Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Birch„Was wäre das für ein Junge, der seiner Mutter nicht das Herz bricht?“
London im Jahr 1857 stinkt. Der kleine Jaffy Brown lebt mit seiner Mutter mitten in der Kloake, und seine Zukunftsaussichten sind nicht gerade spektakulär. Als er eines Tages einem entlaufenen Tiger auf der Straße begegnet und in seinem Maul landet, ohne verletzt zu werden, ist Jaffy wie elektrisiert: Er hat Lust auf das ganz große Abenteuer bekommen. Fortan arbeitet er für Mr. Jamrach, den Besitzer des Tigers, der mit Tieren aus aller Welt handelt, und lernt dort den frechen Tim kennen, der sein bester Freund wird. Von Tims Zwillingsschwester Ishbel ist Jaffy über die Jahre hinweg fasziniert, aber seine Sehnsucht nach der Ferne ist noch größer – er will zur See fahren. Und als er sich gemeinsam mit Tim auf einem Walfänger einschifft, um in Mr. Jamrachs Auftrag ein geheimnisvolles Ungeheuer zu finden und zu fangen, beginnt endlich das Abenteuer, auf das er die ganze Zeit gewartet hat.

Der Atem der Welt von Carol Birch ist ein fabelhafter, farbenprächtiger, stimmungsvoller Roman, der im 19. Jahrhundert spielt und die Essenz dieser Zeit in eine wilde Symphonie verwandelt. Dieses Buch ist wie ein Rausch. Gleich zu Beginn legt der achtjährige Jaffy, ein aufgeweckter, gewitzter, sympathischer Held, seine dreckige kleine Hand in meine und zieht mich hinein in seine Stadt: Üble Gerüche schlagen mir entgegen, es wimmelt von Abertausenden Menschen und Tieren, Diebe und Bettler machen sich zu schaffen, ein Leben ist nicht viel wert. Unser gemeinsames Abenteuer beginnt, als Jaffy einem Tiger die Hand auf die Schnauze legt – und die englische Autorin Carol Birch nimmt dies als Auftakt für eine waghalsige, übermütige Geschichte. Die Welt war damals noch nicht bis in alle Winkel erforscht, die Menschen glaubten an Ammenmärchen, und eine Reise endete nicht selten tödlich.

Als Jaffy und Tim das Schiff betreten, bin ich voller Hoffnung wie sie, ich will die Weite schmecken, mich fürchten, Unbekanntes sehen – und diese Hoffnung wird anfangs auch erfüllt. Doch nach einer sehr vorhersehbaren Wendung flaut meine Begeisterung ein wenig ab, denn was auf und mit dem Schiff und danach geschieht, erscheint mir wenig originell, sondern eher recht klischeehaft. Generell aber hat Carol Birch mich mit ihrer Freude am Erzählen, mit ihrer übersprudelnden Energie und ihrer detailgenauen Recherche mitgerissen und mir spannende Lesestunden beschert. Großartig!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein wundervolles Cover!
… fürs Hirn: ein grandioses Abenteuer.
… fürs Herz: eine kleine zarte erste Liebe.
… fürs Gedächtnis: wie überragend stets die Macht der Fantasie ist.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Enter„Eigentlich konnte man sich hier nirgends richtig festhalten“
„So also war es, einander wiederzusehen! Launisch, fragmentarisch wie der Blick in einen zersprungenen Spiegel – mit scharfen Kanten und blinden Flecken.“ Zwanzig Jahre lang haben sich Vincent, Paul, Lotte und Martin nicht gesehen, nun folgen Vincent und Paul der Einladung von Lotte und Martin, die schon lange zusammenleben, und fahren mit dem Zug zu ihnen ans Meer. Sie unterhalten sich über die neueste Zeitungsmeldung – die mögliche Unsterblichkeit des Menschen – und Belanglosigkeiten und berühren nie das Thema, das alle vier einst verbunden hat: das Klettern. Als Studenten waren sie mit Begeisterung in den Bergen unterwegs. Ihren letzten gemeinsamen Kletterurlaub verbrachten sie in den Lofoten nördlich des Polarkreises, und was dort geschah, hat ihre Bande aufgelöst. Nun steht das Wiedersehen unmittelbar bevor – und obwohl in den zwanzig Jahren viel geschehen ist, sind die Erinnerungen noch frisch.

