Gut und sättigend: 3 Sterne

Melancholisches aus Norwegen
Liv ist Pastorin in einer kleinen Gemeinde im Norden von Norwegen. Das Leben ist ruhig hier, und das kommt Liv gerade recht: Nach einem durch ein Stipendium finanzierten Aufenthalt in Deutschland ist sie geflüchtet in die Einsamkeit. Denn in Deutschland traf sie Kristiane, die fröhliche, extrovertierte Puppenspielerin. Sie kannten einander nur 45 Tage, und doch hat diese Freundschaft Livs Leben gehörig durcheinandergebracht. Als sich ein junges Mädchen der Gemeinde erhängt, muss Liv – die versucht, den Angehörigen beizustehen – sich mit ihren Erlebnissen in Deutschland auseinandersetzen. Zugleich beschäftigt sie sich mit dem Aufstand der Samen und dem Christentum an sich. Ob sie wirklich so gläubig ist, wie sie es sein sollte, das weiß Liv selbst nicht.

Hanne Orstavik hat für ihre Romane bereits alle wichtigen Literaturpreise Norwegens erhalten und gilt als “Meisterin des Minimalismus”. Dem stimme ich zu. Ihre Sprache ist sehr eng, bezogen auf Details, auf das Kleine, hinter dem sich das Große verbirgt. Klar und schön ist dieser Stil, ruhig wie das Land selbst. Zwar vermischen sich die Erzählzeiten und somit die Ereignisse, sodass ich manchmal nicht ganz folgen kann, grundsätzlich aber liegt hier ein sprachlich ausgezeichneter Roman vor. Ton und auch Inhalt sind geprägt von einer umfassenden Melancholie, einer großen Schwermütigkeit. Ich mag das Skandinavische, das ruhig Plätschernde – weshalb Per Petterson zu meinen liebsten Schriftstellern zählt – und ziehe es dem Pathos vor. Allerdings ist in diesem Fall sogar mir diese lähmende Verzweiflung, die auf allen Figuren und allen Geschehnissen liegt, fast zu anstrengend. Liv ist ein zweifelnder, hilfloser Mensch, alles andere als eine Seelsorgerin. Sie kann nicht kommunizieren, sie kann nicht einmal Menschen berühren. Sie möchte “Wunden verbinden”, hat aber nichts zu geben. Sie steht mit leeren Händen vor dem Schicksal, ihr Glaube ist, wenn überhaupt, nicht mehr als eine hauchdünne Hülle. Es geht um den Tod in diesem Buch, und zwar in Form von Selbstmord, es geht um das Christentum, um die Unfähigkeit, anderen Menschen zu helfen und sie zu retten. Traurigkeit umgibt diesen Roman wie ein Nebelschleier, der undurchdringlich bleibt.

Lieblingszitat: Ich dachte an seine Augen, die helle Hand auf dem dunklen Tisch. Am liebsten wäre ich ein Stück Berg in dieser Hand, ein Stein, den er untersuchen und festhalten könnte. Ein Stein, den er in die Tasche stecken könnte, über den er mit dem Finger streichen könnte, wenn er in einer Sitzung war oder in die Hochebene ging.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Herrlich böse
Krissie ist Sozialarbeiterin – und eine Schlampe. Sie geht mit jedem ins Bett, der ihr auch nur ansatzweise gefällt. Das führt dazu, dass Krissie von einem Teneriffa-Urlaub mit einem Embryo im Bauch zurückkommt, der beim Toilettensex mit einem Fremden entstanden ist. Krissie ist geschockt, aber noch mehr trifft die plötzliche Schwangerschaft ihre beste Freundin Sarah: Sie versucht schon seit Jahren, mit ihrem Mann, dem gutaussehenden Arzt Kyle, ein Baby zu bekommen. Mittlerweile ist Sarah von ihren Eierstöcken besessen und die Ehe am Ende. Als Baby Robbie geboren wird, ist Krissie heillos überfordert: Nichts klappt, wie es soll, und sie erlebt nun von der anderen Seite, was es bedeutet, wenn das Jugendamt auf eine Mutter aufmerksam wird. Zur Ablenkung und Erholung beschließen Sarah, Kyle und Krissie, gemeinsam durch Schottlands Berge zu wandern. Was wie eine gute Idee klingt, wird jedoch zum mörderischen Reinfall: Nicht alle werden lebend von diesem Ausflug zurückkehren …

