Bücherwurmloch

„Ist es nicht herrlich, ein Prolet zu sein?“
Theresa ist krank, sie übergibt sich, hat keine Kraft mehr. Dabei war die sechzigjährige Bäuerin immer stark. Ihr Mann Erich ist erst ratlos, dann verzweifelt. Wie soll er allein den Hof bewirtschaften? Wieso kann Theresa sich nicht zusammenreißen? Und warum spricht sie nicht mit ihm? Von den Kindern will niemand etwas von der Landwirtschaft wissen, sie sind der Enge des bäuerlichen Lebens längst entflohen. Familienzusammenhalt gibt es kaum, jeder ist sich selbst der Nächste.

„Selbst die Krankheit unserer Mutter hatte keinen vereinigenden Effekt, sondern trieb die Bruchstellen nur stärker zutage.“

Und so fällt alles zusammen wie ein Kartenhaus, dem der tragende Untergrund entzogen wird.

„Auch meine Mutter litt unter den Umständen. Auch sie hatte eine Seele, so wie ich und alle anderen Menschen. Sie sehnte sich nach diesem und jenem, und sie empfand, fühlte und verzweifelte bisweilen, wie wir alle. Doch weil mir mein eigenes Leid näher war, ließ ich sie liegen und fuhr davon.“

Dominik Barta füllt sein schmales Buch mit vielen Themen: Überforderung und Einsamkeit, Ausländerfeindlichkeit, Ehebruch, Familienzwist und Egoismus. Er skizziert ein österreichisches Dorf, wie es klassischer nicht sein könnte, die Stammtischmentalität, die Tristesse des einfachen Lebens. Es ist ein genialer Kniff, dass er seine Protagonistin Theresa ausbremst, sie aus dem Rennen nimmt, sie nicht mehr funktionieren lässt. Dadurch kommt das Getriebe, das so viele Jahrzehnte lang einwandfrei gelaufen ist, zum Stillstand. Überall knirscht es. Keiner will wahrhaben, welche Rolle er an Theresas Zustand spielt. Sie ist die Frau, die Mutter, sie darf nicht krank sein, nicht an sich denken. Die Geschichte schildert der junge österreichische Autor aus verschiedenen Perspektiven, und dadurch wird sie so gut. Weil jeder zu Wort kommt, denn auch das ist in der Realität so, dass keiner das Maul halten kann. Und dass bei allem Gerede am Ende niemand hilft. Ein Roman, der eindrücklicher ist, als das etwas öde Cover vermuten lässt, und der, da trau ich mich zu wetten, ein heißer Kandidat für eine Nominierung zum Österreichischen Buchpreis ist.

Vom Land von Dominik Barta ist erschienen bei Zsolnay.

 

 

Bücherwurmloch

 „Seine Frömmigkeit war hart wie Stein und voller Reue und Schmerzen“

„Manch einer lebt hervorragend mit einer zurechtgezimmerten Wahrheit. Sie mag schief und krumm sein, hält aber doch. Für manche ein Leben lang.“

Als Edvards wortkarger Großvater Sverre stirbt, realisiert er, dass er nun nie die Wahrheit erfahren wird über den Unfalltod seiner Eltern und die vier Tage, in denen er selbst, damals drei Jahre alt, verschwunden war. Soweit er weiß, sind seine Mutter und sein Vater in einem Wald in Frankreich ums Leben gekommen, weil sie auf eine Gasmiene aus dem Zweiten Weltkrieg getreten sind. Doch was ist wirklich passiert? Wieso hat er nie erfahren, dass sein Großvater einen Bruder hatte? Und warum hat der sich einst als Franzose ausgegeben? Edvard kann die große Unwissenheit nicht mehr ertragen und macht sich auf, das Rätsel zu lösen. Dabei trifft er eine geheimnisvolle Frau, erfährt von einer seltenen Holzart und einem Erbe, das ihn reich machen würde, sollte er es finden.