Drei Männer, eine Frau, die Berge und viel Schnee – das sind die Zutaten, die der niederländische Autor Stephan Enter zu einem spannenden, aber nicht unbedingt spektakulären Roman vermixt. Seine vier Figuren waren einst Freunde oder zumindest Kletterpartner, die sich aufeinander verlassen konnten, und haben sich dann aus den Augen verloren. Als junge Studenten suchten sie den Kitzel der Gefahr und die Hitzigkeit von Diskussionen. Und so glücklich wie damals sind sie tatsächlich nie wieder gewesen. Lotte als einzige Frau hat jeden der drei Männer irgendwie beeindruckt, sie war nicht auf klassische Weise schön, aber intelligent und scharfzüngig. In einen der drei war sie verliebt, mit einem anderen teilt sie ein Geheimnis, und den dritten hat sie geheiratet. Doch obwohl Lotte der schillernde Dreh- und Angelpunkt der damaligen Ereignisse ist, bleibt sie im Buch als Einzige stumm, was ich sehr schade finde – zu gern hätte ich auch ihre Stimme gehört und ihren Blick auf die Dinge gesehen.

Wenn angekündigt wird, dass es einst bei einem Kletterurlaub in den Bergen ein dramatisches Geschehnis gab, ist die Auswahl freilich beschränkt: Ich erwarte einen Absturz, Mord, Verrat, Betrug. Was ich bekomme, entspricht der erwarteten Dramatik nur bedingt. Ich übe mich in Geduld, ich warte ab, bin gespannt auf das Platzen der Bombe, die Ohrfeige der Überraschung, den Knalleffekt, als alle einander endlich wiedersehen. Doch all dies bleibt aus, es gibt nur eine Vorbereitung darauf, dann ist plötzlich alles zu Ende, die Energie verpufft – und ich schaue durch die Finger. In so einem Fall stellt sich freilich immer die Frage, ob die Erwartungen einfach zu hoch waren, von einem unglücklich formulierten Klappentext aufgeputscht, oder ob die Enttäuschung berechtigt ist. Warum füttert mich Stephan Enter mit so viel Smalltalk zwischen Vincent und Paul, warum dehnt er zu Beginn alles aus und nimmt sich am Ende nicht mehr die Zeit, die losen Enden zusammenzuführen? Wieso ist dieses Geheimnis von damals, das er mir recht bald verrät, so einigermaßen harmlos und schmal, dass ich ihm kaum die Sprengkraft zutraue, die es gehabt haben soll? Zu viele Fragen bleiben für mich offen, und all das, was die Charaktere einander nie gesagt haben, scheint mir recht klischeehaft bzw. angesichts dessen, dass die Konfrontation ausbleibt, belanglos. Stilistisch überzeugt Stephan Enter mich sehr, und ich denke, dass er das Lob, das er bekommt, absolut verdient – und dass es vermutlich schwierig ist, in einem so melancholischen Stil einen spannungsgeladenen Roman zu schreiben. Ich war mit diesem Buch wohl wie ein unerfahrener Bergsteiger: Ich habe mir das Spektakuläre erhofft und dabei das kleine Schöne am Wegrand (fast) übersehen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
für mich eins der schönsten Cover bisher 2013. Der Nagellack war übrigens vorher nicht drauf.
… fürs Hirn: das Wissen, dass Erinnerungen trügerisch sind und die Jugend schnell verfliegt.
… fürs Herz: Martin und Lottes kleine Tochter.
… fürs Gedächtnis: eher ein enttäuschtes Gefühl, denn auf dem Gipfel angekommen, zeigte sich der Ausblick nebelverhangen.