Ich muss gestehen, dass ich von selbst nie zu Dead Lovely gegriffen hätte, mir das Buch aber habe empfehlen lassen. Ich bin kein großer Fan von Suspense – weil es in den meisten Fällen, seien wir ehrlich, nicht gut gemacht ist. Ganz anders bei Helen Fitzgerald: Sie erzählt mit Witz und Tempo. Gleich zu Beginn stattet sie ihre Charaktere mit einer gehörigen Portion Frust, Neid und unterdrückter Wut aus – um diese explosive Mischung dann im geeigneten Moment hochgehen zu lassen. Dann, wenn es dunkel ist, und keiner die Schreie hört, natürlich. Eifersucht, Misstrauen und unerfüllte Wünsche zermürben die drei Protagonisten und treiben sie zum Äußersten. Zwar ist der Perspektivenwechsel für mich gewöhnungsbedürftig – Krissie erzählt meistens in der Ich-Form, aber nicht immer – aber verkraftbar, da sich am Ende alles zusammenfügt. Die Autorin hat ein rasantes und sehr amüsantes Buch hingelegt, das alle Erwartungen an einen spannenden Roman erfüllt und es trotzdem noch schafft, nicht allzu vorhersehbar zu sein. Ein Schwachpunkt ist in meinen Augen der Grund für die Ereignisse, der hätte weniger klischeehaft und origineller ausfallen müssen. Dennoch bietet Dead Lovely, das auf Deutsch unter dem Titel Furchtbar lieb erschienen ist, gute Unterhaltung – und legt einem beim Lesen ins Gesicht, was man auf Englisch “smirk” nennt.

Prost Mahlzeit: 1 Stern

Der Lebensweg eines Franzosen
Es ist eine grausame und tragische Geschichte, die der sechzehnjährige Paul erzählt bekommt: Einst, kurz nach dem Krieg, ging ein Vater mit seinen zwei kleinen Kindern in den Wald und erwürgte sie. Dieser Wald befindet sich in Deutschland, in Kehlstein, wo der Franzose Paul den Sommer des Jahres 1963 bei seinem Brieffreund Thomas verbringt. Er ist fast genauso alt wie der Frieden – und die Deutschen haben die Kriegsgeschehnisse noch lange nicht verwunden. Niemand spricht über das, was im Wald geschah, nur die junge und faszinierende Außenseiterin Clara weiht Paul ein. Ihr verfällt er, von ihr kommt er Zeit seines Lebens nicht richtig los. Und auch später, als er Karriere macht und eine Familie gründet, begegnet ihm Clara immer wieder – und die Geschichte von damals verfolgt ihn …

Ich mag keine Rufzeichen. Als Werbetexterin sind sie ohnehin meine erklärten Feinde, und in der Literatur haben sie meiner Meinung nach wenig bis gar nichts verloren. Vielleicht noch in der direkten Rede, wenn jemand schreit, aber nicht im Fließtext. Formulierungen wie “Ein irgendwie künstlerisch veranlagter Typ, versponnen und leicht abgehoben, ein echter Franzose eben!” stoßen daher bei mir auf Ablehnung. Das ist mir zu viel Pathos, zu viel geschwollene Brust, zu viel erhobener Zeigefinger. Aber nicht nur sprachlich gesehen ist Schlaf nun selig und süß anstrengend, auch der Inhalt hat es in sich: Zwei Männer waren im Krieg, sie haben Juden sterben sehen, sie sind nicht mehr dieselben. Einer der beiden bringt später seine Kinder um. Was genau ihn dazu bewogen hat, muss man sich als Leser mühsam zusammenreimen. Denn eigentlich geht es dann in der Folge viel mehr um Protagonist Paul, der kapitelweise und mit sehr großen Zeitsprüngen dazwischen alt wird. Wer also das ganze Buch über auf die Auflösung des Geheimnisses wartet, wird enttäuscht.

Mit Die kleine Kartäuserin hat Pierre Péju mich begeistert. Und ich hätte es dabei belassen sollen … Denn Schlaf nun selig und süß kann diesem wunderbaren Roman nicht das Wasser reichen. Die Geschichte ist flach und uninteressant, die Charaktere fast schon eigenschaftslos. Und dann der Krieg, der als “Entschuldigung” eingebracht wird, als allseits bekanntes und oft verwendetes Motiv, um Unmenschliches zu rechtfertigen – das ist mir einfach zu banal. Ignorieren.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Eine sardische Familie und das Leben
Der Vater ist Missionar, der seine Frau zum Lachen bringt und oft wochenlang fort ist, die Mutter hat Angst vor allem, “nicht nur vor gelben Wäscheklammern, sondern vor der ganzen Welt”. Der Sohn vergräbt sich in seinem Zimmer, um Klavier zu spielen, die Tante hat zu viele Affären und zu wenig Liebe. Die Tochter steckt in einer sadomasochistischen Sex-Beziehung mit einem verheirateten Mann und wundert sich über ihre Familie und das Leben. Wohin es führen soll, das weiß niemand, und zumindest eine in der Familie will es auch gar nicht herausfinden. So legt sich eine staubige Traurigkeit auf dieses Haus, Gewalt und Gefahr bedrohen die Familie – aber ein winziges Stückchen Glück findet sie dann doch.

