartete das größte und beste Geschenk: das ewige Leben“
„Ich kann mich kaum an einen Tag in meinem Leben erinnern, den ich ohne Sulamith verbracht habe“, sagt Esther, und jetzt ist Sulamith fort. Was ist geschehen in jener Nacht, über die niemand mit Esther sprechen will? Ihre Eltern sind mit ihr in die Stadt gezogen, aus der ihr Vater stammt, weit weg von zuhause, in den Osten Deutschlands. Sie wollen hier eine neue Gemeinde aufbauen, denn sie sind Zeugen Jehovas.

„Ich überlege, wann ich mich das letzte Mal über etwas gefreut habe. Ich weiß es nicht, es ist so lange her, dass ich Probleme habe, mich zu erinnern, wie Freude sich überhaupt anfühlt.“

Esther geht in eine normale Schule, doch nichts an ihrem Leben ist „normal“: Sie muss in den Dienst gehen, von Haus zu Haus ziehen, den Menschen vom Glauben erzählen, sie muss zu Versammlungen und darf nicht mit Weltkindern ausgehen. Sulamith hat dagegen aufbegehrt, sie hat sich in einen Weltjungen verliebt, wollte mit ihm Zeit verbringen, sie wollte einen Walkman besitzen und Musik hören.

„Es hatte sich nie angefühlt, als seien wir etwas wert. Unsere Träume, unsere Wünsche und Zweifel interessierten niemanden, im Gegenteil. Sie wurden als Bedrohung für die Gemeinschaft gesehen.“

Wie ist es, so aufzuwachsen? In der Welt und doch fern von ihr, kein Teil von ihr? Esther ist sechzehn und interessiert an ganz weltlichen Dingen, sie will tanzen gehen und Spaß haben und außerdem weiß sie gar nicht mehr, ob sie an das Paradies glauben soll, das da kommen wird. Ist es überhaupt wahr, was ihr seit so vielen Jahren eingebläut wird? Und vor allem: Was, wenn nicht?

„Vater, der mich über seinen Brillenrand hinweg anschaut und nicht versteht, was los ist, weil er sich nie für Kleider oder Mädchen oder Duftöl interessiert hat, nicht für Sulamith und mich, weil er so was wie blind und taub zugleich ist, so wie alle Männer, wenn es um Mädchen geht.“

Stefanie de Velasco hat mit Tigermilch einen ungestümen, fast schon brutalen Roman vorgelegt. Ihr neues Buch ist ganz anders. Es wird nicht von der Handlung getragen, denn davon gibt es in Wahrheit nicht viel, es lebt vielmehr vom Setting: Es spielt in einer Familie der Zeugen Jehovas, und das ist für sich sehr interessant und lebenswert. Diese Glaubensgemeinschaft wird gern belächelt, über ihr Klingeln an Türen werden Witze gemacht. Kaum habe ich angefangen, Stefanie de Velascos Buch zu lesen, habe ich diese Menschen, die mit den Zeitschriften an den Bahnhöfen standen, sofort mit anderen Augen gesehen. Und mich gefragt, wie es sich wohl anfühlt, als Zeugin Jehovas aufzuwachsen wie Esther – und wie Stefanie de Velasco selbst. Ist das wirklich so anders als für ein Kind in einer muslimischen oder katholischen Familie? Überall wird vom Glauben erzählt, überall wird im Namen eines Gottes erzogen. Wir haben nicht das Recht, über die Zeugen Jehovas zu urteilen oder uns über sie lustig zu machen. Vieles, was die römisch-katholische Kirche uns glauben machen will, klingt nicht im Geringsten glaubwürdig. Kein Teil der Welt ist ein Buch, das den Horizont erweitert und Einblick gibt in eine Gemeinschaft, über die wir zu wenig wissen. Allein deshalb solltet ihr es lesen: weil Literatur bildet, Grenzen überwinden lehrt und uns alle ein wenig näher zusammenrücken lässt.

