Bücherwurmloch

„Kannst du glücklich sein, wenn alle dich für unglücklich halten?“

„Mutter bleibt man ein Leben lang, sagt meine Mutter. Du hörst nie auf, Mutter zu sein. Vom Tag deiner Geburt bis zu dem Tag, an dem ich sterbe, werde ich immer deine Mutter gewesen sein.“

Die Ich-Erzählerin möchte keine Kinder. Das ist eine Tatsache, sie weiß das schon früh, sie sagt es ihrem Partner auch gleich am Anfang, sie spielt mit offenen Karten. Und eigentlich sollte das okay sein so, eigentlich könnte die Geschichte hier wieder zu Ende sein. Ist sie aber nicht, denn in der Gesellschaft findet das niemand okay: die Familie nicht, die Freund:innen nicht, und am Ende auch der Partner der Erzählerin nicht mehr. Bei ihm kippt es nämlich plötzlich doch Richtung „wäre doch ganz schön“ und „willst du etwa ganz allein sein im Alter“? Bei ihm passiert, was alle erwarten, dass auch bei der Erzählerin passiert: dass sie sich umentscheidet. Doch warum sollte sie? Wieso ist es für uns normal, davon auszugehen, eine erwachsene Frau wüsste nicht, was sie will? Ganz ehrlich, ich hasse es, dass wir jede einzelne Frau zum Kinderkriegen nötigen wollen, ich hasse das so sehr. Es hat uns nicht zu interessieren, wie eine Frau ihr Leben verbringen möchte, und sie wird durch Mutterschaft nicht mehr zur FRAU. Das ist so ein krasser patriachalischer Bullshit, und dagegen schreibt Linn Strømsborg an.

„Normalerweise denke ich nicht daran, es fällt mir erst auf, wenn mich jemand darauf anspricht. Und ich werde die ganze Zeit darauf angesprochen, verdammte Scheiße. Die ganze Zeit.“

Es ist wichtig, dass sie das tut, und allein dafür feiere ich dieses Buch. Wir brauchen mehr solche Geschichten, mehr Verständnis, mehr Normalität für den kinderlosen Lebensentwurf, der nicht gerechtfertigt werden muss. Aus diesem Grund sind mir die letzten drei Seiten des Romans sauer aufgestoßen, die hätte ich nicht gebraucht, die haben für mich alles zuvor Gesagte widerrufen. Zudem, aber das ist natürlich meine subjektive Sicht als Mutter, habe ich ein Problem damit, dass „wir“ wiederum ständig so dargestellt werden, als wären wir NUR NOCH Mütter. Wir sind nichts anderes mehr, keine eigenständigen Wesen, Freundinnen schon gar nicht. Die beste Freundin im Buch wird schwanger, wird instrumentalisiert zum Gegenentwurf, zum „so will ich nicht werden“, sagt Sätze wie:

„Ich bin Mutter, und es fühlt sich an, als wäre ich nichts anderes mehr, als würde ich nicht mehr für mich, sondern nur noch für Ella atmen.“

Aber warum muss es eine solche Gegenposition überhaupt geben? Wieso darf sich die Protagonistin nicht gegen Kinder entscheiden, einfach, weil sie das WILL? Da gilt es aus meiner Sicht noch nachzujustieren: Nie nie nie ist ein Anfang, ein sehr guter Anfang, und wir bekommen hoffentlich in den nächsten mehr Bücher wie dieses. Dann vielleicht sogar, ohne weiter Stereotype zu befeuern und mit einer differenzierteren Sicht auf Weiblichkeit, die immer gleich viel wert ist – ob mit Kinder oder ohne.

Nie nie nie von Linda Strømsborg ist erschienen bei Dumont.