Im Griff von Stephan Enter ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3827010995, 224 Seiten, 17,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Weidenholzer„Das Leben ist ein Hund, es erwischt einen ohnehin, wenn man am wenigsten damit rechnet oder wenn man ihm zu lange in die Augen sieht“
„Aber das Wichtigste im Leben ist nicht der Platz, den man hat, man kann auch mit wenig Platz gut leben. Das Wichtigste ist die Versorgung, dass sich jemand kümmert, das ist wichtig, findest du nicht.“ Maria hat nicht unbedingt viel Platz, und kümmern muss sie sich um alles ganz allein. Seit die Verkäuferin im besten Alter ihre Stelle verloren hat, dehnen sich die Tage vor ihr aus, und sie muss sich die Zeit vertreiben zwischen Bewerbungen-Schreiben, Affirmationen-Üben und Den-Nachbarn-aus-dem-Weg-Gehen. Maria war eine gute Verkäuferin, aber auf dem Arbeitsmarkt ist sie unerwünscht, weil sie zu alt ist und ihre Erfahrung zu wertlos. Von Mann und Haustier ist nichts geblieben, und so kämpft Maria jeden Tag tapfer gegen den übermächtigen Feind: die Verzweiflung.

Der Winter tut den Fischen gut von Anna Weidenholzer ist ein deprimierendes Buch. Auf über 200 Seiten widmet sich die junge österreichische Autorin mit Fingerspitzengefühl einem Schicksal, das nicht ungewöhnlich ist: ungewollte, unverschuldete Arbeitslosigkeit, aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt. Maria tut (fast) alles, was das Arbeitsamt ihr befiehlt, sie biedert sich an, bewirbt sich, motiviert sich, scheitert immer wieder. Es scheint keinen Platz für sie zu geben in den vielen Bekleidungsgeschäften, in denen die Verkäuferinnen jung, dünn und schlecht ausgebildet sind. Was bleibt dann? Endlose Tage, Spaziergänge, den Körper waschen und mit Nahrung versorgen, sich irgendwie über Wasser halten. „Wenn einem das Haustier im Kühlschrank gefriert, ist das eine unangenehme Situation“ – dieser Satz fasst Marias Misere am besten zusammen. Es gab einmal einen Mann, und es gab einmal ein Haustier – wer wer ist, kann ich anfangs kaum auseinanderhalten, so ähnlich sind die Gefühle von Maria, wenn sie sich erinnert. Sie legt ein eigenartiges Verhalten an den Tag, eine Mischung aus Engagement und Apathie, die mir für jemanden in ihrer Lage sehr glaubwürdig erscheint. Maria ist wahnsinnig einsam, fürchtet aber zugleich den Kontakt zu anderen Menschen, und in ihrem Inneren hadern Groll und Resignation miteinander.

Anna Weidenholzer erzählt sanft, klar und nüchtern von dem, was wir alle wissen, aber selten aussprechen: dass es richtig scheiße ist, arbeitslos, unterfordert und „unnütz“ zu sein. Dieses Buch ist mehr Bericht als Geschichte, es ist ein Sich-Hineindenken und Sich-Hineinfühlen. Die Autorin bildet die Situation ab, ohne sie zu verändern, und ich muss gestehen, dass ich mir eine solche Veränderung sehr gewünscht hätte, dass ich gehofft habe auf einen Einschnitt, eine überraschende Begegnung, einen Sonnenstrahl, einen Faustschlag – irgendwas, das Maria und mich aus unserer Lethargie gerissen hätte. Das ist nicht geschehen, und ich bin am Ende der Lektüre niedergeschlagen, desillusioniert und „dramhappert“ – als hätte ich zu lang geschlafen und schlecht geträumt, einen Traum, ganz lang und schwer und ereignislos.