Dies ist ein Buch, das ich schwer einordnen kann. Teilweise liest es sich wie ein mordloser Thriller, es ist spannend, sehr originell, mit vielen Wendungen – hat aber dieses komplett blutleere Cover. Und einen Titel, den ich nicht verstehe, denn im Roman geht es um Walnussbäume. Ich habe sehr lange gebraucht, um es zu Ende zu lesen, was kein Urteil sein soll. Es bedeutet vielmehr (abgesehen davon, dass es mit 515 Seiten nun mal einfach recht dick ist), dass es informationsintensiv ist, man muss sehr aufmerksam sein. Edvard erfährt viel über seine Vergangenheit, dann noch mehr und noch mehr, er puzzelt alles zusammen, und es ist kompliziert. Gleichzeitig aber auch interessant, weshalb ich trotzdem am Ball geblieben bin. Eine verrückte Geschichte über Familiengeheimnisse, Kriegswirren und lebenslangen Groll in einem recht nüchternen, typisch norwegisch abgeklärten Ton. Sehr lesenswert, wenn man den langen Atem mitbringt.

Die Birken wissen’s noch von Lars Mytting ist erschienen bei Suhrkamp Insel.

Bücherwurmloch

„Mit seiner Kochkunst hatte er uns süchtig gemacht“
Sie nennen ihn den Hund und erzählen sich über ihn, er habe in einem Erdloch im Kosovo gehaust, vergittert, ohne Tageslicht, habe dort seinen Geschmackssinn auf übermenschliche Art geschärft. Jetzt kocht er wie kein Zweiter, gesellschaftsfähig ist er nicht. Mit eisernem Willen verschafft der Hund sich eine Stelle in der Küche des El Cion, des teuersten und edelsten Lokals am Platz:

„Das eigentliche Geheimnis des El Cion war nie der reine Geschmack des Essens. Wenn man ehrlich war, schmeckten nur die Allerwenigsten den Unterschied zwischen einem Kobe- und einem Charolais-Rind, oder einem Vierzigeuro- und einem Vierhunderteurowein. Kaum einer erkannte den Unterschied am Geschmack, sondern nur an der zusätzlichen Null hinten, am Ende des Preises.“

Gemeinsam mit dem namenlosen Ich-Erzähler, der den Hund in einer Dönerbude kennengelernt hat, erkämpft er sich bei Chef Valentino einen Namen in dieser brüllend heißen, von Adrenalin und Panik erfüllten Küche, in der sich niemand auch nur den kleinsten Fehler leisten darf, wenn er seinen Job behalten will.

„Wenn es tatsächlich einen Gott des Geschmacks gäbe, einen bockfüßigen, dauergeilen, hakennasigen, nackten Gott, dem dralle Frauen mit dicken Titten ohne Unterbrechung Weintrauben in den Mund stopften, während sie auf seinem Gesicht ritten, dann würde er jetzt zu uns heruntergrinsen.“

Valentino ist ein aufbrausender Mann, ein Spitzenkoch, der bereits wegen Körperverletzung im Gefängnis war.

„Seine Augen waren müde und aggressiv und getrieben von einer rastlosen Suche nach tiefer Ruhe. Er hatte die Ausstrahlung eines Menschen, der mehr erlebt hat, als ihm noch Zeit bleibt, davon zu erzählen, und sein kalter Blick schien jedem in seiner Nähe die Schuld dafür zu geben, dass er keinen Frieden fand.“

Und als dieser Valentino erkennt, welches Ausnahmetalent der Hund ist, wie rettungslos verzaubert die Leute sind, wenn sie seine Gerichte kosten, nimmt das Schicksal seinen Lauf.

„Es sei gefährlich, sagte sie, die Menschen würden sich selbst erkennen in ihrer Schönheit und ihrer Hässlichkeit, in ihrer Verzweiflung und ihrer Sehnsucht, und es würde süchtig machen, sie habe Menschen erlebt, die hätten an seinem Essen gehangen wie andere an der Nadel.“