Kein Teil der Welt von Stefanie de Velasco ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-05043-1, 432 Seiten, 22 Euro).

Bücherwurmloch

„Hören ist eine Art Berührung aus der Ferne“
Und das ist ein sehr passendes Motto, denn die Eltern in diesem Buch – Mann und Frau, die zwei Kinder haben, keines davon jedoch gemeinsam – sind ein Dokumentar und eine Dokumentaristin. Sie haben sich bei einem Projekt in New York kennengelernt, als sie durch die Stadt zogen und fremde Sprachen sowie Geräusche aufzeichneten. Sie haben sich verliebt und geheiratet, der Mann hat einen Jungen mit in die Familie gebracht, die Frau ein fünf Jahre jüngeres Mädchen. Sie haben sich zusammengerauft, sich ein Leben aufgebaut. Nun hat der Mann beschlossen, dass er über die Apachen forschen und dort hinfahren will, wo sie gelebt haben – Tausende Kilometer weit weg. Die Frau willigt ein, die Reise gemeinsam zu wagen, doch ihr ist bereits von Anfang an klar, dass dies wohl das Letzte sein wird, was sie zu viert tun.

„In einer Ehe großzügig zu sein, wirklich und dauerhaft großzügig, ist nicht einfach.“

Dies ist mehr eine Aufbereitung von Informationen als ein Roman. Das Buch enthält unglaublich viel Wissen, Hinweise auf andere Bücher, auf Hörbücher und Lieder, auf Kulturgüter jeder Art, die auch – in Form von Schachtelinhalten – akribisch aufgezählt werden, zudem sind Fotos enthalten. Es geht um das Reisen an sich, um das Bewahren von Geschichten und Erinnerungen, um Sprache und Übersetzung, es geht aber auch um das Verlieren. In erster Linie natürlich, wie der Titel sagt, das Verlieren von Kindern, die aus den USA zurück nach Mexiko deportiert werden. Und um einen Verlust, der mir erst nach und nach dämmert: Wenn Eltern sich trennen, bleiben die Geschwister üblicherweise bei einem Elternteil oder wechseln. Wenn jedoch Eltern sich trennen, deren Kinder keine Geschwister sind, verlieren diese auch einander. Das ist, was an diesem Buch schmerzt. Aber nicht nur, denn es kategorisiert und archiviert menschlichen Schmerz – der viele Facetten kennt.

Ich habe Archiv der verlorenen Kinder sehr gemocht (und ewig dafür gebraucht, weil es so dermaßen informativ und voller Text ist), Valeria Luiselli ist ihrem Hang zu schrägen, besonderen Geschichten treu geblieben. Der erste Teil war mir wesentlich zu lang, der Perspektivenwechsel, der mein Interesse neu entfacht hat, kommt erst auf Seite 219. Dies ist ein intensives, herausforderndes Buch, dem man sich ausliefern muss, um es wirklich goutieren zu können. Es erzählt von denen, die verloren gingen, und denen, die versuchen, zu bewahren.

Lieblingszitat:

„Unglück wächst langsam. Es schlummert in dir, stumm, verstohlen. Du nährst es, fütterst es jeden Tag mit Brocken deiner selbst – es ist der im Hinterhof angekettete Hund, der dir in die Hand beißt, wenn du ihn lässt. Unglück nimmt sich Zeit, aber irgendwann überwältigt es dich total.“

Archiv der verlorenen Kinder von Valeria Luiselli ist erschienen bei Kunstmann (ISBN 978-3-95614-314-4, 432 Seiten, 25 Euro)