Durchgekaut und einverleibt: Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein richtig cooles Cover!
… fürs Hirn: der Gedanke: Hoffentlich passiert mir das nie.
… fürs Herz: nichts. Das Leben ist ein Schwein.
… fürs Gedächtnis: das Ende von Otto.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Predicatori„Diese Erinnerung ist die mächtigste Zauberformel, die ich kenne: Du wirst zu Erde und mein Herz zu Glas“
„An jenem Tag mit dir habe ich den Goldtopf gefunden, versteckt in deinen Augen, die unermüdlich lachten“ – doch kurze Zeit später war es vorbei: Alessandras Mutter ist an Krebs gestorben. Der Tag, an dem sie nach dem Ende des Regenbogens suchten, gehört zu den letzten schönen Erinnerungen der 17-Jährigen. Als sie mit ihrer Trauer zurück an die Schule kommt, findet sie sich zwischen ihren pubertierenden Freundinnen und deren oberflächlichen Problemen nicht mehr zurecht und setzt sich spontan in die hinterste Bank neben den Klassenfreak, der Zero genannt wird. Er bringt für Alessandra genauso wenig Interesse auf wie für alles andere, das im Klassenzimmer vor sich geht. Wenn er nicht schwänzt, nimmt er kaum am Unterricht teil und zeichnet nur. Die Matura steht kurz bevor, und Alessandra hat schwer zu kämpfen mit den vielen Gefühlen in ihrem Inneren: Sie vermisst ihre Mutter, würde ihren Kummer gern in Alkohol und Sex ertränken und kann gleichzeitig nicht verhindern, dass der geheimnisvolle Zero ihre Neugier weckt. Das, was zwischen den beiden entsteht, ist irgendwie kompliziert – und dabei doch eigentlich ganz einfach.

Die italienische Buchhändlerin Paola Predicatori schüttet mit ihrem ersten Roman Der Regen in deinem Zimmer einen Kübel Eiswasser über mir aus. Der erste Schwall Traurigkeit lässt mich bibbern und frieren, und der 17-jährige Alessandra fließt all mein Mitgefühl zu. Ihre Erinnerungen an die Mutter – die sie im Buch mit „du“ anspricht – sind bittersüß und schwer und schön, ihre Verlorenheit spricht aus jedem Satz. Sie ist orientierungslos, findet bei ihrer Großmutter, die selbst trauert, und ihren Freundinnen, die sich nur für Jungs interessieren, keine Unterstützung – und sucht ausgerechnet bei jemandem Halt, der selbst nicht im Gleichgewicht ist: Zero, der eigentlich Gabriele heißt. Zwei Jugendliche, die verletzt und einsam sind, die dringend Zuflucht brauchen, denen es aber mit all ihrem Schmerz im Gepäck nicht gelingt, sich einander zu öffnen, finden zusammen. Paola Predicatori erzählt sehr behutsam und mit dem nötigen Ernst eine Geschichte, die mir mehr als einmal die Tränen in die Augen treibt, weil sie zutiefst menschlich und melancholisch ist.

Zwar habe ich oftmals Probleme mit jugendlichen Erzählern, da Bücher mit jungen Protagonisten oft in einem naiv-banalen Tagebuchstil geschrieben sind. Das ist hier nicht oder nur selten der Fall bzw. Paola Predicatori bügelt eventuelle Erzählperspektivenmankos mit stilistischen Höchstleistungen aus. Sie hat für dieses berührende Debüt genau den richtigen Ton gefunden, was bei einem so sensiblen Thema, das schnell kitschig werden kann, sicher nicht einfach ist. Am Ende bin ich glücklich, nach all der Kälte ins Warme zu kommen, und zuversichtlich, dass Alessandra zurechtkommen wird – und dass Paola Predicatori eine Autorin ist, die noch von sich hören lassen wird. Hervorragend!

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr schönes Cover, allerdings hätte ich auch gern weniger von der Schrift und mehr von dem Bild gesehen.
… fürs Hirn: Erwachsenwerden, erste Liebe, Schulabschluss, tiefe Trauer plus pubertäre Unsicherheit – eine wilde Mischung.
… fürs Herz: das Herz wird ordentlich malträtiert.
… fürs Gedächtnis: der klingende, poetische Erzählton.

Der Regen in deinem Zimmer von Paola Predicatori ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03520-4, 238 Seiten, 16,99 Euro).

