Bücherwurmloch

„Wahnsinnig, ja, das könnte ich glatt werden“

„Was ich heute putze, ist morgen wieder schmutzig, was ich heute füttere, hat morgen wieder Hunger.“

Sie ist eine robuste, sehr pragmatische Frau: Nadja lebt seit dreißig Jahren mit ihrem älteren Mann Lew in der Einsamkeit der westrussischen Wälder. Und diese Einsamkeit ist allumfassend: Außer den beiden ist niemand da. Einst hatten sie hier ein Labor und Sommercamps, einst hatten sie zwei Kinder und mehrere Bären. Inzwischen redet Lew immer weniger und Nadja führt ein inneres Zwiegespräch mit dem Lokführer, der niemals Halt in ihrer Gegend macht.

„Um diese Tageszeit hat alles gefressen oder es wurde gefressen.“

Nach und nach erzählt sie uns, wie es kam, dass sie in dieser unwirtlichen Gegend gelandet ist, und was in dem Jahr geschehen ist, an das sie sich nicht erinnern will. Vom Himmel ertönen in unregelmäßigen Abständen undefinierbare, sehr laute Geräusche, die Nadja sich nicht erklären kann und die Lew vollkommen verstören.

„Immer wird man vor den Menschen fliehen müssen.“

Endes des Jahres 2021 war dieses Buch ein spätes, aber nicht weniger großartiges Highlight für mich: Es ist eigenwillig, sprachmächtig und melodisch, hat einen seltsamen Sound und eine arge Sogwirkung. Ich hab es förmlich gefressen und sehr gemocht, vor allem, weil einzelne Sätze wie Lichtblicke aus dem düsteren Dickicht herausblitzen:

„Die Kinder waren über unseren Köpfen untergebracht wie ein kleiner Vorrat Liebe auf dem Dachboden.“

So begeistert hat es mich, dass ich mir sofort danach zwei ältere Romane von Marente de Moor bestellt habe, auf die ich nun sehr gespannt bin. Mit „Phon“ ist der niederländischen Autorin, die Slawistik studiert und lange in St. Petersburg gelebt hat, ein vielschichtiger, verstörender, origineller Roman gelungen, der aus der Masse heraussticht. Wenn ihr das leicht Rätselhafte mögt, das leise Geheimnis und ungewöhnliche Orte, kombiniert mit einer präzisen, eingängigen Sprache, dann lege ich ihn euch ans Herz.

„Was du noch hörst und wir längst nicht mehr, ist das Phon. Das Hintergrundrauschen des Lebens.“

Phon von Marente de Moor ist erschienen bei Hanser.

Bücherwurmloch

„Die perfekte Frau lacht, während sie Salat isst, weil Salat ein perfektes Frauenessen ist“

Alisa ist eine große, schöne junge Frau, die sich jedoch nicht als schön empfindet, sondern als fett, als massig, hässlich. Um Freunde zu finden, um am Leben teilzunehmen, um zu studieren. Wenn sie dünn wäre, ja, dann. Dann würde alles beginnen, nur erreicht sie diesen Idealzustand nie. Jeden Tag nimmt sie sich vor, es besser zu machen, in die Schule zu gehen, ihre drei Jobs zu behalten, sich gesund zu ernähren und vor allem nicht zu kotzen. Jeden Tag scheitert sie daran. Als ihre Freundin und Mitbewohnerin Mascha mit nur dreißig Kilo in der Klinik landet, weint Alisa. Aber nicht aus Sorge oder Mitgefühl, sondern weil sie weiß, dass sie diese Zahl nie auf ihrer Waage lesen wird. Schwierig ist ihr Verhältnis zu ihrer Mutter Tanya, die einst die Ukraine Richtung Deutschland verlassen hat, damit Alisa ein besseres Leben führen kann. Nur kommt dieses bessere Leben nicht zustande, denn auch Alisa landet schließlich in der Klinik.

