Gut und sättigend: 3 Sterne

ElsässerStarke Short Storys aus der Schweiz
Zwei kleine Mädchen begleiten die Mutter zur sterbenden Tante und sind recht verstört vom unmittelbaren Miterleben des Todes. Eine Frau hat Sex mit dem Mann ihrer Freundin, der ihr die Nachricht „Feuer ist eine seltsame Sache“ auf dem Küchentisch hinterlässt. Zwei Frauen im Altersheim, Magda und Otilia, verstehen sich gut und zanken viel – und haben beide vergessen, dass sie Mutter und Tochter sind. Eine Tochter, eine unerwünschte, hat auch Krankenschwester Lena, von einem wesentlich älteren Mann, der sie ausgenutzt und im Stich gelassen hat damals – und jetzt sterbend auf ihrer Station liegt.

Absurdes, Verqueres und Grenzwertiges, aber irgendwie trotzdem Glaubwürdiges versammelt die Schweizer Autorin Lisa Elsässer, die auch Lyrik schreibt, in 16 Kurzgeschichten unter dem Titel Feuer ist eine seltsame Sache. Ihre Short Storys zu lesen, ist, wie in einem überfüllten Café zu sitzen und immer wieder rechts und links die Gesprächsfetzen von Fremden aufzufangen, sie zu beobachten in ihrer Mimik und Gestik, aber flüchtig nur, vieles nicht zu verstehen, Zusammenhänge zu rekonstruieren oder zu erfinden und sich am Ende des Tages zu fragen, was zur Hölle man da eigentlich erlebt hat. Das macht Spaß im Kopf, ist aber auch sehr verwirrend und anstrengend. Allerdings kann man ja bei Kurzgeschichten jederzeit bequem eine Pause einlegen, ohne aus dem Handlungsrahmen zu fallen. Lisa Elsässers Miniaturgeschichten kommen wie kleine Häppchen daher, sind aber in Wahrheit große Brocken, die Aufmerksamkeit verlangen. Der Tod ist nie weit entfernt, die Liebe auch nicht, und irgendwo dazwischen versuchen die Figuren, ein bisschen zu leben. In manchen Kurzgeschichten verliere ich sofort den Faden, falls es je einen gab, in anderen finde ich kluge Aspekte, schauerliche Eindrücke und intelligente Sätze:

„Und alles konnte ich überall auf der Welt auch sehen: Sonnenuntergänge und Nebel, Menschen, die sich lieben und trennen und nicht lieben und doch nicht trennen.“

„Ich ertappte mich bei jeder Begegnung mit ihr bei einem Gefühl, als ziehe es mir die Rippen herzwärts.“

„Gräber sind das, was man sich von der Ewigkeit vorzustellen vermag: ruhiges, friedliches Nebeneinander. Wer du und was du warst, hat drüben, oben, unten oder im All keine Bedeutung. Endlich fällt sie weg.“

„Schweigende Menschen treiben mich in einen Redefluss, als müsste ich das Schweigen der anderen und mein Reden in ein Gleichgewicht bringen, in die Mitte, wo beide ein ausgewogenes Maß von beidem genießen oder verweigern konnten.“

Lisa Elsässer beherrscht ihr mit Preisen bedachtes Handwerk, und auch wenn ich nicht jede Geschichte in ihrer Kernbotschaft begreife, hallen die Originalität, der bewusst schief gehaltene Ton und die kraftvollen Sprachbilder noch lange nach.