Bücherwurmloch

we_read_indie_headerBlogger-Allianz für Independent-Verlage
Independent-Verlage sind vielfältig, wichtig und inspirierend. Independent-Verlage brauchen Unterstützung. Deshalb haben sich sieben Bloggerinnen zusammengeschlossen, um die Kleinverlagskultur zu stärken. Der Impuls dafür war der erfolgreiche Indiebookday am 23. März 2013. An diesem Tag hat sich nämlich die Klappentexterin alias Simone Finkenwirth gedacht, dass es doch schön wäre, sich nicht nur einmal im Jahr den Büchern aus unabhängigen Verlagen zu widmen – sondern immer. So entstand die Idee zu »We read Indie«, ein Gemeinschaftsprojekt, das ich euch heute hochoffiziell vorstellen möchte. Mit an Bord sind: die Klappentexterin , Dorota Federer (Bibliophilin), Mara Giese (buzzaldrins Bücher), Svenja Hoch (syn-ästhetisch), Caterina Kirsten (SchöneSeiten), Ada Mitsou (Ada Mitsou liest…) und – juhu! – das Bücherwurmloch.
Auf »We read Indie« berichten wir über Indiebooks und die Kleinverlagskultur – hauptsächlich in Form von Rezensionen über selbst ausgewählte Bücher, aber auch Interviews, Porträts und andere spannende Beiträge sind genauso geplant wie Gastbeiträge von anderen Bloggern und Bloggerinnen.

Was verstehen wir unter “Indie-Verlag”?
Unser Augenmerk liegt ganz klar auf traditionellen Buchverlagen. Bei der Überlegung, welche Verlage wir berücksichtigen wollen, stellen die Kriterien der Kurt-Wolff-Stiftung eine erste wichtige Orientierung dar, aber auch die Listen des Goethe-Instituts sowie auf Tubuk bieten einen guten Überblick über die Landschaft der Indie-Verlage. “Indie” bedeutet in erster Linie natürlich konzernunabhängig, darüber hinaus schauen wir jedoch auch auf die Größe der Verlage. Einige der Publikumsverlage – wie zum Beispiel Diogenes oder Hanser – sind zwar genau genommen unabhängig, verfügen aber im Vergleich zu den kleinen Verlagen über deutlich mehr Ressourcen (personeller und vor allem finanzieller Art), um aus eigener Kraft auf sich aufmerksam zu machen. Das wichtigste Kriterium von allen ist allerdings unser persönlicher Geschmack: Nicht nur die Verlage, denen wir uns widmen, sind indie, auch wir selbst haben den Anspruch, es zu sein. Die Bücher, die wir lesen und rezensieren, wählen wir also nach unseren eigenen Vorlieben aus. Wir bitten daher um Verständnis, dass wir nicht allen Anfragen von Verlagen nachkommen können.

Wir freuen uns sehr über den großen Zuspruch, den wir bereits vergangene Woche auf unserer Facebook-Fanpage erfahren haben, verneigen uns dafür und sind gespannt auf das Blogprojekt der besonderen Art.

Es grüßen Mariki und das gesamte “We read Indie”-Team!

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http://readindie.wordpress.com | http://www.facebook.com/wereadindie | wereadindie@gmail.com
Illustrationen © karenina illustration

Netter Versuch: 2 Sterne

BechtleRätselraten um einen Toten in van Goghs Sterbezimmer
Theo van Gogh, Bruder des später weltberühmten Malers, hat sich zeit seines Lebens bemüht, Vincents Werken jene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die ihnen gebührt. Aber seine Versuche sind gescheitert, die Kunstwelt ist nicht bereit, er hat den Bruder all die Zeit finanziell unterstützt und den Zorn seiner Frau auf sich gezogen – vergebens. Vincent, der seit einiger Zeit in Auvers in ärztlicher Behandlung ist, hat genug: Er schießt auf sich selbst und stirbt nach einer letzten Nacht, in der Theo an seiner Seite wacht. 2003 wird die Anwältin Sabine Bucher, die gerade zum Urlaub mit ihrem Geliebten auf Sylt aufbrechen wollte, nach Auvers zitiert: Ihr Onkel wurde tot aufgefunden – ausgerechnet in van Goghs Sterbezimmer. Sabine hatte kaum Kontakt zu ihrem Onkel, der zehn Jahre zuvor seine Firma verkaufte und nach Paris zog, um auf seine alten Tage doch noch Schriftsteller zu werden. Die Polizei geht von einem Selbstmord aus, doch der Onkel stand kurz davor, sein erstes Buch zu veröffentlichen, und es befindet sich keine Waffe bei ihm. Sabine wird ungewollt zur Ermittlerin und versucht, die wahren Umstände hinter diesem Todesfall aufzuklären.