Bücherwurmloch

„Great songs walk into the room and tell you they are about to change your life“
Können wir bitte, bitte dieses Buch so richtig abfeiern? Es ist GROSSARTIG. Es ist so gut, ich wünschte, ich hätte etwas Derartiges gelesen, als ich sechzehn, siebzehn war. Ich wünschte, ich hätte schon damals gelernt, wie wichtig es ist, auf sich selbst zu achten, seinen eigenen Körper zu lieben und die patriarchalen Strukturen zu durchschauen, die uns Frauen kleinhalten. All das liegt in Caitlin Morans schönem, witzigem Roman – aber ohne, dass es mit erhobenem Zeigefinger daherkäme. Die preisgekrönte Autorin, die schon mit achtzehn Kolumnistin bei der Times wurde, war sechsmal „Kolumnistin des Jahres“, hat mit sechzehn ein Kinderbuch geschrieben und mit How to be a woman den Book of the Year Award 2011 gewonnen – das erzähle ich euch, um vorab klarzumachen, wie gut diese Frau ist. Und dieses Buch!

Es handelt von der 19-jährigen Johanna, die im Jahr 1995 nach London zieht und dort für ein Musikmagazin schreibt.

„And what this makes me aware of is that London isn’t just a place you live: London is a game; a machine; a magnifying glass; an alchimist’s crucible. Britain is a table, tilted so all its loose change rolls towards London, and we are the loose change. I am the loose change. London is a fruit machine, and you are the coin you put in – with the prospect of it coming up all cherries, and bells.“

Sie ist jung, und sie ist hungrig. Sie will Spaß haben, Abenteuer erleben, gute Bands entdecken – und vor allem will sie ihre große Liebe John wiedersehen. Die beiden kennen sich seit drei Jahren, dann wurde John berühmt. Deshalb ist er ständig auf Tour, Johanna vermisst ihn sehr. Als sie eines Abends einen Comedian kennenlernt und mit ihm nachhause geht, hat sie den schlechtesten (und kürzesten) Sex ihres Lebens. Das Date ist schnell vorbei, doch die Probleme fangen damit erst an, denn Johanna ist einfach gegangen:

„My mouth wrote a sex cheque my vagina eventually declined to cash – and, now as a result, I’m devalued. I’ll walk away from an erection. And this kind of girl, I have discovered, makes men angry. It makes them bitchy.“

Der Comedian nimmt es ihr übel und will sie büßen lassen. Johanna wiederum trifft auf die unbezähmbare, wilde, herausragend gute Sängerin Suzanne:

„Most people are built around a heart, and a nervous system. Suzanne appeared to be built around a whirlwind, kept trapped in a black glass jar.“

Mit ihr gemeinsam plant sie – fast schon ungewollt, denn der Comedian zwingt sie dazu – ihren eigenen Rachefeldzug.

„Suzanne has waded into war, and turned my vagina into a feminist battleground. That was not what I had planned for my vagina at all. I’d always been gunning for something more like ‚a well-loved public space, with limited parking’ instead.“

Dieses Buch ist witzig, anrührend, romantisch, kitschig, klug und einzigartig. Ich habe es mit so viel Begeisterung verschlungen! Ich habe laut gelacht und am Ende – obwohl ich nicht die Kitschnudel bin – geweint. Kauft es für euch selbst, lest es, schenkt es anderen Frauen Mitte dreißig, gebt es jungen Mädchen und denen Anfang zwanzig. Dies ist einer jener schlauen feministischen Romane, deren Botschaft man sehr gut annehmen kann. Und es war für mich wohl DER Überraschungshit des Jahres 2019, denn dass ich mich derart schockverlieben würde, hatte ich nicht erwartet. Ja, es ist ein Unterhaltungsroman. Ja, es ist ein bisschen seicht und heiter und angekitscht. Aber das ist nicht schlimm, im Gegenteil: How to be famous macht klar, dass Frauenliteratur auch auf diese Weise funktionieren kann – frei vom Narrativ, wir bräuchten einen Retter oder müssten uns erst optimieren, um geliebt zu werden. Johanna bricht die Regeln und die Tabus, es fällt ihr nicht leicht, sich selbst zu lieben. Das ist die wichtigste Message des Romans: Du bist gut, wie du bist. Lass dich nicht unterkriegen, von niemandem. Nicht einmal von einem vermeintlich mächtigen Mann.

