„Sie sagt, du brauchst keine Angst zu haben. Du hast nur geträumt. Aber das stimmt nicht“
Charly ist gestorben. Die Schildkröte, die 1976 zu Nele, Karen und Hannes ins Haus kam, ist vierzig Jahre alt geworden – die drei Geschwister sind lange schon fort. Die Eltern, Mutter Frieda und Stiefvater Heinrich, wollen Charly beerdigen und laden dazu die ganze Familie ein. Doch das ist nicht einfach irgendein Familientreffen, denn dies ist keine Familie, die jeden Sonntag beim Braten zusammensitzt. Sie ist vielmehr eine zufällige Ansammlung von Menschen, die alle auf ihre Art zerbrochen sind. Heinrich, der aus seiner Kindheit voller Gewalt heraus dagegen angekämpft hat, selbst zu verletzen, was ihm nicht gelungen ist. Alexander, Heinrichs Sohn aus erster Ehe, den er verlassen, aber nie vergessen hat. Nele, die nach mehreren Fehlgeburten ein beeinträchtigtes Kind in China adoptiert hat, Max, der keinen Vater hat und so viel Wut in sich. Karen, die riskiert, dass ihr drogensüchtiger Sohn Tim vor ihrer eigenen Haustür erfriert. Hannes, der viel fühlt und wenig spricht, dessen Sohn Jan verzweifelt ist, weil seine Freundin Meytab vergewaltigt wurde. Sie alle tragen schwer an ihren Geschichten, an ihren seelischen Wunden. Sie alle kommen, um sich von Charly zu verabschieden. Und als sie einander sehen, blicken sie in ihre eigenen Abgründe. Aber so ist es in allen Familien: Erst muss etwas aufbrechen, um dann vielleicht endlich heilen zu können.
Rabenkinder von Heike Duken hat für mich von Anfang an geleuchtet. Angefunkelt hat es mich, schon nach der ersten Seite, nach dem Prolog, ich war sofort angefixt. Von allen 26 Leseproben war dies die eine, die mich ganz innen drin getroffen hat. Ich wusste schon da, dass das gut sein würde. Ich wusste, dass das mein Buch war. Ich wollte es unbedingt lesen, und nach zwei atemlosen Stunden am Bildschirm mit hektischem Scrollen war mir klar, dass ich mein Siegermanuskript gefunden hatte. Als wir mit dem Blogbuster begonnen haben, habe ich geschrieben: Ich langweile mich schnell, und von guter Literatur erwarte ich genau das Gegenteil: dass sie mich rausreißt, mich wach macht, im Idealfall richtiggehend aufschneidet, mir ins Gesicht schlägt. Etwas in mir anrührt, Empfindungen auslöst – die gar nicht nur positiv sein müssen. Und genau das hat Rabenkinder geschafft. Es hat mich traurig gemacht und nachdenklich, es hat mich verzweifeln lassen, aber auch zum Lächeln gebracht.
Was mich an Heike Duken so fasziniert, ist nicht nur, dass sie schreiben kann. Sondern dass sie sich traut, mit dem Schreiben aufzuhören. Sie hat den Mut, zu schweigen. Nicht alles auszuerzählen. Den Leser selbst hineinfühlen zu lassen. Sie glaubt an ihn und daran, dass er die leisen Zwischentöne hören kann. An vielen Kapitelenden hängen starke Sätze in der Luft, die lange nachklingen, die gar nicht wuchtig sind und doch wie Wurfsterne wirken, wie Schläge. Das ist großartig und macht Rabenkinder zu einem harten, intensiven Buch, das man aushalten muss. Der Roman setzt sich zusammen aus lauter Splittern, aus der Vergangenheit und Gegenwart, in verschiedenen Perspektiven, wie ein Mosaik. Und erst einmal macht nichts daran Sinn, man braucht Geduld. Aber wenn man sie aufbringt, dann lohnt es sich – sogar sehr.
„Ich glaube nämlich, dass wir einander nicht kennen und vieles nicht voneinander wissen, gerade in Familien. Eine Ausbilderin sagte einmal: Kinder kennen ihre Eltern überhaupt nicht. Sie sehen sie nur als Mutter und Vater und auf sich selbst bezogen“,
sagt Heike Duken, die an Schreibwerkstätten mit Josef Haslinger und Thomas Hettche teilgenommen und mit einem Auszug aus diesem Manuskript das Stipendium des Deutschen Literaturfonds erhalten hat.
„Und was mich immer wieder beschäftigte, waren diese Geschichten von Kindern, die ihre Eltern nicht glücklich machen. Frauen, die zwischen anderen Müttern sitzen und wissen, dass sie anders sind, gezeichnet, weil ihre Kinder sich verweigern und ihren Weg und ihr Glück nicht finden.“
Das ist ein Aspekt von Rabenkinder, der auch im Titel steckt. Und doch ist da noch mehr:
„Es ist auch eine Geschichte über das, was ich beruflich so in mich hineinnehme, und was dann wieder heraus muss“,
erklärt Heike Duken, die als Psychotherapeutin mit eigener Praxis arbeitet.
„Ich hatte eine Zeit lang viele vergewaltigte Frauen bei mir in Therapie. Es war grauenhaft. Die Taten zerstörten so viel im Leben dieser Frauen, und ich habe ihren Überlebenswillen versucht zu unterstützen, und sie waren so stark. Ich wollte etwas über die Dissoziationen schreiben und über das Überleben. Über das wahrhaft Zerstörerische von Gewalt in jeder Hinsicht. Ohne mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, sondern um das Geschlagene und Zerbrochene zu verstehen und zu beschreiben.“
Das ist ihr gelungen. Und doch zeigt Heike Duken auf gerade mal 233 Seiten nicht nur Gewalt und ihre Folgen, sondern auch Positives. Ein bisschen Hoffnung. Das Bemühen jedes Einzelnen, etwas Gutes einzubringen, etwas zu verändern, selbst wenn es nur sehr kleine Dinge sind. Im letzten Teil des Romans folgt keine kitschige Hollywood-Versöhnung, sie wäre völlig fehl am Platze, und doch gibt es mancherorts ein Gespräch, wo vorher Schweigen war, oder Hilfe, wo vorher Unverständnis war. Es gibt die Aussicht, dass die Kinder es besser machen werden als ihre Eltern, eine Chance, die jede Generation aufs Neue bekommt. Nichts davon spricht Heike Duken aus, aber das muss sie auch nicht. Man kann es sehr deutlich spüren.
Auf dieses Buch freue ich mich sehr!
Hoffentlich erscheint es auch … 😉
Pingback: Longlistautor Nr. 3: Heike Duken im Bücherwurmloch – Blogbuster
Pingback: Blogbuster: Leseprobe aus „Air“ von Lukas Vering | Kulturgeschwätz
Pingback: Portrait Heike Duken – Blogbuster
Pingback: Blogbuster 2017: Heike Duken Im Porträt | Bücherwurmloch
Pingback: Können Blogger Literatur? – Literatur-O-Meter
Pingback: Tina Pruschmann: Lostage | Bücherwurmloch
Pingback: Tina Pruschmann: Lostage – We read Indie