Dieses Buch ist geil, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes: Es ist vulgär, lüstern, sinnlich, triebhaft, ein wenig abstoßend, irgendwie erregend. Der Regisseur und Drehbuchautor Akiz erzählt darin von einem, der nicht zu dieser Welt zu gehören scheint, der sich allen Regeln des Miteinanders entzieht, der Gerichte kocht, die aussehen wie etwas, das auf der Straße überfahren wurde – und der damit die Menschen so erleuchtet, dass es sich anfühlt, als würde sich der Himmel über ihnen öffnen und sie mit Geschmack übergießen. Der Ton ist rau und krass, der Ich-Erzähler ist ein gnadenloser Schläger, die Sprache passt hervorragend zum hektischen Tempo in der Spitzengastronomie. Ein Buch, das mit Geruch und Geschmack spielt, muss sich freilich den Vergleich mit dem Alltime-Klassiker Das Parfum gefallen lassen, und natürlich erinnert Der Hund daran. Vor allem, weil auch Akiz eine Geschichte erdacht hat, in der Menschen etwas schmecken, das ihre Sinne sprengt und sie wahnsinnig werden lässt. Gier, Leidenschaft, Neid und die endlosen Möglichkeiten, die Gaumenknospen aufzugeilen, sind der Kern dieser verrückten, mitreißenden, überbordenden Story über einen, der am Rand der Gesellschaft steht und sie genau aus dieser Position heraus entlarven und zum Bersten bringen kann. Überspitzt, klug konstruiert, mit einem unausweichlichen Ende: ausgezeichnetes Buch!

Der Hund von Akiz ist erschienen bei hanserblau.

Bücherwurmloch

„It feels like all we ever do in this world is break each others’ hearts“
Ich hab dieses Buch nur aus einem einzigen Grund gekauft: wegen des großartigen Titels. Der bringt meine Einstellung zur Welt und zu den Menschen perfekt auf den Punkt. Als ich angefangen habe zu lesen, wusste ich erst einmal nicht, was mich erwartet. Daniel Zomparelli ist offenbar Dichter, er hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht und arbeitet an verschiedenen Poesieprojekten. In den vorliegenden Storys erzählt er vom Daten und Feiern, von guten und schlechtem Sex sowie vom Versuch, als neurotischer Großstädter die Liebe zu finden. Manche Geschichten sind nur wenige Zeilen lang, fast wie ein Gedicht, dann wieder gibt es Figuren wie Ryan, die immer mal wieder auftauchen: Ryan trifft ein Grindr-Date nach dem anderen, manchmal geht das gut, manchmal nicht.

Nachhaltig beeindruckt hat mich die Story, in der ein Typ die ganze Zeit Angst hat, seine Haut zu verlieren, weil sie locker ist und rutscht – am Ende lässt er sie fallen, und seine Flügel kommen zum Vorschein. Ebenso gut und originell fand ich die Geschichte, in der ein Mann jede Nacht von einem Kerl träumt, mit dem er eine schöne Zeit verbringt – und dann morgens auf seinem iPhone Bilder von ebendiesem Mann findet und den Dingen, die sie im Traum gemacht haben. Dann gibt es da noch die Geschichte eines Kerls, der bemerkt, dass sein Freund, bei dem er gerade eingezogen ist, ständig mit jemand anderem spricht – und zwar mit dem Geist seines verstorbenen Ex-Freundes, mit dem sie dann sogar einen Dreier haben. Diese Beispiele zeigen, dass Daniel Zomparelli nicht davor zurückschreckt, Realität und Fantasie zu vermengen, wodurch die Short Stories angenehm surreal und seltsam werden. Grindr, Clubs, Sex und Drogen: Aber wo ist die wahre, die echte, innige Intimität? Diese Frage lauert zwischen den Zeilen dieser zynischen, zarten und sehr zeitgeistigen Geschichten.

„Soft eyes make me feel safe, so I always fall in love with the tired and sad looking guys.“

Everything is awful and you’re a terrible person von Daniel Zomparelli ist erschienen bei Arsenal Pulp Press Canada, auf Deutsch im Albino Verlag.