 

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„Der frische Morgen schmeckt köstlich, als könnte man davon runterbeißen“
Was für ein sinnliches, überbordendes Buch! Lea Singer widmet sich in ihren Romanen, die auf wahren Begebenheiten beruhen, interessanten Persönlichkeiten – und gießt deren Lebensrealität in Fiktion. In Die Zunge hat sie über Alexandre Grimod de La Reynière geschrieben, der von 1758 bis 1837 in Frankreich gelebt hat. Sie beginnt ihre Erzählung mit seiner Geburt, bei der er von seinen reichen Eltern emotional verstoßen wird, weil er mit deformierten Armen zur Welt kommt. Mutter und Vater kümmern sich nicht um ihn, erzählen eine seltsame Geschichte von Schweinen, die dem Baby die Finger abgefressen hätten, und bekommen keine weiteren Kinder. Sehr früh findet Alexandre Zuflucht in der Küche, bei den Geschmäckern, Gerüchen und dem Geschick der Köchin, die ihn lehrt, auf seine Sinne zu hören. Beigebracht bekommt er, dass er, wo er doch keine flinken Finger hat, seine Zunge trainieren soll. Das tut er, und so macht er später nicht nur die Frauen glücklich, sondern auch Karriere als spitzzüngiger Advokat und Theaterkritiker.

Dies ist ein Roman wie ein Festschmaus. Viel wird aufgetischt, und Lea Singer nimmt sich Zeit – zu erklären, zu berichten, zu fabulieren. Das ist herrlich und erinnert stellenweise, vor allem wegen dem Fokus auf Geschmack und Geruch, an Süskind berühmtes Parfum. Mich hat dieses Buch fasziniert, weil Alexandre Grimod de La Reynière ein spannender Charakter ist, weil es um Geld und Macht, Politik, Besitz und körperliche Behinderung geht in einer Zeit, in der man Menschen mit Deformitäten oftmals umgebracht hat. Allerdings war mir das Buch gute siebzig Seiten zu lang, denn ich war – um im Bild zu bleiben – längst satt, nur hat das Festmahl nicht aufgehört. Ich hatte das Gefühl, dass ich ja alles eh schon verstanden habe, dass da kein Erkenntnisgewinn mehr kommt, die Handlung war stellenweise ein wirres Hin und Her, das den politischen Wirren im Frankreich des 18. Jahrhunderts geschuldet war – ihr wisst, wovon ich spreche.

Herausragend an Lea Singers Romanen ist die Sprache, die sie so meisterhaft der Epoche anpassen kann, von der sie schreibt. In Der Klavierschüler (der Grund, warum ich noch etwas von ihr lesen wollte) klingt alles viel nüchterner, sachlicher als in Die Zunge, das mit rauschenden Metaphern und fast schon erotischen Gourmeterlebnissen aufwartet. Dies ist ein schlaues, interessantes und beeindruckendes Buch, bei dem man hinterher das Gefühl hat, gebildeter zu sein als vorher – weil man jetzt weiß, wer Alexandre Grimod de La Reynière war, wann er gelebt hat und wie.

„Warten ist ein Vorgang, bei dem mit Menschen dasselbe geschieht wie mit Weinen im Keller. Die einen kippen um, werden sauer und ungenießbar, die anderen werden reif, harmonisch und groß dadurch.“

Die Zunge von Lea Singer – das Pseudonym von Eva Gesine Baur – ist erschienen bei Klett-Cotta und als Taschenbuch bei dtv (angeblich vergriffen, aber ich hab es ganz normal in einer Buchhandlung bekommen).