Bücherwurmloch

„Nein sagen zu können, ist eine Einbildung. Sex immer nur dann freiwillig, solange er die Freiwilligkeit zulässt.“
Sex ist schwierig, kompliziert, manchmal gefährlich, Sex ist heftig und Mittel zum Zweck, um Nähe zu schaffen, etwas zu erzwingen, ob Befriedigung oder Selbstbestätigung, Sex ist nie einfach nur Sex. Am deutlichsten zeigt das dieses Buch auf: Sofia Rönnow Pessah erzählt darin von den Männern ihres oder eines Lebens. Ob es sich hierbei um Autofiktion handelt – darauf deutet hin, dass die Protagonistin denselben Vornamen trägt – oder nicht, sei dahingestellt, Tatsache aber ist: Das passiert so. Jeden Tag, jede Nacht erleben Frauen, was Sonia erlebt: diese unklare Grenze, ab wann eine sexuelle Handlung unfreiwillig wird. Tief geprägt vom Patriarchat, sind wir geschult darin, unsere sexuellen Reize einzusetzen. Wir glauben, unser Selbstwert spiegle sich im Begehren der anderen, und die anderen, das sind (in diesem Fall, da es fast ausschließlich um heterosexuelle Begegnungen geht) die Männer. Sofia sucht fast jeden Abend den einen, der mit ihr nachhause geht, der sie mit zu sich nimmt, der sie ficken will. Der ihr beweist: Du bist nicht zu fett. Du bist interessant. Du bist gut genug. Du bist, was ich will. Darum geht es: gewollt zu werden.

„Sein steifer Schwanz widert mich an, er widert mich an. Aber am meisten widere ich mich selbst an.“

Dieses Buch ist krass. Ich habe es mit weit aufgerissenen Augen gelesen, ohne Witz, mit großem Verständnis und bitterer Verzweiflung zugleich. Am liebsten wäre ich hineingestiegen, zu Sonia auf die Tanzfläche, hätte den Arm um sie gelegt und gesagt: Komm weg da. Ihr zu folgen, dorthin, wo sie hingeht, tut wahnsinnig weh. Und legt Wunden in jeder Leserin frei, die schon vorher da waren, da bin ich mir ganz sicher. Keine Frau kann das lesen, ohne zu nicken, ohne dunkle Gedanken, die wir niemals nie jemandem erzählen würden, aufgegriffen zu sehen. So offen und schonungslos bekommen wir selten gezeigt, wie Sex(sucht) sich äußert, sich anfühlt, sich ausbreitet und überhandnimmt. Ich bewundere die Autorin zutiefst für ihren Mut und bin – bei allem Entsetzen, das der Roman in mir ausgelöst hat – unendlich froh, dass es nun endlich solche Bücher gibt. Sie können Augen öffnen. Und zeigen: Von gesundem, stolzem weiblichem Begehren sind wir noch Lichtjahre entfernt.

„Ich wünschte, dass meine Antriebskraft nicht die Selbstbetäubung wäre, und ich weiß, dass das hier nicht lange halten wird, aber nun steht er da, ich erzähle ihm, wo ich wohne, und frage, ob er mitkommen will.“

Die Männer in meinem Leben von Sofia Rönnow Pessah ist erschienen bei Ullstein.

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„Wäre dieser Augenblick ein Satz, dann wäre ich der Punkt“
Im Geschichtsunterricht wird nichts erzählt über das Tulsa Massaker von 1921, bei dem brandschatzende Weiße Hunderte Schwarze Menschen getötet, ihre Häuser angezündet und sie ausgeraubt haben. In Jacqueline Woodsons neuem Roman verliert Sabi, die Großmutter, dabei fast ihr Leben – und das Vermögen der Familie. Von hier beginnend entspinnt sich eine Geschichte, die aber nicht chronologisch erzählt wird, sondern in kurzen Kapiteln im typischen Woodson-Sound: poetisch, verknappt, schmal und sparsam, aufgeladen mit Bedeutung. Melody ist sechzehn Jahre alt und spiegelt ihre Mutter Iris, die in diesem Alter mit ihr schwanger wurde. Zwar hat sie das Kind zur Welt gebracht, doch ihre Träume waren anderer Natur: Iris hat Melody bei Aubrey zurückgelassen, der dadurch zum alleinerziehenden Vater wurde und seine Tochter gemeinsam mit den Eltern von Iris großzog, während Iris ans College ging.