Bücherwurmloch

„Ich sah ihn an und dachte, er ist mir fremder als fremd und vielleicht liebe ich ihn“

„Haben Sie auch manchmal das Gefühl, Frau Gevorgian, die Arbeit an einem Buch ist mehr als Papier, Schimmel, Tinte, Leder? Wenn ich am Abend nach Hause gehe, vermisse ich dieses Buch, als wäre es etwas Lebendiges.“

Helen ist nach Jerewan gekommen, um ein Buch zu restaurieren, eine alte armenische Bibel. Sie hat Wurzeln in diesem Land, das sie nicht kennt, ihre Mutter gibt ihr ein Bild von Vorfahren mit, die Helen fremd sind. Sie findet rasch Anschluss bei den gastfreundlichen Menschen und lernt den jungen Soldaten Levon kennen, von dem sie sich angezogen fühlt. Zuhause gibt es Danil, mit dem sie zusammenwohnt. Viel mehr als an ihrer eigenen Geschichte ist Helen interessiert an der Geschichte des Buchs: Wer hat diese Sätze an den Rand gekritzelt, wo ist die Bibel gewesen, wer hat darin gelesen, wer hat verzweifelt gebetet? Im Jahr 1915 war dieses Buch alles, was den Geschwistern Anahid und Hrant geblieben war, als sie fliehen mussten. Und während sie auf der Suche waren nach einem Ort, an dem sie leben konnten, macht auch Helen sich auf die Suche – nach einer Spur, nach ihrem Ursprung, nach einer Antwort.

„Schon als Anahid noch klein war, war die Mutter sparsam mit Zärtlichkeiten, weil das Leben nicht verwöhnt. Anahid verstand das nicht, weil das Leben, das waren sie doch selbst.“

Katerina Poladjan hat ein wunderschönes, sehr stilles Buch geschrieben über Fremdheit und Entwurzelung, über das Bewahren von Dingen, die älter sind als wir selbst, und unsere Ehrfurcht davor. Elegant hat sie den Handlungsstrang der beiden Kinder, die mit der Bibel auf der Flucht sind, verwoben mit jenem der Restauratorin Helen, die behutsam und zärtlich dieselbe Bibel instand setzt, ohne je erfahren zu können, was Hrant und Anahid erlebt haben. Sie spürt die Geschichte hinter dem weitgereisten Gegenstand, hat aber keine Möglichkeit, seine Vergangenheit zu ergründen: All das ist längst geschehen, es ist vorbei. In einer bedachten, sparsamen Sprache erzählt die in Russland geborene Autorin, die für diesen Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert war, von der Liebe zu Menschen und Dingen. Ihre Protagonistin Helen ist jemand, der nicht nur mit dünnen Papierseiten vorsichtig umgeht, sondern auch mit Gefühlen. Hier sind Löwenist ein leises, kluges, bestechend ausdrucksstarkes Buch, das einen kleinen Einblick in die Geschichte Armeniens gibt – und in das Herz jener Menschen, die nicht, wie die meisten anderen, getrieben sind von Zerstörungswut.

Hier sind Löwen von Katerina Poladjan ist erschienen bei S. Fischer.

Bücherwurmloch

„Das ist nämlich das Wichtigste in Deutschland, dass man immer freundlich grüßt“
„Hass ist normal. Ich kenne niemanden, den ich nicht schon mal fünf Minuten lang gehasst habe, außer meine Oma natürlich“, sagt Max. Mit ihm hat es seine Mutter seiner Aussage zufolge schwer: Sie hat ihn adoptiert, und etwas stimmt mit ihm nicht. Seine Zehen sind seltsam gekrümmt und sein Gehirn irgendwie auch. Deswegen hat er keinen Adoptivvater, der hat nämlich schnell das Weite gesucht. Max ist außerdem dick, zumindest bis er anfängt zu trainieren. Als die Einladung seiner Oma Frieda an sämtliche Familienmitglieder geht, gemeinsam die Schildkröte Charly zu beerdigen, kommen tatsächlich alle zusammen – und erinnern sich. Wie es war, als Heinrich in die Familie kam, der so viel Wut und außerdem ein Geheimnis in sich trug, wie er den Kindern Charly schenkte, der vom Nachbarshund schwer verletzt wurde. Und verletzt sind sie insgeheim alle: die Schwestern Karen und Nele, die nur das Beste für ihre Kinder wollten und als Mütter versagt haben, ihr Bruder Mattis, der zu seinen Kindern keinen Zugang findet, Ben, der in ein Mädchen verliebt ist, das vergewaltigt wurde, Lena, die von ihren Klassenkameraden gemobbt wird, und schließlich auch Max. Wie alle, die zu diesem Familienverbund gehören, sich aneinander aufreiben und miteinander versöhnen, erzählt Heike Duken in diesem fein gewobenen, vielstimmigen Buch, das mehrere Jahrzehnte umfasst.

