Für Gourmets: 5 Sterne

KrienDie Möglichkeiten, zu scheitern, sind grenzenlos
Die DDR ist Geschichte, die Zukunftsträume der Menschen im Osten sind es auch. Geblieben sind Scherben, zertrümmerte Keramik wie in der Titelgeschichte „Muldental“, in der Marie nach all den Jahren, in denen die Stasi sie unter Druck setzte, die neu gewonnene Freiheit nicht genießen kann – weil ihr Mann Hansi sie von seinem Rollstuhl aus tyrannisiert. Die junge Anne dagegen hat ein Ventil für all die negativen Gefühle gefunden, die die Abschätzigkeit und Bosheit ihrer Zahnarzthelferkolleginnen im Westen in ihr auslösen: Vandalismus. Eine ganz andere Herangehensweise an die Öffnung gen Westen haben Betti und Maren: Sie leihen sich Geld. Sie mieten eine Wohnung. Und verkaufen ihre Körper. Otto hat im Gegensatz zu ihnen keine Hoffnung mehr: Die Firma ist weg, die Kohle ist, der neue Job auch. Was noch da ist? Alkohol und Schulden …

Rund um den Fall der Berliner Mauer 1989 und die politischen Folgen für das wiedervereinte Deutschland hat Daniela Krien zehn Geschichten gruppiert, deren Protagonisten eins gemeinsam haben: Sie scheitern nach der Wende, an der Wende, wegen der Wende. Die deutsche Autorin, die mich schon mit ihrem Debüt Irgendwann werden wir uns alles erzählen, das übrigens in 14 Sprachen übersetzt wurde und verfilmt werden soll, über die Maßen beeindruckt hat, erzählt von Existenzen, die plötzlich ihren Wert und ihre Bedeutung verlieren, weil es das Wertesystem, in dem sie gegründet wurden, nicht mehr gibt. Die einen tauchen in die Wellen ein und schwimmen obenauf, die anderen gehen unter und greifen nach dem Strick. Familien zerbrechen, Mädchen werden ermordet, Ehen lösen sich auf: Nichts ist schön in Muldental, und für die Liebe ist hier kein Platz. In keiner ihrer Facetten hat sie eine Daseinsberechtigung in diesen Short Storys, nicht als Liebe zwischen Mann und Frau, nicht als Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter, nicht einmal als Liebe in einer Freundschaft. Zusammen mit der DDR haben die Menschen, so scheint es, jedes positive Gefühl begraben. Das ist unfassbar traurig. Und in dieser Buchform unfassbar gut.

Daniela Krien ist eine Meisterin der Worte. In zehn Geschichten legt sie mit wenigen geschickten Griffen das Innerste der Menschen frei – und zeigt mir, wie es atmet und pulsiert. Ihre Figuren schrammen an der Verzweiflung entlang, sind angeschlagen und verbeult, Außenseiter, Auf-derStrecke-Gebliebene, Resignierte. Sie schreibt sehr präzise, klar, klug und direkt, sie schießt ihre Sätze ab wie Pfeile – und alle treffen. Ich bin erstaunt, überwältigt, überzeugt und sehr, sehr angetan. Jede Geschichte gefällt mir in ihrer Besonderheit, jede einzelne ist sprachlich ausgezeichnet und inhaltlich wertvoll. Alles sitzt da, wo es sein soll, und am Ende bin ich glatt ein wenig enttäuscht, dass das Buch zu Ende ist. Ich hätte tatsächlich noch einmal zehn Geschichten gelesen.

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Muldental von Daniela Krien ist erschienen im Graf Verlag (ISBN 9783862200221, 224 Seiten, 18 Euro).