Als ich dieses Buch in meiner Insta-Story gezeigt habe, haben mir viele geschrieben, dass sie es großartig fanden. Nachdem ich es gelesen habe, bin ich nicht sicher, wieso. Einerseits ist dieser Roman sehr wichtig, weil er das Thema Essstörungen detailgenau behandelt, andererseits ist er geradezu überladen mit Klischees. Da ist natürlich der Migrationshintergrund, der Druck, der auf den Kindern von Einwanderern lastet, da ist die konfliktbeladene Mutter-Tochter-Beziehung, der obligatorische Ballettunterricht, das Fatshaming der Gesellschaft, da ist auch der fast wie eine Karikatur wirkende Masseur, der an die falschen Stellen greift (und die Mutter glaubt selbstverständlich nichts davon). All das findet statt, ich möchte es nicht schmälern. Für einen Roman genügt es in meinen Augen aber nicht unbedingt, diese Zustände so simpel abzubilden. Wo ist die eigentliche Geschichte? Was soll dieses Buch mir sagen, was ich nicht schon weiß? Fast pflichtschuldig zählt Lana Lux, die Ernährungswissenschaften studiert hat, sämtliche bekannten möglichen Ursachen für Anorexie und Bulimie auf, dadurch wirkt der Roman arg schablonenhaft. Eine Auseinandersetzung mit dem System dahinter, das Schönheitsideale prägt, um Frauen kleinzuhalten, findet nicht statt. Auch sprachlich ist er einigermaßen unaufregend. Nichtsdestotrotz ist er natürlich aufgrund der Thematik und des Leidensweges, den viele junge Frauen beschreiten, sehr eindrücklich.

Jägerin und Sammlerin von Lana Lux ist erschienen bei Aufbau.

Bücherwurmloch

Endlich raus aus New York: Ein Stück außerhalb der Stadt haben Amanda und Clay mit ihren Kindern ein Ferienhaus gemietet. Sie wollen das süße Leben am Pool genießen, befüllen den Kühlschrank und lassen es sich gut gehen. Doch plötzlich steht ein älteres Schwarzes Ehepaar vor der Tür, Ruth und GH, die behaupten, die Besitzer des Ferienhauses zu sein. Einen Stromausfall habe es in New York gegeben, behaupten sie, ein umfassendes Blackout. Sie bitten um Unterschlupf in ihrem eigenen Haus, und obwohl Amanda dagegen ist, müssen sie natürlich nachgeben. Wie könnten sie den Besitzern den Zugang zu einer Villa verwehren, die sie nur gemietet haben? Aber sagen die beiden die Wahrheit, was ist in der Stadt geschehen? Warum funktionieren die Handys und der Fernseher nicht mehr, wieso tauchen plötzlich die Tiere aus dem Wald auf? Und was hat dieser massiv laute Knall zu bedeuten?

Rumaan Alam hat ein Buch mit einer sehr starken Sogwirkung geschrieben: Schon nach wenigen Seiten war ich völlig gefesselt und habe bis spätabends gelesen. Ein fulminanter Auftakt also, und die Geschichte entwickelt sich dann auch recht vielversprechend. Als allwissender Autor wandert er von einer Figur zur nächsten, lässt die besorgte Mutter Amanda über ihre Kinder Rose und Arthur nachdenken, gibt dem väterlichen Beschützerinstinkt von Clay eine Stimme und schaut auch durch die Augen der vermeintlichen „Eindringlinge“ Ruth und GH. So weiß man beim Lesen eigentlich stets recht gut Bescheid über das Innenleben aller Beteiligten, Geheimnisse gibt es keine. Dennoch bleibt alles undurchschaubar, ein seltsames Verwirrspiel, bei dem es plötzlich vom Himmel donnert und Zähne ausfallen. So gut ich den Beginn des Buchs fand, so ratlos hat mich sein Ende zurückgelassen: Ich hatte am Schluss mehr Fragen als Antworten, und das fand ich bei einer solchen Ausgangssituation – mit einem spannenden Rätsel anzufangen – dann doch sehr schade.

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„Heute gibt es stichhaltige Beweise dafür, dass unsere Ältesten recht hatten – Bäume sprechen tatsächlich miteinander“

„Nach unseren Geschichten war wiingaashk, Süßgras, die allererste Pflanze, die auf der Erde wuchs, und ihr Duft ist eine süße Erinnerung an die Hand der Himmelsfrau. Daher wird es als eine der vier heiligen Pflanzen meines Volks verehrt. Wer seinen Duft einatmet, dem fallen Dinge ein, von denen er nicht wusste, dass er sie vergessen hatte.“