Dass die Autorin selbst Psychotherapeutin ist, merkt man an ihrem Gespür für ihre Figuren: Sie lässt sie mit all ihren Macken, Ängsten und Wunden lebendig werden. Durch Zeitsprünge – die markiert sind, wodurch man sich immer gut orientieren kann – zeigt sie die Auswirkungen der Vergangenheit auf und wie alles mit allem zusammenhängt. Der ursprüngliche Titel des Buchs war Rabenkinder, und das erwähne ich aus folgendem Grund: weil Heike mir damals gesagt hat, dass nicht nur Eltern Rabeneltern sein können, und diese Bemerkung fand ich, wie den Titel, sehr klug. Ich hatte vorher nie darüber nachgedacht, dass nicht nur Eltern ihren Kindern Dinge antun, die schmerzen – sondern auch umgekehrt. Und letztlich ist es ja so, dass wir in keinem anderen Umfeld so sehr auf uns selbst zurückgeworfen sind und so stark an uns arbeiten müssen wie in unserer eigenen Familie. Das Gute an diesem Buch ist, dass es nie ausufert, nie zu viel preisgibt, im Gegenteil: Heike Dukens Stil ist prägnant und pointiert, dabei stets voller Gefühl, und am Ende hätte man gern noch ein paar Seiten mehr gelesen.

Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt von Heike Duken ist erschienen bei Limes.

Bücherwurmloch

„Wir geben vor, Dinge zu wollen, die wir nicht wollen, damit niemand sieht, dass wir nicht bekommen, was wir brauchen“
Lisa Taddeo hat drei Frauen begleitet, befragt und porträtiert, anhand von Berichten, Tagebucheinträgen und Erzählungen anderer. Es fällt mir schwer, zu beurteilen, wie dicht das an der Wahrheit sein kann, stellenweise wirkt es authentisch, dann wieder völlig überzogen und in seinem Voyeurismus unangenehm. Dies ist nicht, wie es heißt, ein Buch über das weibliche Begehren, es ist ein Buch über das männliche Begehren. Die drei Frauen agieren nicht, sie reagieren. Sie sind zutiefst passiv, keine einzige der sexuellen Aktivitäten, die so detailreich beschrieben werden, geschieht aus ihrem Wollen heraus. Stattdessen sind sie auf die Männer ausgerichtet, machen sich klein, sind Opfer, Marionetten. Und diese Darstellung geschieht nicht auf einer reflexiven Ebene: Niemandem scheint aufzufallen, dass sie nur innerhalb des patriarchalischen Käfigs handeln, weder den Frauen noch der Autorin. Ja, Maggie ist zu jung, um zu merken, dass der wesentlich ältere Highschool-Lehrer sie manipuliert und benutzt. Sloane redet sich ein, dass es eine Bestätigung für ihr Ego ist, dass ihr Mann sie jeden Tag ficken will und sehen möchte, wie sie es mit anderen treibt. Und Lina bettelt Aidan um ein Fitzelchen Aufmerksamkeit an, erniedrigt sich, gibt sich mit heimlichem Sex im Auto zufrieden, obwohl sie sich eigentlich Liebe wünscht. Wo ist das emanzipiert, wo ist das feministisch? Welcher Definition zufolge sind das „starke“ Frauen, die „aufbegehren“? Sie werden vergewaltigt. Sie werden betrogen. Sie sind nie selbstbestimmt und schon gar nicht glücklich.