Im Original lautet der Buchtitel „Red at the bone“, das steht für Dinge, die schwer verdaulich sind. Und ich vermute, damit sind in diesem Fall in erster Linie die heftigen, oft jahrzehntelangen Gefühle gemeint, an denen jede:r in dieser Familie schwer zu tragen hat. Woodson, die für ihre Jugendbücher mit vielen Preisen bedacht wurde, schreibt – genau wie ein „Ein anderes Brooklyn“ – fragmentarisch, immer mitten in die Szenen hinein, ohne viel zu erklären. Das macht ihre Romane lebendig, ist aber auch eine Herausforderung. Es sind zahlreiche Themen, die sie miteinander verwebt: afroamerikanische Geschichte, denn die Großeltern haben die Sklaverei noch erlebt. Die Schande, die es für ein sechzehnjähriges Mädchen bedeutet, Mutter zu werden. Eine junge Schwarze, die sich jedem klassischen Rollenbild entzieht, ihre Bildung und ihre berufliche Zukunft ihrem Kind gegenüber priorisiert. Ein Vater, der bis zum Bersten angefüllt ist mit Liebe. Und eine Tochter, die all das, was vor ihr kam, in sich trägt – und ihren eigenen Weg finden muss. Eine Identitätssuche, eine Aufarbeitung, ein Bruch mit altbekannten Narrativen.

Alles glänzt von Jacqueline Woodson ist erschienen bei Piper.

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„Die Kunst guten Schreibens besteht bekanntermaßen darin, sein Blut auf die Seiten zu vergießen“
So oft wird uns vermittelt: Ach, was haben die Frauen schon zu sagen. Das wird nicht unbedingt offen ausgesprochen, aber die Tatsachen stehen für sich – die männerlastigen Verlagsprogramme, das Ungleichgewicht in der Sichtbarkeit, der verzerrte Filter des Feuilletons. Und dann schreibt Emilie Pine ein Buch mit sechs zutiefst persönlichen, sehr weiblichen Essays – und landet einen Bestseller. Oh, die ÜBERRASCHUNG! Vielleicht haben die Frauen ja doch sehr viel zu sagen? Und: Vielleicht wollen sehr viele Menschen es hören? Aber Zynismus beiseite, dieses Buch ist anders, als ich es erwartet habe. Das liebliche Cover lässt nicht an die Gewalt und den Missbrauch denken, an Vergewaltigung, Anorexie und Selbsthass, von denen Emilie Pines Geschichten – und somit ihr Leben – durchwirkt sind. In bester essayistischer Tradition reichen diese Erzählungen über sich selbst hinaus und bekommen allgemeine Gültigkeit. Bekommen gesellschaftliche Relevanz. Bekommen Zustimmung von jeder weiblichen Lesenden. Denn so wie Emilie haben wir uns zumindest in einzelnen Situationen alle bereits gefühlt.

Intim sind die Geschichten, schonungslos ehrlich, ein Sezieren des eigenen Inneren. Emilie Pine schreibt über ihre Kinderlosigkeit und ihre Jugend, über den Alkoholismus ihres Vaters und die Menstruation. Es geht um Sex und Scham, um die Beziehung zum eigenen Körper und um Burn-out. Letztlich ist dieses Buch ein einziger lauter Aufschrei, ein Auflehnen gegen das System, das Patriarchat – indem es aufzeigt, wie es sich auswirkt auf diese eine Frau und dadurch auf jede Frau. Ein subjektives Buch, ja, doch mit einer Botschaft, die für uns alle wichtig ist: die Befreiung des weiblichen Körpers. Die Enttabuisierung von Menstruationsblut, Fehlgeburten und Menopause. Das sind Themen, die uns beschäftigen, die uns bewegen – und die deshalb ihren Platz in der Literatur brauchen. Hut ab vor Emilie Pine, dass sie sich getraut hat, sich auszuziehen bis auf die Knochen, im Dienst von uns allen.

