Gut und sättigend: 3 Sterne

“Schauen will ich, so viel, wie in meine Augen hineinpaßt”
Als Franz zur Welt kommt, sind die Hebamme und die Verwandten nicht gerade begeistert: Schon wieder ein Mädchen! Franz kann mit diesem Urteil wenig anfangen, fühlt er sich doch weder weiblich noch männlich, sondern menschlich: “Er beschloß, zu dem zu werden, der er war, und nicht der zu sein, welchen die Welt in ihm zu sehen fest entschlossen war.” Als später der kleine Bruder Steffen geboren wird, ist die Familienehre gerettet. Mit ihm und der großen Schwester Lena schlägt Franz die Zeit tot in der Wohnhaussiedlung. Während der Vater durch den Frust des Alltags immer grauer wird, bemüht die Mutter sich nach Kräften um Sauberkeit und Ordnung: “Für die Mutter war das Leben etwas, das man erledigte. Je weniger Spuren man dabei machte, desto besser.” Gegen Spuren hat auch Franz etwas. Die Pubertät macht deutlich, dass er eigentlich eine Franziska ist. Er kommt aufs Gymnasium, er ist klug, aber an seinen körperlichen Entwicklungen hat er kein Interesse: “Unter allen Umständen war zu vermeiden, daß mit ihm das geschah, was mit anderen geschah.” Ältere hübsche Frauen findet Franz anziehend, Jungs sind ebenfalls interessant. Es kommt zu ersten Knutschereien und Partys, auf denen geschwoft wird. Immer mehr denkt Franz über die klassische Rollenverteilung in der Gesellschaft nach – und sucht nach einem Mittelweg für sich selbst.

Das Mädchen Franz ist eine sensible Erzählung über das typische Verhalten von Frauen und Männern, über Schubladendenken und Klischees. Frauen putzen und gehorchen in diesem Buch, Männer verdienen das Geld. Dazwischen gibt es nicht viel, das merkt auch Franz schnell. Es stört mich allerdings, dass Sabine Neumann letztlich keine Möglichkeit für Franziska findet, als etwas Drittes zu leben – es bleibt bei Überlegungen zu diesem Thema. Franz ist im ersten Teil des Buchs ein “er”, dann eine “sie”. Von Bisexualität oder Transsexualität ist nicht die Rede, Franz fühlt sich eigentlich nicht im falschen Körper. Was also will dieses Buch? Ein wenig nachdenken über Stereotype. Franz ist unsicher und grübelt, aber das Aufbegehren leitet sich später ab in lange Haare, John-Lennon-Musik und Anti-Atom-Sticker. Sabine Neumanns Schreibstil ist nicht übermäßig auffallend, der Lesefluss eher abgehackt, weil viele einzelne Sätze in einer eigenen Zeile stehen. Kinder dürfen echte Kinder sein in dieser Erzählung, die raufen und kleine Tiere tot treten. Beim Lesen kommt es mir oft so vor, als würde die Handlung in Österreich spielen, weil die bayerische Mentalität – Sabine Neumann stammt aus Regensburg – sehr ähnlich ist. Am besten bringt das der Satz auf den Punkt: “Alles ist nur halb so schön, wenn man nicht dabei gesehen wird.”

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
naja.
… fürs Hirn: die klugen Beobachtungen über die automatisierte Zuteilung von weiblichen und männlichen Eigenschaften in unserer Gesellschaft.
… fürs Herz: ans Herz geht diese Erzählung nur bedingt.
… fürs Gedächtnis: die derben Dialoge zwischen Franz, seinen Eltern und Großeltern.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Jugend in “Fotzenmoor”
“Unser Viertel wurde im Volksmund Vittulajänkkä genannt, was in der Übersetzung Fotzenmoor bedeutet. Der Ursprung des Namens war unklar, kam aber sicher daher, dass hier so viele Kinder geboren wurden.” Wo Matti aufwächst, da gibt es eigentlich so gut wie nichts: ein kleines Dorf namens Tornedal im äußersten Norden Schwedens. Was sich draußen in der Welt tut, davon bekommt hier keiner was mit. Dabei fegen gerade die Sechzigerjahre durch die Musikgeschichte und die Köpfe der Jugend. Bei Matti und seinem extrem schweigsamen Freund Niila ist es aber sehr ruhig. Eindeutig zu ruhig: Deshalb müssen sie sich allerhand ausdenken, um sich die Zeit zu vertreiben. Prügelketten, in die die halbe Verwandtschaft verwickelt wird, zum Beispiel, Wettkämpfe, Luftgewehrkriege – und Musik. Matti kann nicht einmal ansatzweise singen und Niila ist hoffnungslos an der Gitarre, aber voller Leidenschaft für die Musik gründen die beiden trotzdem eine Band. Und die rettet sie durch die Pubertät.

Ich hatte schon viel von Populärmusik aus Vittula gehört und wollte mir mal im Open-Air-Kino den Film dazu anschauen – doch dann hat es geregnet. Als ich das Buch vor Kurzem für ein paar Euro auf booklooker entdeckte, war es endlich mein. Und es hat sich wahrlich gelohnt: Ich hab mich wirklich köstlich amüsiert. Die Geschichte ist derart verquer und liebenswert, dass man einfach mit dem verwirrten, einsamen, pubertierenden Matti mitfühlen muss. Die Freundschaft zu Niila ist sehr ernst, aber frei von Pathos – wie überhaupt der ganze Roman. Niemi lässt die Schweden saufen und bis zum Umfallen saunieren, rülpsen und hart arbeiten, er zeigt ihr Leben als einfach, manchmal beschwerlich, aber immer auch ein bisschen heiter. Seine Sprache ist schnörkellos und rau, es gibt kein literarisches Herumgerede – die Poesie liegt in diesem Fall im Inhalt. Matti ist ein sehr selbstironischer Ich-Erzähler, das ganze Buch über scheint den Leser ein Augenzwinkern zu begleiten. Mikael Niemi ist es gelungen, auf absolut originelle und überzeugende Weise über ein so abgeschmacktes Thema wie Jungsprobleme, Erwachsenwerden und Rock ‘n’ Roll zu schreiben. Wie Matti sich einen Platz in der Horde der stinkenden, ungehobelten Männer erkämpft, wie er mit der Band auftritt und wie er sich Mädchen nähert, ist richtig unterhaltsam.

Und weil’s so schön zum Thema Bücher passt:
“Das Gefährlichste aber, vor dem mein Vater mich aufs Schärfste warnen wolle, der einzige Faktor, der ganze Kompanien armer junger Seelen in den Nebel des Wahnsinns getrieben habe, das war das Bücherlesen. Diese schlechte Angewohnheit war in den letzten Generationen immer übler geworden, und Vater war ungemein dankbar, weil ich selbst bis jetzt derartige Tendenzen nicht gezeigt hatte. Das Irrenhaus war überfüllt mit Leuten, die zu viel gelesen hatten. Einmal waren sie wie du und ich gewesen, körperlich kräftig, ohne Ängste, zufrieden und im Gleichgewicht. Dann hatten sie angefangen zu lesen. Meist aus irgendeinem Zufall heraus. Eine Erkältung mit ein paar Tagen Bettruhe. Ein schöner Buchumschlag, der die Neugier weckte. Und plötzlich war die Unsitte geboren. Das erste Buch führte zum nächsten. Und zum nächsten und wieder nächsten, Glieder einer Kette, die geradewegs in die ewige Nacht der Geisteskrankheit führte. Man konnte ganz einfach nicht aufhören. Das war schlimmer als Drogen.”