Feuer ist eine seltsame Sache von Lisa Elsässer ist erschienen im Rotpunktverlag (ISBN 978-3-85869-554-3, 176 Seiten, 25 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Abonji„Es gibt immer einen Tag, an dem der Krieg vorbei ist, warum sollte dieser Tag nicht morgen sein?“
„Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten“, sagt die Mutter von Ildiko und Nomi, die seit vielen Jahren in der Schweiz leben und dort, wo die Gemeinschaft über ihren Verbleib abstimmt, eines Tages die Chance bekommen, ein Café zu führen. Sie arbeiten hart, die ganze Familie, sie arbeiten für Akzeptanz und Integration und Geld, sie arbeiten gegen die Vorurteile und gegen die Angst. Die Verwandten, die zurückgeblieben sind in Jugoslawien, leben anfangs ein wenig bescheidener und benachteiligter, aber dann leben sie plötzlich mitten im Krieg. Und Ildiko, die gerade dabei ist, einen Weg ins Erwachsenwerden zu finden, erinnert sich an die vielen Besuche in der alten Heimat als Kind, an Feste und Beerdigungen, an Mamikas Geschichten und den Geschmack von Limonaden, die es nicht mehr gibt, aber die Gefahren der Gegenwart ignoriert sie. Der Alltag von Vater, Mutter, Nomi und Ildi wird geprägt von der Arbeit im Café, von den Ansprüchen der Stammgäste, von Stoßzeiten und stickiger Luft – der Krieg zuhause bleibt außen vor, wird verdrängt. Sie können niemanden aus dem belagerten Land herausholen, sie können nur warten und hoffen.

Mit ihrem Roman Tauben fliegen auf hat die in Serbien geborene Autorin Melinda Nadj Abonji, die seit ihrem fünften Lebensjahr in der Schweiz wohnt, 2010 sowohl den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis gewonnen. Sie konnte mit Sicherheit aus dem Fundus ihrer eigenen Erfahrungen mit der Schweizer Fremdenfeindlichkeit schöpfen, die als Freundlichkeit oder Gleichgültigkeit getarnt ist. Sie erweckt jene Welt am Balkan zum Leben, die – zumindest in Teilen – verschwunden ist und aus der so viele Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz stammen, weil sie fliehen mussten vor dem Bürgerkrieg mitten in Europa. In uferlosen, überbordenden Sätzen taucht Ich-Erzählerin Ildiko ein in das Land ihrer Kindheit, schmeckt die traditionellen Gerichte der in Serbien beheimateten Ungarn, hört Mamikas Lieblingslied im Ohr: „Wenn ich ein Fluss wäre, wäre Schmerz mir fremd, zwischen Bergen und Tälern würde ich leise fließen …“ und vermischt die Gefühle jenes Lebens, das sie aufgrund der Auswanderungsentscheidung ihrer Eltern nie geführt hat, mit der Realität des Alltags in der Fremde – die inzwischen genauso Heimat ist.

Tauben fliegen auf ist ein Buch voller Wehmut und Sentimentalität, voller Sehnsucht nach etwas, das man nie hatte. Der Klappentext zitiert die NZZ und nennt Melinda Nadj Abonjis Schreiben „die zeitgemäße Form, über Emigration, entschwindende Heimat und das Leben im Dazwischen“ zu erzählen. Dieser Roman ist gefüllt mit Sätzen, in denen ich ertrinke, weil mir die Luft ausgeht, lange bevor ein Punkt am Ende in Sicht ist. Die Ich-Erzählerin ist eine genaue Beobachterin, die nicht immer prägnant formuliert, aber stets trifft: „In dieser Zeit habe ich gelernt, dass es Menschen gibt, die liefern Gesprächsstoff, und die andern, die brauchen ihn.“ Weitaus nüchterner und weniger poetisch als das thematisch vergleichbare Buch Die undankbare Fremde von Irena Brežná ist dieses Buch – aber nicht weniger gut. Dieser Roman ist wie das Statement einer Generation, die sich weit entfernt hat von ihren Wurzeln, diese aber nicht vergessen kann. Beeindruckend, gefühlvoll, schön.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover ist gut gemacht, der Wagen hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: noch ein Buch über dieses Thema – mag sein, aber es ist ausgezeichnet und verdient es, gelesen zu werden. Davon abgesehen, dass das Thema nun einmal ein wichtiges ist.
… fürs Herz: Ildikos erste Liebe.
… fürs Gedächtnis: die Sprachgewalt.