Botschaften an mich selbst von Emilie Pine ist erschienen bei btb.

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„Frauen wissen bereits als Mädchen, dass es anstrengend wird“
Neun Figuren hat dieser Roman, und sie alle heißen wie eine Frauenzeitschrift: Das ist kein Zufall. Denn alle Frauen leben in einer Welt, die durchwirkt ist von Stereotypen und Vorstellungen, denen sie zu entsprechen haben. Das klappt gut oder auch nicht: Lisa zum Beispiel kann keine Kinder bekommen und wird verlassen. Laura dagegen hungert sich in ihr Hochzeitskleid, denn am wichtigsten Tag im Leben einer Frau soll alles perfekt sein, vor allem die Frau. Barbara verliert ihren Ehemann und findet einen Hund, Verena erbt eine Villa und braucht keinen Gatten mehr. Tina dagegen muss sich von ihrem schleunigst trennen – bevor er sie umbringt.

Jovana Reisinger ist eine unglaublich coole, sehr intelligente Filmemacherin und Autorin, die mich bereits mit Stillhalten begeistert hat. In ihrem aktuellen Roman geht es um Frauenbilder und Freundinnen, um Hochzeiten, Gewalt und Schönheitsideale. Ihr Humor hat ein herrlich böses Funkeln, sie hält uns all die Stereotypen vor Augen, denen wir täglich begegnen – und denen wir uns selbst unterwerfen. Besonders fies ist der leicht boshafte, entlarvende Ton, der so wunderbar die urteilenden Stimmen spiegelt, die nicht nur außerhalb ertönen, sondern auch in den Frauen, hineingepflanzt von der Gesellschaft, die nun einmal gewisse Ansprüche hat an eine Frau. Manche Figuren lehnen sich dagegen auf, andere nicht.

„Es gibt diese Geschichten von Frauen, bei denen es gut ausgeht. Die so glücklich werden, dass es ihnen jeder glaubt.“

Jede Leserin findet sich in diesem Buch, da bin ich mir sicher. Wenn sie ehrlich ist zu sich selbst, erkennt sie sich in Tina, in Barbara, Petra, Lisa und Verena. Der Witz aber ist, dass Jovana Reisinger sich nicht lustig macht über die Frauen und auch nicht über die Männer, sie zeigt den Sexismus als so tief verinnerlicht, dass man sich gar nicht weit genug von ihm distanzieren kann, um ihn überhaupt zu durchschauen. Das ist schlau und subtil. Ein raffinierter Roman, der ebenso erheiternd wie grausam ist, ebenso überspitzt wie authentisch. Großartig gemacht!

Spitzenreiterinnen von Jovana Reisinger ist erschienen im Verbrecher Verlag.

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„Ich befand mich bei einem Festschmaus des Teufels und saß am Kopfende“
So, wie Aleksy sie beschreibt, bekommt man den Eindruck: Es gibt niemand Hässlicheren als seine Mutter. Sie holt ihn ab aus dem Erziehungsheim, acht Jahre lang haben sie einander kaum gesehen oder gesprochen. Jetzt ist Aleksy volljährig, und er hasst seine Mutter mit Inbrunst. Denn sie ist

„Der Mensch, der mich mit dem Fuß wie einen Hund weggeschubst hat, als ich bereit war, ein Hund zu sein, wenn ich wenigstens gestreichelt würde.“

Trotzdem kann sie ihn überreden, mit ihr über den Sommer in den Süden zu fahren: Sie verspricht ihm, dass er ihr Auto bekommt, wenn sie tot ist. Und sterben wird sie, denn sie ist unheilbar an Krebs erkrankt. Aleksy willigt ein, nicht mit seinen Freunden nach Amsterdam zu reisen wie geplant, sondern seine Mutter von London, wo sie als polnische Einwanderer leben, nach Frankreich zu begleiten. Sie mieten dort ein Haus, und während die Mutter anfängt zu schwinden, kleiner, kranker, blasser zu werden, wird sie für Aleksy immer schöner: Langsam nimmt er sie nicht mehr als dumm und unansehnlich wahr, auch er selbst verändert sich.