Mir wurde bei #dunkelgrünfastschwarz vorgeworfen, ich hätte „zu wenig emanzipierte Frauenfiguren“ geschrieben, doch der Roman spielt zum Großteil in den Achtzigern und zeigt ein Geflecht aus Abhängigkeit und Manipulation auf. Zudem ist alles daran fiktiv. Ich habe nie gesagt: Seht her, so sind wir Frauen, wir richten uns an Männern aus, wir unterwerfen uns ihnen, wir wollen nichts anderes. Lisa Taddeo tut genau das. Warum hat sie ausgerechnet diese Frauen ausgesucht und porträtiert? Wieso hat sie drei gewählt, die sich so ähnlich sind, warum hat sie null Diversität gesucht? Was ist die Botschaft des Buchs? Wollte sie zum Ausdruck bringen, wie abhängig Frauen sind, wie wenig sie ihre Sexualität ohne männlichen Filter wahrnehmen, entdecken, ausleben, genießen? Ich hätte phasenweise vor Wut schreien mögen. Und eine Antwort auf all diese Fragen habe ich auch nicht gefunden. Lest das Buch gerne, wenn es euch interessiert, aber bitte nicht mit dem Anspruch, es stelle das weibliche Begehren dar – mit Sicherheit ist das, was hier beschrieben wird, ein Teil davon. Aber da gibt es noch so viel mehr. Und es wird Zeit, dass auch davon endlich erzählt wird.

„Ein Mann lässt einen nie ganz in die Hölle hinabfallen. Er fängt einen auf, kurz bevor man aufprallt, sodass man ihm nicht die Schuld dafür geben kann, dass er einen auf direktem Weg dorthin geschickt hat. Stattdessen lässt er einen in einer restaurantähnlichen Vorhölle sitzen, wo man wartet und hofft und Anweisungen entgegennimmt wie ein Kellner seine Bestellungen.“

Three Women/Drei Frauen von Lisa Taddeo ist erschienen im Piper Verlag.

Bücherwurmloch

„Um wirklich etwas zu ändern, müsste man das Volk abwählen können, diese Abermillionen von Verbrauchern irgendwie zügeln“

„Wir ertrinken in Plastik. Unserer Dominanz fallen pro Jahr zwischen zehn- und fünfzigtausend andere Arten zum Opfer.“

Was klingt wie ein Bericht von Umweltschützern, ist in Wahrheit ein Thriller – doch das macht die Fakten nicht weniger real. Das Meer handelt von der jungen Fischereibeobachterin Teresa, die unter mysteriösen Umständen verschwindet, von ihrem Partner John, der in Brüssel arbeitet, sowie von Ragna, die einer Gruppe radikaler Umweltaktivisten angehört. Eine Rolle spielen zudem Ragnas Vater, ein skrupelloser Mann, der unter Druck gerät und seine Tochter finden muss. Dafür engagiert er den Dolmetscher Adrian, der zu Schulzeiten in Ragna verliebt war und keine Ahnung hat, worauf er sich einlässt. Denn unterdessen landen Tausende Menschen mit schweren Vergiftungen im Krankenhaus: Mehrere Chargen Fisch wurden mit einer toxischen Alge versetzt – absichtlich.

Ich bin über ein sehr interessantes Interview mit Wolfram Fleischhauer auf dieses Buch gestoßen. Darin hat er erzählt, wie sehr ihn sein Beruf als Dolmetscher in Brüssel oft an seine Grenzen bringt, weil er mitbekommt, was da verhandelt wird – und wie schlimm es um unseren Planeten wirklich steht. Was im EU-Parlament auf den Tisch kommt, bleibt der Öffentlichkeit verborgen. Und so hat er einen Roman geschrieben, in dem er die Probleme aufzeigt, mit denen die Meere zu kämpfen haben. Menschengemachte Probleme, von Gier getriebene Probleme. Es geht um Überfischung und Skrupellosigkeit, um Ökoterrorismus und die Verzweiflung derer, die die Erde retten wollen. Dies ist ein Buch, das sicher nicht – und das ist wohl dem Genre geschuldet – mit seiner Sprache und seinem Stil überzeugt, durchaus aber mit seiner Geschichte. Während viele Thriller mit einer Story aufwarten, die einfach nur an den Haaren herbeigezogen ist, kann ich mir in diesem Fall ohne Weiteres vorstellen, dass jedes Wort wahr ist. Und wundere mich sogar, dass das, was Wolfram Fleischhauer sich da ausgedacht hat, noch niemand gemacht hat. Andererseits: Wer weiß, was er in Brüssel alles gehört hat – wovon wir keine Ahnung haben. Ein Thriller, der nicht durch fantasievoll-grausige Details erschreckt, sondern durch seine Realitätsnähe.

Das Meer von Wolfram Fleischhauer ist erschienen bei Droemer.