Robin Wall Kimmerer ist studierte Biologin und Professorin für Umweltbiologie. Sie ist außerdem Angehörige der Citizen Potawatomi Nation und Gründerin des Center for Native Peoples and the Environment. Ihre Geschichte ist eine von großem Leid und einem Raubbau unvorstellbaren Ausmaßes. Geraubt wurde den Native Americans ihr gesamtes Leben, ihr Land und ihre Kultur, geraubt wird der Erde alles, was sie bewohnbar macht. Dieses kluge, sehr gefühlvolle Buch, das die Tatsachen aufzeigt wie eine sanfte Anklage, macht die wahren Wunden, die die weißen Menschen anderen Völkern und der Natur schlagen, so richtig bewusst. Dabei erzählt die Autorin eigentlich von sich selbst. Wie ihr Interesse an Pflanzen schon als Kind sehr groß war, wie sie jedoch abgeschnitten vom Wissen ihrer Ahnen aufwachsen musste. Wie sie Biologie studierte und alles glaubte, was sie gelehrt wurde, dass die Natur nur mit dem rationalen Verstand zu begreifen und zu vermessen sei. Wie es sehr lange dauerte, bis sie ihrem eigenen Gefühl vertraute und einen Weg fand, das alte Wissen und die modernen Methoden zu vereinbaren.

Es ist bisher nur Rutger Bregman mit „Im Grunde gut“ gelungen, mich mit einem Sachbuch zum Weinen zu bringen. Robin Wall Kimmerer weiß so vieles, von dem ich keine Ahnung habe, sie hat eine Verbundenheit zur Natur, von der wir alle unendlich weit entfernt sind. Sie versucht, die verlorene Sprache ihrer Vorfahren zu lernen, sie hat Geduld, sie arbeitet im Einklang mit den Jahreszeiten. Und sie bringt in „Geflochtenes Süßgras“ uns technikaffinen Menschen näher, was wir lange schon vergessen haben. Ein Buch, das mich todtraurig gemacht und gleichzeitig beglückt hat.

„… erinnere ich mich wieder, was es bedeutet, sich der Welt als einem Geschenk zu öffnen, überflutet zu werden mit der Gewissheit, dass die Erde für uns sorgt, dass sie alles, was wir brauchen, direkt zur Verfügung stellt.“

Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen von Robin Wall Kimmerer ist erschienen bei Aufbau.

 

 

Bücherwurmloch

Es ist eigentlich ein bisschen lustig, dass ich sehr lange gebraucht habe, um dieses Buch zu lesen. Weil ich meistens zu erschöpft dazu war. Jeden Tag habe ich mich aufs Weiterlesen gefreut, und jeden Tag habe ich keine Zeit dafür gefunden. Bis zum Abend, als ich dann endlich alles erledigt hatte, aber leider komplett aus den Latschen gekippt bin. Dann habe ich trotzdem noch in Franziska Schutzbachs Werk geblättert, genickt und nicht gewusst, ob ich lachen oder weinen soll. Die ganze Zeit über war ich mir der Ironie sehr bewusst. Weniger lustig ist nämlich, dass die Geschlechterforscherin und Soziologin mit allem, was sie schreibt, Recht hat. Franziska Schutzbach beschäftigt sich seit Langem mit Antifeminismus, Reproduktionspolitiken und Rechtspopulismus, bereits mit einem Buch über die Pick-up-Artist-Szene hat sie auf sich aufmerksam gemacht. Nun also widmet sie sich der Erschöpfung der Frauen, die kein Kollateralschaden ist, sondern im Patriarchat ganz gezielt hervorgerufen und in Kauf genommen wird. Sie schreibt darüber, wie Frauen das Menschsein abgesprochen wird und Minderwertigkeitsgefühle erzeugt werden, über Fatshaming und Verlegenheitssex, Elternschaft und die Verausgabung im Beruf. Am meisten feiere ich sie für den Satz: „Elternsein bedeutet radikale Pausenlosigkeit.“

Im Endeffekt ist es so: Dies ist sozusagen das Sachbuch zu meinem Roman, der im März erscheinen wird. Hier sind alle harten Fakten und Tatsachen versammelt, die ich in Fiktion gegossen habe. Das war für mich ungemein interessant zu lesen. In kein anderes Buch habe ich derart viele Eselsohren gemacht, und ich weiß schon jetzt, dass ich bei meinen Lesungen aus zahlreichen Bühnen daraus zitieren werde. Dass ich, wann immer mir jemand eine Fangfrage stellen wird, dank Franziska Schutzbach über die Zahlen zum Thema verfügen werde. Ja, es erscheinen zurzeit viele feministische Sachbücher, die aufzeigen, welch tonnenschwere Last unsere Gesellschaft auf den Frauen ablädt. Ihr müsst sie nicht alle lesen, dieses hier aber sehr wohl, denn es ist klug, umfassend und aufschlussreich. Es wird euch die Augen öffnen und die Hintergründe zu dem, was ihr bereits wisst und spürt, erläutern.

Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit von Franziska Schutzbach ist erschienen bei Droemer Knaur.

Bücherwurmloch

„Das war gruselig“

Eines Morgens hört Anna McDonald einen True Crime Podcast. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Zum einen bricht ihr Mann überraschend mit Annas bester Freundin, mit der er eine Affäre hat, in den Urlaub auf und nimmt auch gleich ohne Ankündigung die zwei gemeinsamen Töchter mit. Zum anderen geht es in der Podcast-Folge um den Untergang eines Segelschiffs, bei dem mehrere Menschen gestorben sind – darunter ein Mann, den Anna in ihrer Vergangenheit kannte. Was das für eine Vergangenheit ist, kommt bald ans Licht, Anna heißt nämlich in Wahrheit ganz anders. Und macht sich jetzt auf die Suche nach Antworten auf die Fragen, die der Podcast stellt. Mit dabei: der magersüchtige Popstar Fin, Ehemann von Annas (früherer) bester Freundin. Gemeinsam decken sie eine Lüge nach der anderen auf und geraten dabei in Gefahr.

Witzigerweise habe ich letztens zum ersten Mal selbst einen True Crime Podcast gehört, nämlich Weird Crimes, weil mich die Folge über House of Gucci interessiert hat. Danach hab ich mir Wissen Weekly angehört, wo erklärt wurde, warum wir True Crime so geil finden – und direkt im Anschluss hab ich zufällig dieses Buch gelesen. Das hat sich schön zusammengefügt. Die Idee, in einem solchen Podcast etwas zu entdecken, das einem bekannt vorkommt, ist zwar nicht neu, aber trotzdem gut: Denise Mina hat rundherum eine spannende Geschichte gesponnen, die zunehmend rasanter wird. Ein versunkenes Schiff, ein uralter Fluch, eine Explosion, Mord und Vergewaltigung: Dieser Thriller lässt wirklich nichts aus. Etwas irritiert war ich von der Entscheidung der Autorin, den wegen seiner Magersucht arg schwächelnden Fin zum Mit-Protagonisten zu machen, andererseits ist er immerhin eine originelle Figur. Wie jedes Buch im Bereich Spannungsliteratur hat auch dieses seine Probleme mit der Glaubwürdigkeit, es wird aber alles ganz okay aufgelöst. Für mich war es ein lesenswerter Ausflug in ein Genre, das ich sonst meist vernachlässige.

Klare Sache von Denise Mina ist erschienen bei Ariadne.

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„Und eh du dich versiehst, liegst du tot in der Gosse“

Dorians Tocher Lecia wurde ermordet, die Polizei hat nichts getan. Weil es ja „nur“ Prostituierte waren, die tot auf der Straße liegengelassen wurden, weil niemand eine Verbindung herstellte zwischen den Opfern. Lecia ist nicht anschaffen gegangen, umgebracht wurde sie trotzdem. Die Western Avenue in Los Angeles ist gefährlich für Frauen. Seit dreizehn Jahren versorgt Dorian nun in ihrem Imbisswagen die Frauen von der Straße mit frittiertem Fisch. Dann wird der Mörder von damals plötzlich wieder aktiv: Eine nach der anderen fallen sie ihm zum Opfer. Das ruft Detective Esmeralda Perry auf den Plan, die eher nüchtern an die Sache herangeht und mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Aber es gibt eine Frau, die überlebt hat und die etwas weiß, eine Frau, der bisher nie jemand zugehört hat …