„Der Hass auf meine Mutter war, wenn auch nicht gänzlich verschwunden, so doch eingetrocknet und hatte eine Kruste gebildet.“

Tatiana Țîbuleac wurde in Moldawien geboren und schreibt auf Rumänisch. In einem Interview hat sie erzählt, dass diese Geschichte in einem unaufhaltbaren Rutsch aus ihr kam, dass sie zwei Monate lang täglich acht, neun Stunden geschrieben hat – und so liest es sich auch. Atemlos, sogartig, man kann sich kaum zu einer Pause zwingen. Es geht um fehlende Liebe und Annäherung in diesem Roman, von dessen gräulichen Cover ihr euch nicht abschrecken lassen dürft, um tragische Verluste und ein kaputtes Familiengefüge. Es geht aber auch um Abschied und Versöhnung, und schwer beeindruckend ist dabei die Sprache: Die Autorin schreibt so ungehemmt und ungeschönt, dass man auf den ersten Seiten direkt geschockt ist. Der Hass des Protagonisten schlägt den Lesenden – mit großartigen Sprachbildern – mitten ins Gesicht. Erst nach und nach versteht man, was geschehen ist: mit Aleksys kleiner Schwester und dem Vater, mit der Beziehung zu seiner Mutter. Ein wirklich unvergleichliches Buch, hart, fordernd, wütend, dann aber auch zärtlich, weich, liebevoll.

Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte von Tatiana Țîbuleac ist erschienen bei Schöffling.

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„Ich betrachte mein Buch wie ein Sternenbild“
Jenny Offill hat eine sehr eigene Art zu erzählen: Ihr Schreiben ist fragmentarisch, ihr neues Buch gleicht einem langen Prosagedicht. Sie stellt kurze Absätze zueinander, lässt die Aufmerksamkeit der Ich-Erzählerin springen und flirren. Aber bei näherem Hinsehen spürt man die feinen, fast unsichtbaren Zusammenhänge zwischen den Themen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Lizzie arbeitet für eine Professorin, die als Umweltaktivistin arbeitet, und beantwortet für sie E-Mails. Außerdem versucht sie, ihrem labilen Bruder zu helfen. Eingebettet ist die Erzählung in die Zeit der Präsidentenwahl von Donald Trump, auch Lizzies Sohn und Ehemann kommen vor. Stets jedoch in Bruchstücken, der rote Faden wird nicht auf den einzelnen Seiten sichtbar, sondern erst später, im großen Ganzen.

Dieses Buch strahlt eine eigenartige Ruhe aus. Jeden Abend ein bisschen darin zu lesen, hatte eine entspannende Wirkung auf mich. Vielleicht, weil es so still daherkommt und nicht viele Forderungen stellt an die Lesenden. Gleichzeitig hatte es aber manchmal den gegenteiligen Effekt: Liest man länger darin, wird das Unruhige anstrengend. Als wolle man einem Gespräch zuhören, von dem man nur Fetzen versteht, das ständig von einem Thema zum anderen springt, während man hinterherhechtet und nicht in der Lage ist, sich alle paar Zeilen auf etwas Neues einzustellen. Da sind die Gedanken über Fremde auf der Straße, über die Erderwärmung, ein Witz, eine Aussage von Lizzies Ehemann, Informationen über griechische Geschichte, E-Mails, kurze Episoden, und das alles folgt unmittelbar aufeinander. Dieses Buch ist interessant und anders, zugleich ist es gehetzt und abgehackt. Vielleicht ist es hochgradig seltsam – oder brillant.