Bücherwurmloch

„Nicht durch einen großen Verrat wird Wehmut verursacht, sondern durch die vielen kleinen Verluste“
Elisabeth freundet sich mit Jean-Lino an, der mit seiner Frau Lydie über ihr und ihrem Mann Pierre wohnt. Die beiden gehen manchmal zu einem Pferderennen oder spazieren, unterhalten sich, und als Elisabeth eine Frühlingsparty gibt, lädt sie die Nachbarn natürlich ein.

„An manchen Tagen springt mich schon beim Aufwachen mein Alter an. Unsere Jugend ist tot. Wir werden nie wieder jung sein.“

Und so beschließen sie, noch einmal so richtig zu feiern. Doch zwischen Jean-Lino und Lydie kommt es während der Party zu einer Meinungsverschiedenheit bezüglich eines Hühnchensalats. Als das Fest zu Ende ist und Elisabeth im Bett liegt, kommt Jean-Lino noch einmal zurück und gesteht ihr, seine Frau gerade erwürgt zu haben.

Babylon ist, das muss ich gleich vorweg sagen, mit Sicherheit nicht Yasmina Rezas bestes Buch. Es ist gut, ja, aber nicht so beißend witzig wie der Gott des Gemetzels und nicht so scharfzüngig wie Glücklich die Glücklichen. Vielmehr hat dieser Roman einerseits eine wehmütige, melancholische Note, die dem Alter seiner Protagonistin geschuldet ist, andererseits erinnert er an die Sketche von Loriot, ist stellenweise fast schon ein wenig klamaukig. Ich mag die Ausgangsidee, dass einer seine Frau erwürgt, einfach, weil sie ihm auf die Nerven geht, denn mit Sicherheit kennt jeder von uns die Streitigkeiten im Alltag, die einen zur Weißglut treiben können. Dass dann jedoch vornehmlich die Beseitigung der Leiche im Vordergrund steht statt die Gründe für die Tat, finde ich schade, da hätte man viel mehr in die Tiefe gehen und den Zündstoff der Monogamie ausloten können. Solltet ihr also Lust auf Yasmina Reza haben, die übrigens die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin ist, empfehle ich euch eins ihrer anderen Bücher.

Lieblingszitat aus Babylon:
„Ist es vernünftig, sich um das Geliebtwerden zu bemühen? Ist das nicht eine jener Mühen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind?“

Babylon von Yasmina Reza ist als Taschenbuch erschienen bei S. Fischer.

Bücherwurmloch

„In dieser Welt, in die kein gutes Kind gehört“ 
lebt Ice Cream Star. Sie ist 15 Jahre alt, und deshalb hat sie nicht mehr lange zu leben: Spätestens im Alter von 18 bekommen alle Kinder die Posies und sterben. Erwachsene gibt es nicht mehr, auch kaum Menschen mit weißer Haut. Ice Cream und ihre Sengles sind schwarz, sie leben von der Jagd und von dem, was sie in den verlassenen Häusern noch finden. Ständig müssen sie auf der Hut sein, denn neben den Sengles gibt es die Armies, die Christlinge, die Lowells, und wer gerade mit wem Krieg hat, ist kompliziert. Die einen rauben die Mädchen der anderen, um sie zu vergewaltigen, aus Rache bringen die anderen die einen um. Ice Creams Bruder Driver ist der Anführer der Sengles, doch als er an den Posies erkrankt, übernimmt Ice Cream diesen Posten. Sie fangen einen Rou, einen Mann mit heller Haut, der sie glauben macht, dass es ein Mittel gegen die Krankheit gibt. Und so fasst Ice Cream Star einen gefährlichen Plan.

„In mir wachsen die Ungeheuerlichkeiten, die wir machen. Jeder Krieg schrumpft vor dieser Tat. Jo, ich schwör mir selber, dass ich durch die Vereidigten Staaten wander, wenn wir es schaffen. Geb jedem dürftigen Kind das Mittel, und niemals stirbt n Mensch an Ice Cream Star ihrem fehlenden Herz.“

Ice Cream Star von Sandra Newman ist ein dystopischer Roman mit einer Kulisse, wie man sie oft in Filmen gesehen hat: Die Menschheit ist zum Großteil ausgerottet, die Überlebenden sind dreckig, hungrig und bewaffnet. Es gibt viele Tote in diesem Buch, Hass und Krieg, Elend und Hoffnungslosigkeit. Aber es gibt auch die Liebe.