Was ihr tun könnt:
Eine Rezension zum Buch bei mdr.de lesen.
Einen Beitrag in der ARD-Mediathek dazu anhören.
Die Besprechung von buecherrezension.com lesen.
In dem Interview der Leipziger Internetzeitung mehr über Daniela Krien erfahren.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Kolbe„Wenn die Frauen nur deinen Namen hören, kriegen sie schon feuchte Höschen“
„Bei der Scheidung der Eltern durch das Amtsgericht hätte die Geschichte von Harry alias Hadubrand Einzweck, meine Geschichte als unabhängige Person beginnen können. Das wäre nicht zu viel verlangt gewesen für einen Vierjährigen.“ Wo auch immer sie beginnt, Harry hat in seiner Geschichte durchaus einiges vorzuweisen: schnelle und große Erfolge als Komponist schon in jungen Jahren, das Mentoring des Meisters Sebastian Kreisler und Frauen über Frauen über Frauen. Sogar der Geheimdienst ist interessiert an ihm – denn Harry lebt in der DDR. Während die meisten versuchen, auszureisen, gibt er sich ab und zu rebellisch, hält aber in letzter Instanz stets den Mund, um sein eigenes Vorankommen nicht zu stören. Zum Vater, der als Kulturfunktionär die Kunstszene ausspioniert, hat er nur sporadisch Kontakt, die Lebensbahnen laufen parallel, kreuzen sich von Zeit zu Zeit. Neben all dem Persönlichen steht ihnen auch die Politik im Weg, denn da der Vater einst aus Überzeugung in den Osten ging, muss der Sohn nun in einer Diktatur leben. Und denkt man an das germanische Hildebrandslied, sind die Namen der Figuren wohl bezeichnend.

Die Lüge von Uwe Kolbe ist ein verstörendes, politisches und für mich sehr männliches Buch. Seite um Seite folge ich dem Ich-Erzähler Hadubrand Einzweck in seiner nicht chronologischen Selbstdarstellung, bis ich mich plötzlich bei dem Gedanken ertappe: Was für ein Arschloch. Dann wird es auf einmal einfacher, das Buch zu lesen. Vielleicht, weil sich eine Schublade geöffnet hat, in der der Protagonist es sich mit all seinen Eigenschaften gemütlich macht: Eingebildet ist er, eitel, präpotent. „Ich genoss die Popularität, die damit einherging, verlegen wie schamlos zugleich.“ Die Frauen – Linda, Rebekka, Katharina, Vera, Susanne und wie sie alle heißen – wechselt er in rasantem Tempo und hinterlässt dabei Kinder sowie gebrochene Herzen. Und obwohl er den Vater selten sieht, gleicht er ihm in diesen Verhaltensweisen, hat er doch selbst haufenweise Stiefgeschwister und (Ex-)Stiefmütter. Über den Vater sagt er: „Er kommt vorbei, hält seinen Schwanz rein, an dem ein paar Privilegien hängen, und dann zieht die Karawane weiter.“ Während Harry überzeugt ist, mit kleinen Aufmüpfigkeiten den Obrigen Ärger zu bereiten und sich ab zu einen Tadel einfängt, zappelt er in Wahrheit brav im Netz und ist folgsam wie ein Lemming. Inwiefern sich das mit Uwe Kolbes Erlebnissen deckt, wäre interessant zu erfahren, heißt es doch, dass der Roman, der in den Jahren 1976 bis 1984 spielt, autobiografische Züge trägt.

Ich hatte von Uwe Kolbe, der selbst in Ostberlin geboren und dort als Lyriker berühmt geworden ist, eine viel poetischere Sprache erwartet und bin überrascht von seinem nüchternen, verqueren Stil. Manch Formulierung wirkt auf mich in ihrer Ernsthaftigkeit und Korrektheit „typisch deutsch“, auch wenn dies freilich kein adäquater Ausdruck bei der Beschreibung eines Schreibstils sein kann: „… kam es immer wieder zum Abhören von zwei, drei Schallplatten“ oder „… unter stechenden Schmerzen entleerte sich mein sonst sehr deutsches, verstocktes Gedärm“. Allerdings passt das Formale perfekt zum Inhalt, und das Gesamtpaket aus Einblick in die deutsch-deutsche Vergangenheit, Porträt eines rücksichts- und skruppellosen Mannes und das seines ebenso wenig charakterstarken Vaters sowie schnörkelloser, griffiger, irgendwie verdrehter Sprache ist stimmig. Es fiel mir jedoch mehr als einmal schwer, mich im Geflecht aus verschiedenen Zeitebenen und Perspektivenwechseln zwischen Vater und Sohn zurechtzufinden. Dies ist kein gefälliges Buch, sondern eher eins, das den Leser ins Wadl beißt, dabei grimmig knurrt und sich nicht so schnell abschütteln lässt. Auf interessante Art beeindruckend.