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„Für Leute wie uns wird es nämlich nicht mehr gut, sondern immer nur schlechter. Von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr wird alles immer nur schlechter“
Als sie in den Sozialbau gezogen sind, war das schon schlimm genug für Ollis Mutter. Aus jedem Viertel wurden sie davor vertrieben, von der Gentrifizierung und den steigenden Mieten. Aber in der kleinen Sozialwohnung wären sie sicher, das hat Ollis Vater versprochen. Der ist mittlerweile verstorben, und die Siedlung mit den vermeintlich sicheren Wohnungen wurde verkauft. Das bedeutet: Sie wird saniert, sie wird repariert, sie wird aufgehübscht – um Leute anzuziehen, die das nötige Kleingeld mitbringen und die neuen Besitzer noch reicher machen. Die Immobilienhaie, die in Berlin auf diese Weise agieren, hatte die Journalistin Amelie schon einmal im Visier, allen voran den ehemaligen Politiker Falk Hagen. Doch aus der Geschichte damals, für die sie Olli interviewt hat, ist nichts geworden. Stattdessen kümmert sie sich Tag und Nacht um ihre Kinder: ein fast dreijähriges Mädchen und ein neugeborenes Baby. Ihr Mann Stephan ist Chefredakteur und arbeitet sich den Arsch ab, um seine Zeitung zu retten. Trotzdem hat er noch die Zeit gefunden, nebenbei Amelie zu betrügen und eine Affäre anzufangen.

Die Journalistin Eva Ladipo hat einen gut lesbaren, flotten Roman geschrieben über ein brandheißes Thema, das viel zu wenig Beachtung findet: die Skrupellosigkeit von Investoren, die Geldmacherei auf dem Rücken der Armen, die schwindelerregend hohen Miet- und Kaufpreise von Stadtwohnungen, Milieu und Klassismus. Dass die Menschen, die vor der Gentrifizierung in den Vierteln gewohnt haben, ihre gesamte Lebensgrundlage verlieren, ist allen egal – den Medien genauso wie der Politik. Es geht um Gier und Ignoranz in diesem Buch, um die vielzitierte Immobilienblase, um eine erschreckende Entwicklung, die uns viel mehr beschäftigen sollte, als sie es tut. Zwar ist es mit über 500 Seiten ein entsprechend wuchtiges Werk, es liest sich aber ausgesprochen flüssig. Sehr gefeiert habe ich, dass Protagonistin Amelie Mutter ist – mit all den Herausforderungen, die es mit sich bringt, es mit einem Mann wie Falk Hagen aufzunehmen, während man ein Baby hat, das gestillt werden muss. Endlich darf auch mal eine Frau erzählen, die sich nicht mit voller Kraft allen Ungerechtigkeiten widmen kann, weil sie nicht unabhängig ist. Die Autorin, die selbst Politische Wissenschaften studiert hat, hat ausgezeichnet recherchiert und präsentiert einen Roman, der uns die eigene Machtlosigkeit spüren lässt.

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„Obwohl mein Mann Gynäkologe ist, versucht er ständig, sich als Künstler zu präsentieren. Und das ist nicht das Einzige, was mich an ihm nervt“
Zuerst einmal muss ich sagen: Ich liebe dieses Cover. Es passt perfekt zum Inhalt und zeigt auf humorige Weise, was wir gern tun mit Bildern von Menschen, die uns am Arsch gehen: ihnen das Gesicht zerkratzen. In elf Geschichten erzählt die mazedonische Schriftstellerin Rumena Bužarovska von Menschen, die nerven, und es sind allesamt Männer. Ehemänner. Da gibt es den Gynäkologen, der sich als Künstler sieht, aber nur malt, womit er sich auskennt, und seine Frau hasst die Mösengemälde. Da gibt es die Frau, die sich als Künstlerin sieht, und ihren Mann, der heimlich über sie spottet, weil sie malt wie ein Kindergartenkind. Dann sind da der betrügende Gatte, der an der Tankstelle Kondome kauft und seine Frau zum Äußersten treibt, und der Vater, der die fragwürdigen Charakterzüge seines Sohnes auf die Gene schiebt – ohne zu wissen, wie falsch er damit liegt, außerdem der Mann, der seiner Frau nicht gestattet, ihre Mutter zu besuchen, was böse Folgen hat.