Ich mag Milena Agus. Sie schreibt in klaren, schnörkellosen Sätzen, die lächeln lassen und traurig machen. Während ich von Die Frau im Mond begeistert war und Die Flügel meines Vaters es mir sehr angetan hat, fällt Solange der Haifisch schläft in eine etwas andere Kategorie. Auch im Erstlingswerk der Autorin steht eine sardische Familie mit einer weiblichen Ich-Erzählerin im Mittelpunkt. Der Ton ist jedoch schärfer und zynischer als in den folgenden Büchern. Die Figuren sind nicht so liebenswert, wie ich es von Milena Agus gewohnt bin, die Geschichte ist um einiges trostloser und “schmutziger”. Nichtsdestotrotz ist sie wunderbar geschrieben. Es liegt dieser italienischen Autorin, Menschen in ihren ungewöhnlichen Eigenheiten zu skizzieren und sie hineinzuwerfen in ein Leben, mit dem sie wenig anfangen können. Zudem bringen mich die ironischen Einwürfe zum typisch italienischen bzw. sardischen Dasein immer wieder zum Schmunzeln. Solange der Haifisch schläft ist ein komplexes kleines Buch über eigenwillige Charaktere, die als Familie zusammengewürfelt werden und von denen jeder auf seine Art nach etwas sucht, das ihn glücklich macht. Das gelingt mal mehr, mal weniger – und ist schön zu lesen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Solide Spannung und schräge Ideen
Sebastian und Oskar sind kluge Köpfe und seit dem Studium beste Freunde. Als Physiker bewegen sie sich in Gefilden, in die ihnen kein normalsterbliches Gehirn folgen kann. Während Sebastian geheiratet und Sohn Liam bekommen hat, strebt Oskar nach “Höherem” in der Physik. Dieser Punkt ist ein ständiger Zankapfel zwischen den beiden. Als Liam entführt und Sebastian zu einem Mord gezwungen wird, um seinen Sohn zu retten, kommt Kommissar Schilf ins Spiel. Er ist schlau, kauzig und eigentlich schon fertig mit dem Leben. Seine junge Kollegin Rita dagegen wird vom Ehrgeiz gesteuert. Ihr Ziel aber ist dasselbe: den Fall zu lösen.

Es gibt einen großen Hype um Juli Zeh. Schilf ist das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe – es kam durch eine Empfehlung zu mir. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen, was es einem Buch niemals leicht macht. Originell finde ich die Kapitelüberschriften, die lang sind und amüsant. Weniger originell dagegen ist meiner Meinung nach die Figurenzeichnung: Wer viele Krimis gelesen hat, kennt sie alle, die abgebrühten, allwissenden Kommissare. Ein solcher ist auch Schilf. Polizistin Rita entspricht ebenfalls in den meisten Eigenschaften der Vorstellung von einer Frau, die sich durchbeißen muss in einer Männerwelt. Von dieser Seite ist also nichts Neues zu holen. Inhaltlich gesehen brilliert Juli Zeh mit einer ungewöhnlichen Idee, einer ebenso grausamen wie banalen Geschichte und einem grandiosen, grotesken Ende. Was dieses Ende angeht, so leidet dieser Roman an einem Virus, der alle Krimis befällt: Will die Auflösung glaubwürdig sein, so muss der Leser den Täter bereits kennen, die Verbindungen müssen bestehen. Das tun sie auch in diesem Buch. Und so ist die Wahrheit hinter den Ereignissen stets nur einen Moment Nachdenken entfernt. Was bedeutet: So schlau wie Kommissar Schilf bin ich auch. Das ist aber in Ordnung, ein bisschen Vorhersehbarkeit darf und muss sein – und die Genialität des Einfalls ist dennoch groß.

Während Juli Zeh einige geradlinige und herausragende Formulierungen findet, sind andere Stellen stilistisch gesehen halbgar. Ich mag die ironischen Einschübe und die verqueren Gedankengänge. Die Mischung aus Abgehobenheit – etwa wenn es um das physikalische Phänomen der Zeit geht – und klassischem What-happened-Krimi ist der Autorin gut gelungen. Abschließend lässt sich sagen, dass mir Schilf dafür, dass ich an Krimis übersättigt bin und sie nicht mehr mag, unerwartet gut gefallen hat. Vermutlich aber war es nicht das richtige Buch für mich aus Juli Zehs bisheriger Sammlung. Wer sich aber für spannende Literatur, intelligente Storykonstruktionen und abgelebte Kommissare erwärmen kann, ist hiermit jedoch bestens beraten.