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„Ich müsste eine letzte Idee haben. Eine einzige geniale Idee, an die niemand zuvor gedacht hat“
Als Martin ein Kind ist, kann er nicht lügen. Das amüsiert seine Mitschüler und Eltern sehr, und sie nutzen es aus: Immer ist er derjenige, dem Fragen gestellt werden und der alles verrät. Seinen einzigen Freund Oskar trifft er jeden Tag, sie haben einen Geheimweg und vertrauen einander. Dann beschließt Oskar, Martin das Lügen beizubringen – doch dabei gehen die beiden Buben zu weit. Und noch als Erwachsener versucht Martin, auszugleichen, was damals geschehen ist. Dazu macht er sich an die wesentlich ältere Valerie heran, die er nicht einmal attraktiv oder interessant findet. Aber sie steht in Zusammenhang mit dem Geheimnis, das er mit sich herumträgt.

Giuliano Musio hat ein Gespür für das Seltsame. Er erzählt keine Geschichten, die jeder erzählt, ganz in Gegenteil: Bei seinen Romanen kann man sich nicht einmal annähernd vorstellen, was darin passieren könnte. Das macht sie so interessant und originell, führt aber auch dazu, dass man sie nicht ohne Stirnrunzeln lesen kann. In Wirbellos geht es also um einen, der sprichwörtlich wirbellos ist, weil er kein Rückgrat hat, es geht um Täuschung und um die Fähigkeit zu lügen, um ein vertuschtes Verbrechen und die Frage, wie man eine schwere Schuld begleichen kann. Und zudem liegt Bern in diesem Buch am Meer.

Der Schweizer Autor, der mit seinem Debüt Scheinwerfen einen herausragenden Roman vorgelegt hat, den ihr unbedingt lesen solltet, hat einen Protagonisten erschaffen, der ambivalent ist, und das macht ihn menschlich. Er hat etwas Schlimmes getan, er verhält sich wie ein Arsch, er ist berechnend und unnahbar und egozentrisch, zugleich aber versucht er so verzweifelt, alles wieder gut zu machen, dass man geneigt ist, letztlich doch mit ihm zu fühlen. Denn dieses Sühnen, nach dem er sich sehnt, diesen Ablasshandel, den er mit sich selbst eingeht, der funktioniert überhaupt nicht. Die Geschichte ist eine Herausforderung in jeder Hinsicht, und sie steigert sich im letzten Drittel zu einem fast schon amerikanisch-waghalsigen Finale. Die Sache ist aber: Ich habe nicht aufgehört zu lesen, und das liegt an Giuliano Musios Sprache. Er platziert alles dort, wo es sein muss, und das ist nicht so simpel, wie es klingt, es ist sehr schwer. Dies ist ein Roman, der den Leser auf jeden Fall aufwirbelt.

Wirbellos von Giuliano Musio ist erschienen bei Luftschacht (ISBN 978-3-903081-38-3, 464 Seiten, 26 Euro)

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„Alle müssten viel öfter an ihren eigenen Tod erinnert werden. Dann würde es weniger Größenwahn geben“

„Helene Schulze gehörte unwidersprochen zum Kanon der späten feministischen Avantgarde“ war auch so ein Satz, der überall in den Nachrufen stand. Kanon, Avantgarde. Das klang nach einem kuscheligen Chor, dem das österreichische Feuilleton und der Markt andächtig gelauscht und danach applaudiert hätten. Das Gegenteil war der Fall. Feministische Avantgarde, das bedeutete Gehasstwerden. Vom Feuilleton. Vom Steuerzahler. Von den Kollegen. Es bedeutete Gegenwind und Einsamkeit.“