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Die Lüge von Uwe Kolbe ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-10-040221-9, 384 Seiten 21,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Einen Ausschnitt aus dem Roman bei den FAZ.net-Lesezeichen lesen.
Das Buch über ocelot.de bestellen.

Was andere über dieses Buch denken:
„Kolbe, selbst einst als Literatur-Wunderknabe der DDR gefeiert und von seinem Vater Ulrich für die Stasi ausspioniert, liefert mit „Die Lüge“ einen Schlüsselroman, ein komplexes Sittenbild aus der Mitte der Stasi-Hölle der DDR“, erklärt die Frankfurter Neue Presse.
„Kolbe will es dem Leser nicht zu einfach machen, seine Prosa hat keinerlei Liebreiz und kennt keine falsche Harmonie. Damit spiegelt sie den Stoff“, heißt es auf spiegel.de.
„Der Erzähler Kolbe will einfach sehr viel, manchmal zu viel. Er arbeitet mit Vor- und Rückblenden, mit Zeitsprüngen, denen zu folgen nicht immer einfach ist“, schreibt die Welt.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Bis dass der Tod euch scheidet
Paul und Skarlet sind seit der Kindergartenzeit Freunde: Beiden hat es Tante Edeltraud nicht leicht gemacht, Skarlet wegen der ungewöhnlichen Schreibweise ihres Namens, Jean-Paul wegen der Un-DDR-Haftigkeit des seinen. Es gelingt ihnen das Kunststück, über all die Jahre nicht den Kontakt zueinander zu verlieren; sie erleben den Fall der Mauer, sie studieren in Leipzig, Paul heiratet und wird Vater. Nun ist Skarlet 40. Und Paul ist tot.

Alle sterben, auch die Löffelstöre erzählt die Geschichte einer engen Freundschaft, die der Tod beendet. Viel zu früh stirbt Paul – und Skarlet muss einen Weg finden, mit ihrer Trauer umzugehen. Sie lässt die Zeit mit Paul, dem Zauberer, dem verrückten, leichtfüßigen Lebemann, Revue passieren, erinnert sich, wie er sie im Kindergarten vor dem ekligen Glas Milch mit Haut rettete, an die gemeinsame Schulzeit, an Pauls Makel wegen seiner Makellosigkeit. Paul war stets fröhlich und liebte Geschichten: “Paul hatte bei einer Feier einmal behauptet, er könne Wodka in Wasser verwandeln. Er hatte die Gläser vollgegossen, Simsalabim. Sie hatten getrunken, und Paul hatte sich geschüttelt und gesagt: Versuch mißlungen!” Wie soll Skarlet diesen Verlust verkraften? Sie findet keinen Halt, sie ist geschieden, ihre erwachsene Tochter ist im Ausland, der Job im Zoo macht ihr keinen Spaß, er ist einfach an ihr haften geblieben wie ein nasses Blatt. Sie sucht nach den richtigen Worten, um Paul und seine Freundschaft, die nie infrage gestellt wurde, in einer Grabrede zu ehren. Paul war ein stiller Revoluzzer, der stets wusste, was er wollte, und als er endlich das Glück fand, erkrankte er.

Kathrin Aehnlichs Buch über das Abschiednehmen ist nicht pathetisch, auch nicht übermäßig schwermütig – und doch ist von vornherein klar, dass es hier um Traurigkeit und Trauer gehen wird, dass ein jedes Lächeln nur eines unter Tränen sein kann. Darauf muss man sich als Leser bewusst einstellen. Bücher können ganz klar Stimmungen auslösen und steuern – Heiterkeit ist in Alle sterben, auch die Löffelstöre eher fehl am Platz. Zwar funkelt dieser Roman sprachlich nicht gerade, der Stil ist aber solide, gut lesbar, die Sätze klar und klangvoll. Insgesamt ein nachdenkliche, zärtliches Buch, das mit einem Schlusssatz überrascht, der zu den besten gehört, die ich je gelesen habe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein metaphorisch bildliches Cover, bedeckter Himmel, ein Weg, der ins Nirgendwo führt.
… fürs Hirn: das Nacherleben von DDR und Mauerfall.
… fürs Herz: das Wissen, dass wahre Freundschaft so wertvoll ist wie Liebe.
… fürs Gedächtnis: der wunderbare Schlusssatz (nicht vorher lesen!).