Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Rose Tremain: Und damit fing es an

Tremain„Weil so das Leben ist. Man kann nie zurück, wenn etwas erst einmal vorbei ist“
Gustavs Kindheit ist grauenhaft. Er lebt mit seiner Mutter in den 1940er-Jahren in einer Schweizer Kleinstadt – und obwohl sie ihn nicht schlägt oder misshandelt, ist sie ihm gegenüber so lieblos, dass der kleine Gustav fast verkümmert. Verzweifelt klammert er sich an die Freundschaft zu Anton, dessen reiche Familie jüdisch ist. Anton ist alles für ihn, der Bruder, den er nicht hat, er möchte Antons Leben haben, er möchte Anton sein. Doch Gustavs Mutter ist diese Freundschaft ein Dorn im Auge, weil sie der Meinung ist, dass Gustavs Vater wegen der Juden gestorben ist. Da gibt es allerdings so einiges, was sie nicht weiß – und was auch Gustav erst viele Jahre später herausfindet.

Und damit fing es an von Rose Tremain ist ein Buch, bei dem ich nicht recht weiß, was ich davon halten soll. Wir haben ein paar Stunden miteinander verbracht, wir haben uns näher kennengelernt, doch als unsere gemeinsame Zeit vorbei ist, kann ich das Gefühl, das bleibt, nicht genau bestimmen. Vielleicht, weil es mehrere verschiedene Gefühle waren, die dieser Roman in mir ausgelöst hat. Zuallererst war da das Mitleid. Der erste Teil des Buchs, in dem Gustav ein kleiner Junge ist, ging mir richtig an die Nieren. Er hat kein Spielzeug, kein einziges Buch, er muss in der Kirche putzen und ist der Willkür seiner Mutter, die über seinen Kopf weg entscheidet, ausgeliefert, und als sie einmal für Wochen ins Krankenhaus muss, ist er auf sich gestellt und verhungert beinahe. Warum sie ihm ständig das Gefühl gibt, ungewollt zu sein, erklärt der zweite Teil, eine Rückblende, in der es um Gustavs verstorbenen Vater geht. Die Ehe war nicht so, wie Gustavs Mutter sie im Nachhinein dargestellt hat, und auch die Geschichte mit den Juden ist nur halb wahr. Hier spüre ich ein gewisses Feuer im Buch, sprühenden Ideenreichtum, den Funken der Originalität, und da ich es sehr gern mag, wenn offene Fragen beantwortet werden, fühle ich Zufriedenheit. Die kippt dann jedoch in Ärger um. Denn das Ende des Romans ist seltsam bitter, süß zugleich, allzu erwartbar und hohl wie alle Dinge im Leben, die einfach zu spät kommen: Irgendwann kann das Gute das Schlechte nicht mehr aufwiegen.

Ich kenne Rose Tremain von ihrem wunderbaren Buch Der weite Weg nachhause aus dem Jahr 2010. Daran reicht Und damit fing es an für mich nicht heran. Aber: Der kleine Gustav ist einer, den man einfach mögen muss. Mit dem man gehen, den man an der Hand nehmen und dem man helfen will. Er ist die Hauptfigur dieses Romans, er ist ein Grund, ihn zu lesen. Der andere ist Rose Tremains Sprache. Mit meisterhafter Lässigkeit geht sie damit um, nie wirkt ihr Schreiben sperrig, sie benutzt nicht zu viele Wörter und nicht zu wenig, sie fängt Gustavs Verzweiflung derart gut ein, dass sie einen aus dem Buch heraus packt und würgt. Dies ist ein facettenreicher Roman über Freundschaft, über Liebe und Untreue, über Musik, falsche Entscheidungen und die Tatsache, dass man manchmal im Leben einen Menschen trifft, von dem man nie wieder loskommt.

Und damit fing es an von Rose Tremain ist erschienen im Insel Verlag (ISBN 978-3-458-17684-8, 333 Seiten, 22 Euro). Hier könnt ihr euch den Buchtrailer anschauen, und hier findet ihr eine schöne Besprechung von Herzpotenzial.

One Comment to “Rose Tremain: Und damit fing es an”

  1. Kathi

    “Der weite Weg nachhause” hab ich nach 200 Seiten abgebrochen. Schade um die investierte Zeit. Man weiß ja im Prinzip vorher schon (allein der Titel verrät alles), wie die Story enden wird und das hat mich dann echt ermüdet.

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