Das sagt Elvira, und die muss es wissen: Sie war nämlich dabei. Sie ist eine von Helenes ältesten Freundinnen und Mitstreiterinnen, und Helene ist tot. Die Schriftstellerin, die in jungen Jahren mit einem Buch sehr erfolgreich war, konnte an diesen Erfolg nie anknüpfen, hat geheiratet und Kinder bekommen und ist schließlich allein in einem Häusl in der Einöde gestorben – am Saufen. Das ist bitter, und Elvira muss sich jetzt durch ihren Nachlass wühlen, denn für das neueste Werk, quasi posthum rausgebracht, ist Helene für den Deutschen Buchpreis nominiert. Das ist noch nie einem toten Menschen gelungen, und die Presse giert nach zitierfähigen Sätzen. So lernt Elvira den jungen Adrian kennen, der mit einem Fernsehteam in ihr Haus kommt. Wenig später ist er ihr Assistent. Ohne recht zu wissen, worauf er sich einlässt, tourt er mit der alten Frau und einem noch älteren Lieferwagen, in dem sie schlafen, durchs Land – und sieht sich plötzlich in höchst illegale Aktivitäten verwickelt. Denn Elvira ist wütend. Und sie plant einen groß angelegten Rachefeldzug – im Namen von Helene. Und im Namen aller Frauen.

Einen Roman über Feminismus zu schreiben, der saukomisch und brutal ernst zugleich ist, das ist nicht so einfach. Da muss erst einmal eine Klemm kommen, damit das gelingt. Denn sie hat den Biss dafür, sie hat die nötige österreichische Gschertheit, den Humor und vor allem: Sie hat die Sprache. Gertraud Klemm hat mit Hippocampuseine Geschichte vorgelegt, die eigentlich eine Abrechnung ist: mit der Buchbranche, mit den Politikern, mit den Machthabern und den Männern im Allgemeinen. Das ist großartig, scharf, böse und wahr.

„Wenn Ehepaare miteinander altern, wachsen die Frauen über sich hinaus und über ihre Zuständigkeiten. Dann wachsen sie um ihre Männer herum und ersticken sie mit ihrer Fürsorglichkeit, damit sie im Alter noch jemanden haben, den sie dank günstiger Seniorentickets durch die Welt schleifen können.“

So klingt das, wenn Protagonistin Elvira spitzzüngig lebenserfahrene Urteile fällt. Sie war einmal jung und hat daran geglaubt, die Welt für ihre Mitfrauen ändern zu können. Inzwischen ist sie resigniert und allein und pleite – genau wie Helene es war. Weil sie wieder und wieder gegen die gläserne Wand gelaufen sind, hinter der all die Männer standen mit hämischem Grinsen. Aber Elvira dankt nicht einfach so ab, sie hinterlässt lieber noch einen riesengroßen Haufen Scheiße, und zwar sprichwörtlich. Sie errichtet der Frau eines Gemeindebürgermeisters, der verewigt ist in lauter Bronzetafeln für seine großen Taten, ebenfalls ein Denkmal, bestehend aus einem Berg vollgeschissener Windeln, den die Bürgermeistergattin weggearbeitet hat in der Zeit, in der ihr Mann Politik gemacht und das Ego poliert hat. Dass den Frauen die Arbeit nicht gedankt wird, darum geht es in diesem Buch, dass sie keinen Platz haben in den oberen Reihen, dass sie sich müde kämpfen und doch nie siegen. Ein Roman, der wachrüttelt, und ganz ehrlich: richtig so. Wir brauchen diese Wut. Wir müssen wach sein und die Ärmel hochkrempeln und ein bisschen Radau machen. Wie Elvira.

Hippocampus von Gertraud Klemm ist erschienen bei Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-01177-8, 384 Seiten, 22,90 Euro).

 

 

Bücherwurmloch

„Das Leben in einer solchen Welt muss ohne virtuelles Leben unfassbar viel präsenter gewesen sein, aber auch wahnsinnig eng und begrenzt“
Die Programmiererin Elisabeth, die passenderweise Beta genannt wird, nutzt eine neue App, mit der sie morgens geweckt wird, indem sie von irgendjemandem auf der Welt angerufen wird – für drei Minuten. Das kann ein Mädchen aus Indien sein, ein ehemals in Deutschland stationierter US-Soldat oder ein Typ, der sich Toboggan nennt und ein kurioses Profilbild hat. Nach den drei Minuten beendet die App den Call – aber an Toboggan ist Beta interessiert. Wie kann sie ihn wiederfinden? Sie richtet einen Blog ein, recherchiert über den Ursprung des Namens und stößt auf eine Geschichte über ein Schauspielerpaar aus den Zwanzigerjahren, das mit fantasievollen, riesigen Masken auf sich aufmerksam gemacht hat. Über Codes, versteckte Bilder und vom 3D-Drucker produzierte Insekten kommuniziert Beta mit Toboggan und versinkt in eine kleine Besessenheit für Lavinia und Walter und ihr Tanztheater.