J. R. Bechtle hat in seinem Debütroman historische Ereignisse und eine Krimigeschichte gekoppelt. Zusammen mit ihm springe ich zwischen 1890 und 2003 umher. 1890 geht es in erster Linie um van Goghs Vermächtnis und das Bemühen seiner Verwandten, ihn berühmt zu machen. 2003 sucht Sabine Bucher nach möglichen Ursachen für den Tod ihres Onkels, den sie kaum kannte. Die zwei Erzählstränge haben nichts miteinander zu tun und werden auch am Ende nicht miteinander verknüpft. Es ist heiß in J. R. Bechtles Roman, und es geht auch heiß her: Die Polizei nimmt in Auvers vermeintliche iranische Terroristen fest, Politik, Mord und Totschlag vermischen sich. Der deutsche Autor hat ein spannendes Szenario entworfen, und er hat sich wirklich sehr bemüht, ein gutes Buch zu schreiben – leider. Denn dieses Bemühen macht sich stets bemerkbar, und kein Satz wirkt so, als sei er ihm leicht gefallen. Der Lesefluss ist holprig und stockt, sprachlich steckt der Roman zum Großteil in Kinderschuhen – als sei er eine Schreibübung, bei der man sagen möchte: Gut, weiter so, das kannst du noch besser. Bei der Figurenzeichnung zeigt J. R. Bechtle nicht unbedingt ein glückliches Händchen, Polizisten und Verlagsmitarbeiter sind stereotyp und verhalten sich völlig irrational, Sabine ist zutiefst langweilig und unsympathisch. Einzig der historischen Figur des schwitzenden, trauernden Theo kann ich etwas abgewinnen.

Natürlich ist es nicht die feine Art, ein Werk zu kritisieren, in das jemand so viel Herzblut gesteckt hat wie J. R. Bechtle in sein Debüt. Er hatte eine glänzende Idee für eine gute Geschichte, er hat sie ohne Frage bestens strukturiert und mit einem stimmigen Ende ausgestattet, das zwar recht konstruiert ist, aber das bringt ein Krimi eben mit sich. Er hat gut recherchiert und sich in das Thema van Gogh hineingekniet, und ich glaube auch nicht, dass er nicht schreiben kann – es ist ihm nur nicht gelungen, einen sprachlichen Zauber zu wirken, die Wörter zum Singen zu bringen. Sie tanzen nicht für ihn, sondern bleiben plakativ und eindimensional. Wer aber gern das Rätsel um einen Mordfall löst und sich obendrein für van Gogh interessiert, verbringt mit diesem Roman sicher ein paar unterhaltsame Lesestunden.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein passendes, aber eher langweiliges Cover.
… fürs Hirn: na, wer war der Mörder?
… fürs Herz: zwei Liebesgeschichten, aber eher am Rande.
… fürs Gedächtnis: für mich leider nichts.

Hotel van Gogh von J. R. Bechtle ist erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt (ISBN 978-3-627-00190-2, 320 Seiten, 19,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Stefansson„Das Leben wird beim Lesen größer. Es wird reicher“
„Wörter, die geschrieben wurden, vergessen nichts und bewahren alles, vielleicht liegen sie irgendwo in der Vergessenheit und in der Dunkelheit, aber sie leuchten auf, sobald jemand in ihre Richtung schaut.“ Der Junge weiß das, und er ist nicht untalentiert im Umgang mit Worten – was ihn durchaus besonders macht in jenem abgeschotteten kleinen Fischerdorf in Island, wo er lebt. Man begegnet ihm mit Spott, aber auch Respekt. Bei einem Marsch durch den gnadenlosen Schnee verliert er beinahe sein Leben und muss sich im Haus von Steinunn und Ólafur erholen. Die Wörter und die Literatur – besonders die Romane von Charles Dickens – sind ihm wichtig, aber es gibt etwas, das ihn verwirrt und ablenkt: die Frauen. Die rothaarige Alfheidur verdreht ihm den Kopf, und dass sie ihm, als er wieder zuhause in seinem Dorf ist, zwei Briefe schreibt, gibt ihm Rätsel auf. Zugleich verführt ihn die kokette Ragnheidur, und selbst betätigt er sich mit seiner Fähigkeit, die Worte aufzuwirbeln, als Kuppler. Schließlich brauchen die Isländer jemanden an ihrer Seite, der sie wärmt im bitteren Winter …