Ivy Pochoda hat ein schockierendes, richtig gutes Buch geschrieben über extreme Gewalt an Frauen, die nicht geahndet wird, weil Prostituierte ein schlechtes Standing in unserer Gesellschaft haben. Trotz der auffälligen Todesfälle wird nicht zusammenhängend vermittelt, und unausgesprochen wird den Frauen die Schuld zugeschoben: Hätten sie sich nicht auf der Straße rumgetrieben, wäre ihnen nichts passiert. Das ist eine perfide Denkweise auf Basis der Opfer-Täter-Umkehr, die von der Autorin sorgfältig durchleuchtet wird. Der Roman ist dramaturgisch klug gemacht und wartet mit einer passenden, logischen Auflösung auf. Schön ist, dass er anhand von Frauenporträts erzählt wird und die vielen Facetten von Gewalt gegen Frauen zeigt. Ivy Pochoda taucht tief in das Milieu und in die Gefühlswelt derer ein, die das Leben auf diese Seite der Stadt verschlagen hat. Ein Buch, das lange nachhallt.

„Ich war schon immer interessiert an der Zerstörung des weiblichen Körpers. Oder vielleicht eher daran, wie die Welt darauf aus ist, ihn zu zerstören. Er ist, würde ich sagen, mehr als alles andere Zielscheibe für Gewalt, psychische, physische und emotionale Gewalt. Mehr als irgendetwas anderes auf der Welt.“

Diese Frauen von Ivy Pochoda ist erschienen bei ars vivendi.

 

 

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„What’s worse, after all, than a hungry woman?“

„I wanted a career. I wanted to do something that mattered. At a time when it was unseemly for a woman to want these things.“

Schon als Kind ist Katherine außerordentlich mathematisch begabt – und bekommt als Mädchen mit asiatischen Wurzeln dafür nur Ärger. Verhöhnt vom Schulsystem, geht sie dennoch ihren Weg und schreibt sich in den Sechzigern als einzige Frau an der Uni für Mathematik ein. Dort geht es ähnlich weiter, keiner nimmt sie ernst. Ihre Ergebnisse werden ignoriert oder als die eines Mannes ausgegeben, und als sie wissenschaftlich zu arbeiten beginnt und eine Beziehung mit einem Mathematiker beginnt, denken alle, es sei einfach nur großzügig von ihm, auch ihren Namen auf die Publikationen zu schreiben. Misogynie und fehlende Anerkennung überall, zudem macht ihr das Rätsel ihrer Herkunft zu schaffen – bis Katherine nach Deutschland reist und dort eine erstaunliche Entdeckung macht.

Ich habe mit Mathematik nichts am Hut, ich kann nur Buchstaben. Umso faszinierender finde ich es, wenn sich jemand damit auskennt – und dieser Roman ist für mich eines der überraschendsten Highlights des Jahres 2021. Zwar ist mir die Auflösung von Katherines Familiengeschichte in Deutschland zu sehr an den Haaren herbeigezogen und dieser Part hat mich genervt, aber im Kern des Buchs steckt eine wichtige Botschaft: dass Frauen systematisch aus naturwissenschaftlichen und technischen Bereichen ausgeschlossen wurden und werden, weil man ihnen keinerlei bahnbrechende Erkenntnisse auf diesem Feld zutraut. Und wenn sie welche erreichen, werden sie oft genug den Männern zugeschrieben. Die Autorin Catherine Chung ist selbst Mathematikerin und erzählt in diesem zutiefst feministischen Roman von Biss und Ehrgeiz, von Intelligenz und einem Kampf, der nie endet. Ganz nah an ihrer Protagonistin schildert sie den Zwiespalt der Frauen, die aufbegehren und am massiven Widerstand der Männer zerrieben werden. Und gleichzeitig von der Schönheit der Mathematik, diesem Feld voller Rätsel und Geheimnisse.

Bücherwurmloch

„Das Patriarchat war schon immer halbwegs einfallsreich darin, mannigfaltige Erklärungen dafür zu finden, warum das Kümmern eine weibliche Aufgabe sein solle“

„Die drei in diesem Buch beschriebenen Figuren sind historisch gewachsen. (…) Sie liefern das Fundament dafür, dass Frauen schlechter bezahlt werden und wie selbstverständlich die Drecksarbeit machen, dass sie zugleich als sexuell vulnerabel und verfügbar gelten, dass ihnen weiterhin weniger Kompetenz und Mündigkeit zugestanden wird.“

Diese drei Figuren sind Ann-Kristin Tlusty zufolge die sanfte, die süße und die zarte Frau. Die sanfte Frau ist die gebende, niemals fordernde Frau. Sie kümmert sich, sie erledigt still die ihr auferlegten Arbeiten, und das sind viele. Sie ist die hinterherwischende Frau, deren Arbeit für selbstverständlich gehalten und ständig abgewertet wird. Die süße Frau ist die sexuell aktive und gefügige Frau, die oft zumindest nur halb gewollten Sex hat (den ich gern Cat Person Sex nenne) und deren Konsens die Antwort auf sämtliche sexualpolitische Fragen sein soll. Die zarte Frau dagegen ist harmlos und abhängig, lieblich und ein bisschen hilflos. Sie ist die zentrale Figur Tausender RomComs und Liebesromane, kurz gesagt die Frau, die vom Mann gerettet werden muss.