Dieses Buch ist ein herrlicher Spaß, eine Sammlung superböser, ungeschönter Blicke auf Ehe und Zusammenleben, auf Machos und Lügner und alles, was schiefläuft in Partnerschaften. Am besten finde ich, wie gut Rumena Bužarovska herausgearbeitet hat, dass man sich nach Jahren des Zusammenseins einfach unglaublich ankotzt, dass man diejenigen, die man am meisten liebt, oft auch am meisten hasst. Ihre Stories sind kleine Wutreden, sind zornig und polemisch und letztlich auch politisch, sie sind, wenn man genau hinsieht, sehr feministisch. Denn sie rechnen ab mit einem Bild von klischeehafter (toxischer!) Männlichkeit, sie sind aus der Ich-Perspektive der Frauen geschrieben, die diese Männlichkeit seit langer Zeit durchschauen und entlarven. Die sich nichts mehr befehlen lassen wollen, die keinen Bock haben auf den ganzen Scheiß, den ihre Ehegesponse ihnen Tag für Tag erzählen, und darauf, wie wichtig sich die Kerle nehmen. „Du bist geistreich. Das ist selten bei einer Frau“, heißt es da von Männerseite, und es ist kein Wunder, dass man diesen Männern endlich das Gesicht zerkratzen möchte. Ein Buch mit feinem Humor und großer Sprengkraft.

 

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„Als wären wir durch das Zurücklassen unserer Dinge leichter geworden“
Die Ich-Erzählerin hat einen Freund namens Emil und einen Geliebten namens Leon, und in manchen Nächten, in denen sie ausgeht, hat sie spontan Sex mit Fremden. Sie muss sich nicht rechtfertigen, denn Emil fragt nie, auch nicht, wenn sie erst am nächsten Tag zurück in die gemeinsame Wohnung kommt. Es könnte so bleiben, findet sie, es ist gut so, der Alltag mit Emil, der zärtliche Sex mit dem verheirateten Leon. Nur möchte Emil ein Haus bauen, er möchte ein Kind haben – und die Erzählerin fühlt sich dazu nicht bereit.

Unterwasserflimmern von Katharina Schaller ist ein aus mehreren Gründen interessantes Buch: Zum einen habe ich es geliebt, dass sie ihre Protagonistin einfach vögeln lässt, ohne moralische Beschränkungen, ohne dass das gleich als krank gilt, als irgendwie pathologisch, ohne dass das auf eine miese Kindheit zurückzuführen ist oder sonstigen Blödsinn. Frauen wollen Sex haben, Frauen genießen Sex – und das sollte endlich frei erzählt werden dürfen. Das Narrativ, dass der Mann „sich austobt“, Affären hat, Befriedigung sucht, ist für uns okay, aber wenn eine Frau das tut, schlägt unsere Misogynie zu. Das ist tabu. Das darf die nicht. Es ist daher kein Wunder, dass Lesende sagen, dieser Roman habe „zu viele Sexszenen“ und sei „unangenehm“. Das hat mich sehr amüsiert, und ich feiere Katharina Schaller für ihren Mut. Schade nur, dass die Rezipienten nicht verstehen, woher ihr Unmut rührt: So fühlt es sich an, wenn ein uns aufgedrücktes Tabu gebrochen wird.

Der zweite Teil des Romans hatte dann aber auch für mich seine Tücken, denn dieses Hadern und Zögern und Nichtwissenob und Nichtwissenmitwem, das zieht sich. Und während ich es großartig finde, dass wir als Lesende nah dran sind an der Erzählerin, an ihrem Körper, ihrem Innenleben, denke ich auch: Du verwöhntes Gör mit deinen first world problems, was ist los mit dir, check your privilege. Haha! Da ist sie wieder, die liebe Misogynie. Aber mich nerven generell Figuren, die endlos um sich selbst kreisen. Gut finde ich, dass nichts an diesem Roman vorhersehbar ist, auch nicht (und schon gar nicht) das Ende. In meinen Augen ein wichtiges Stück Literatur, das hoffentlich dazu beiträgt, dass offener von weiblichem Begehren erzählt wird und werden darf.