„Ich merk, dass ich weine. Wein für alle von uns, die sterben müssen. Und wenn das Feuer so gewaltig, der Himmel so gewaltig is, sind wir sprottenklein und voll Liebe.“

Ice Cream Star ist heimlich verliebt in Mamadou, den Anführer der Feinde. Die beiden haben sich immer wieder in seinem Zelt getroffen und miteinander geschlafen, und obwohl sie es nicht zugeben, lieben sie einander mit aller Kraft.

„Der Kuss is n furchtsames Wissen, wo die Welt der Kälte um uns fliegt. Die ganze schwarze Stadt und die riesig gewachsenen Sterne, sie sind gar nichts. Seine Hand streicht über mich wie ne Erinnerung. Sagt mir ruhige Ehrlichkeiten jenseits von Worten, die der Stolz sagen kann. Und mein Körper leuchtet beharrlich, liebt ihn feurig gut. Ich berühr sein Gesicht, seinen Nacken, und halt mich fest an diese gute Kraft, mit allen Verfluchungen in mein fürchtenen Blut.“

Das ist es, was mich an diesem Buch so berührt: dass in einer Welt, die nicht dem Untergang geweiht, sondern längst untergegangen ist, die verseucht ist von Gewalt und Krankheit und Tod, die Liebe noch da ist. Dass Ice Cream Star alles tut, um ihren Bruder zu retten, dass sie ihren Seelenverwandten Crow nicht im Stich lässt, und dass selbst am Ende, als sie nur noch auf das Sterben warten, als ihnen alles, alles um die Ohren fliegt, diese starken Gefühle zwischen ihr und Mamadou sind.

„Dann, in dieser vom Krieg gestohlenen Stunde, is unsere Liebe jenseitig schlimm. Wir klammern ohne Worte ineinander, bis unsere schauerliche Stille ne andere Nacktheit is. Es is Liebe ohne Kampf, hilflos. Jede Berührung is n Wahnsinnswort – und es sind die einzigen wahren Worte, die ich je gekannt hab.“

Massiv beeindruckend an diesem Roman ist die Sprache: Sandra Newman ist es gelungen, einen ganz eigenen Stil zu finden, Neologismen zu kreieren, einen Duktus, der neu ist und anders. Dadurch hat dieses Buch einen nie gehörten Ton. Keinen Satz kann man überspringen, keinen Abschnitt überfliegen, im Gegenteil: Auf jedes Wort muss man sich konzentrieren, um es zu verstehen. Absolute Hochachtung vor der Übersetzerin Milena Adam, die einen Weg gefunden hat, die unbekannten Ausdrücke ins Deutsche zu transportieren. Es ist somit die Sprache, die mich an Ice Cream Staram meisten fasziniert, viele Stellen lese ich zweimal, nur um die Kreativität dahinter zu goutieren, und die Sprache ist es auch, die mich bei der Stange hält, als mir das Buch – wie jedes Buch mit mehr als 500 Seiten – zwischendurch zu lang wird. Das hätte man schon noch straffen können, denke ich, und: So manches Klischee wäre nicht nötig gewesen. So spannend und originell die Geschichte beginnt, so abgeschmackt endet sie, zum Schluss hin fasert die Handlung aus, wird immer undurchschaubarer, und dass Sandra Newman wirklich den klassischen Feind der Amerikaner als Endgegner präsentiert, finde ich recht enttäuschend, wo sie doch sonst mit so frischen Ideen aufwartet.

Dieses Buch ist brutal, verstörend, traurig und grausam, es ist aber auch schön, poetisch, warm und weich. Es macht Angst, und das ist gut so, denn wenn man sich die aktuelle Lage ansieht, ist klar, dass wir Angst haben sollten. Ein Szenario wie in dieser Dystopie ist nicht einmal sehr unwahrscheinlich. Wir können wohl nur hoffen, dass wir dann schon tot sind.

Ice Cream Star von Sandra Newman ist erschienen bei Matthes & Seitz.