Ich hatte so viel Spaß mit diesem Buch. Denn ich arbeite viel für Digitalagenturen und kenne diese Welt, die Berit Glanz hervorragend beschreibt: Es ist wirklich so, ich schwör’s. Dort sind alle jung und hip, differenzieren kaum zwischen Arbeit und Freizeit, sind mehr Freunde als Kollegen und formen die Zukunft – natürlich gemeinsam. Im Team. Sie können nicht ohne Internet, machen zusammen Urlaub, wobei sie da natürlich auch programmieren oder brainstormen, denn hej – it’s not work, if you’re doing what you love, is it? Am herrlichsten fand ich die Sache mit dem Bus, in dem sie arbeitenderweise durch die Gegend fahren, darüber hab ich sehr gelacht.

Diesem modernen, aufs Virtuelle ausgerichtete Handlungsstrang hat Berit Glanz verknüpft mit Episoden aus der Vergangenheit, die völlig konträr sind. Lavinia und Walter sind so weit entfernt von Betas Smoothie-Digital-Benchmark-Welt, wie sie es nur sein können, und es ist tricky, dass all die Hinweise auf die Zwanzigerjahre versteckt sind im Netz. Das macht den Roman zu einer literarischen Schnitzeljagd, und natürlich geht es in der großen Metapher dahinter um die Masken, die wir tragen, sei es im Job, sei es in der Liebe – und was mit uns geschieht, wenn wir demaskiert werden. Ein intelligentes, unterhaltsames Buch, das ich sehr gern gelesen habe.

Pixeltänzer von Berit Glanz ist erschienen bei Schöffling (ISBN 978-3-89561-192-6, 256 Seiten, 20 Euro).

Bücherwurmloch

„Er vermisste sie mit offenen und mit geschlossenen Augen, wobei es mit geschlossenen schlimmer war, denn dann sah er sie überall“
In Hamburg werden Autos angezündet, und dann brennt plötzlich eines, da saß jemand drin: Nouri Saroukhan. Und weil er der Sohn eines Clans aus Bremen ist, steckt Chastity Riley plötzlich in einer Ermittlung, in der viele Menschen einander tot sehen wollen – und niemand mit der Polizei darüber redet. Dies ist ihr achter Fall, ich kenne die anderen nicht, ich habe einfach willkürlich zugegriffen, denn: Wer in der Buchbranche unterwegs ist, kommt an Simone Buchholz nicht vorbei. Viel hab ich über sie und ihre Krimis bereits gehört, inzwischen bin ich ihr selbst begegnet und fand sie unglaublich sympathisch – da war ich neugierig. Und hab mir Mexikoring zugelegt, obwohl ich wirklich kein Krimi-Fan (mehr) bin, obwohl ich für gewöhnlich einen großen Bogen um dieses Genre mache (mit einer Ausnahme: Ellen Dunne) und Sonntagabend alles tun würde, um nicht den Tatort anschauen zu müssen.