Was ich sehr spannend finde: wie junge Frauen feministische Themen wahrnehmen und einordnen. Ann-Kristin Tlusty ist 1994 geboren, zehn Jahre später als ich, sie hat also einen großen Vorsprung mir gegenüber. Ihr Buch zu lesen, war insofern interessant, weil ich über alle diese Informationen bereits verfüge – sie von ihr aber auf sehr reflektierte und gut aufgeschlüsselte Weise aufbereitet worden sind. Ich halte ihr Buch deshalb für außerordentlich wichtig, es ist klug, voller Wut, aber auch Weitblick, mit den Fakten, die man oft genug für Diskussionen benötigt. Hier stehen sie drin, und sie sind so eingebettet, dass wirklich jeder sie verstehen und verarbeiten kann. Nicht zuletzt deshalb ist „Süß“ natürlich ein Buch, das Männer lesen sollten. Aber in erster Linie richtet es sich an Frauen. Denn wie hat meine Lektorin letztens zu mir gesagt? „Vergiss die Männer. Die Veränderung muss von den Frauen ausgehen.“ Und ich denke, da hat sie Recht.

„Wir werden weder das Problem ungleich verteilter Sorgearbeit lösen noch unsere Sexualität befreien oder allen Menschen gleichermaßen viel Mündigkeit zutrauen können, wenn wir unsere Gesellschaft nicht fundamental verändern.“

Süß. Eine feministische Kritik von Ann-Kristin Tlusty ist erschienen bei Hanser.

Bücherwurmloch

„Sexuelle Gewalt an Frauen – ein georgischer Nationalsport“
Fangen wir mit der Autorin an: Tamar Tandaschwili setzt sich in Georgien als Aktivistin für Frauen und die Rechte von Minderheiten ein. Mit diesem Buch, für das sie einen renommierten Literaturpreis erhalten hat, hat sie heftige Diskussionen ausgelöst. In einem Land, in dem sich Menschen, die gender delightful sind und sich außerhalb der heteronormativen Fesseln bewegen, in Gefahr befinden, ist das kein Wunder, denn der schmale Roman hat es in sich. Ich habe nicht mit einer solchen Wucht gerechnet. Aber erst einmal von vorne: Am Anfang habe ich ehrlich gesagt gedacht, es handelt sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten, so wenig schienen die einzelnen Kapitel miteinander zu tun zu haben. Irgendwann habe ich aber die feinen Verbindungen entdeckt und wie alles mit allem zusammenhängt. Diese Erkenntnis macht den erzählten Inhalt noch heftiger. Aber worum geht es überhaupt? Schwer zu erklären.

Einerseits ist da Salome, die als junges Mädchen sechs Jahre lang von mehreren Gleichaltrigen als Sexsklavin behandelt wurde. Dann ist da die Ermittlerin Medea, die sich ihres Falls annimmt. Außerdem gibt es noch eine Oberin im Kloster, die einem Mann die Eier abschneidet, und ein Mädchen mit Behinderung, das nicht aufhören kann zu masturbieren, sowie eine trans Frau, die von ihren Eltern verstoßen wurde. Was die alle miteinander zu tun haben und wer da sonst noch mitspielt, erfahrt ihr natürlich, wenn ihr es lest. Und das solltet ihr tun, denn für mich gehört dieser ungewöhnliche Roman zu den Überraschungen in diesem Leseherbst: Er ist hart und direkt, verrückt und wild, zutiefst feministisch und in seinem Kern eine ungeschönte Anklage. Eines dieser Bücher, die wir – nicht nur in Georgien – brauchen. Chapeau!

Als Medea Rache übte und die Liebe fand von Tamar Tandaschwili ist erschienen im Residenz Verlag.