Und dann das: Simone Buchholz hat diese herrlich kaputten Figuren. Sie hat diese hartgesottene Schreibe, durch die so viele Gefühle schimmern. Sie hat diese Heldin, bei der ich bestens verstehen kann, warum so viele Leser zu Fans werden: Chastity Riley ist kein zugängliches, nettes Frauchen, sondern ein offenbar ziemlich beschädigter Mensch. Viele Sprachbilder fand ich wahnsinnig gelungen, viele Sätze schnörkellos und poetisch zugleich. Und an einer Stelle hatte ich sogar Tränen in den Augen – das hab ich nicht erwartet. Der Krimi an sich: ja. Einer stirbt, ein anderer muss am Ende der Mörder sein, so funktioniert das nun mal. Und es funktioniert. Ich hab große Lust bekommen, diese ankaputtete Riley näher kennenzulernen und zu erfahren, was da vorher alles passiert ist, mit diesem Mann, der nur mehr einen Arm hat, mit diesem Nachbar, dessen leere Wohnung ihr so weh tut, und außerdem will ich noch mehr von diesem Schnodder und dieser Schwärze lesen, deshalb hab ich einfach alle anderen Krimis von Simone Buchholz geordert. Und wenn das jetzt kein Kompliment ist, dann weiß ich auch nicht! Die sollten den Tatort künftig nach ihren Büchern machen, dann würde vielleicht sogar ich ihn gucken.

Mexikoring von Simone Buchholz ist erschienen bei Suhrkamp/Insel (ISBN 978-3-518-46894-4, 14,95 Euro).

Bücherwurmloch

„Everyone is obsessed with her looks“
Korede hat ein Problem, und dieses Problem ist ihre Schwester. Ayoola hat nämlich ihren Freund umgebracht, mit gezielten Messerstichen, und dann Korede angerufen, damit die ihr hilft, den Leichnam zu beseitigen. So weit, so schlecht, aber es kommt noch schlimmer: Das war schon der dritte Freund von Ayoola, den dieses Schicksal ereilt hat. Und ab drei ist man, das hat Korede nachgelesen, ein Serienmörder. Ayoola ist wahnsinnig hübsch, die Männer liegen ihr zu Füßen – darunter auch Tade, er ist Arzt an dem Krankenhaus, in dem Korede arbeitet. Und sie ist seit Langem verliebt in ihn. Weshalb sie ihn jetzt vor ihrer Schwester bewahren muss.

Geile Idee für ein Buch, hab ich mir gedacht, als ich es bei Schöne Seiten gesehen habe, und das ist es auch. Leider aber nicht viel mehr: Das Ausgangssetting ist spannend, die Kulisse von Lagos tut das Ihrige, denn hier ist es heiß und gefährlich, es wimmelt vor korrupten Polizisten und gewalttätigen Familienvätern. Ayoola geht auf ihre eigene Art damit um: Sie hat das Messer des verstorbenen Vaters an sich genommen und zögert nicht, es einzusetzen. Sie zögert auch nicht, die Männer, die ihr verfallen sind, auszunutzen und gegeneinander auszuspielen. Ich-Erzählerin Korede ist ein allzu blasses Aschenputtel neben der Schwester, das ist ein wenig klischeehaft und schade. Auch sonst bleibt der Thriller eher oberflächlich, besonders im letzten Drittel flacht alles ab und versandet. Da hätte ich mir noch einen Schocker gewünscht, eine unerwartete Wendung, stattdessen endet es eher unbefriedigend. Ein wenig mehr Tiefe in den Beziehungen, vor allem jener zwischen den Schwestern, hätte Wunder gewirkt. Aber nun ja, ich hatte trotzdem Spaß beim Lesen, ich mag die Idee nach wie vor, und ich finde die Geschichte dahinter interessant:

Nachdem Oyinkan Braithwaite mit einer Kurzgeschichte für einen renommierten Preis nominiert war, bekam sie eine Schreibblockade, weil sie sich so unter Druck setzte, jetzt ihren großen Roman abliefern zu müssen. Ein Jahr lang ging gar nichts mehr, bis sie beschloss, die Blockade zu überwinden, indem sie einfach irgendwas schrieb, roh und ungeplant, etwas, das Spaß machen sollte. Und landete damit einen Knaller, der sich sofort verkaufte, die Filmrechte sind optioniert. Eine sehr gewinnbringende Schreibblockade war das.