Bei Jón Kalman Stefánsson bin ich – entgegen meiner Gewohnheit – zum Wiederholungstäter geworden. Das Licht auf den Bergen hat mich vor einiger Zeit begeistert, und ich habe mir sein neues Buch gezielt aus den Neuerscheinungen von Piper herausgepickt. Ich bin also tatsächlich – um beim Sprachbild zu bleiben – noch einmal nach Island gereist. Und dort ist es immer noch kalt und verlassen. Jón Kalman Stefánsson, der für diesen Roman mit dem Isländischen Buchhändlerpreis ausgezeichnet wurde, lässt darin einen namenlosen Erzähler, der nur „der Junge“ genannt wird, berichten, wie es ist, erwachsen zu werden an einem Ort, an dem Schnee und harte Arbeit vorherrschend sind. Island wird stets als ein raues Land dargestellt, das bevölkert ist von Trollen und Feen – etwas Magisches ist allerdings in Das Herz des Menschen nicht zu finden.

Der Fokus liegt auf dem Phänomen, das jungen Männern in der Pubertät begegnet: dass ihnen das Blut aus dem Gehirn hinaus- und in die Lenden hineinschießt. Der Autor wird dabei aber niemals vulgär oder trivial, vielmehr schmückt er sein Thema, das mich ein wenig schmunzeln und ein wenig seufzen lässt, mit gnadenlosen Beobachtungen, stimmigen Lebensweisheiten und subtilen Zwischentönen: „Wir sind nicht immer gleich, die Anwesenheit anderer verändert uns, zieht jeweils andere Register in uns und nur höchst selten alle auf einmal, in jedem Menschen gibt es verborgene Welten, und manche von ihnen kommen nie zum Vorschein“ und: „Ich gehe, und er wusste sofort, was sie damit meinte, aber am besten tut man so, als hätte man keine Ahnung, worum es geht, wenn das Leben um einen herum in tausend Stücke fällt.“ Viel Gewicht liegt auch auf der Leidenschaft des Jungen für Bücher, Wörter und ihre Kraft – ungewöhnlich an einem Ort, an dem es um genug Nahrung für den Winter und die Versorgung der Familie geht. In diesem Aspekt des Buchs fühle ich mich freilich bestens aufgehoben, und ich finde spitze, kluge Sätze dort: „Wörter können Auswirkungen auf Menschen haben, das solltest du eigentlich wissen, nicht zuletzt die Wörter, die auch noch niedergeschrieben wurden, sie dringen in dich ein und lassen dich nicht in Frieden, das ist nicht einfach, und währenddessen soll man noch sein normales Leben weiterführen, als wenn nichts gewesen wäre.“ Dieser Roman überzeugt nicht durch Inhalt, denn die Geschichte an sich ist fast ein wenig flach, sondern durch Sprache und Atmosphäre. Jón Kalman Stefánsson schreibt sehr bedacht, jedes Wort stimmt, jedes Gefühl auch.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
für mich eines der schönsten Cover bisher im Jahr 2013.
… fürs Hirn: die Geschichte an sich erfordert keine Hirnarbeit, eher ein Fallenlassen.
… fürs Herz: erste Liebe, erste Triebe vor der Kulisse Islands.
… fürs Gedächtnis: dass ich irgendwann wirklich nach Island reisen muss.

Das Herz des Menschen von Jón Kalman Stefánsson ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05548-2, 416 Seiten, 22,99 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

SkomsvoldUnd könnte man 100 Jahre leben
Mathea Martinsen ist richtig alt – und richtig allein. Seit dem Tod ihres Mannes Epsilon verbringt die Greisin ihre Zeit mit Einkaufen, Backen und Nachdenken. Sie lässt ihr Leben Revue passieren, das nicht sehr aufregend war, da sie es zum Großteil in ihrer Wohnung verbracht hat. Sie konnte keine Kinder bekommen und übte keinen Beruf aus, sie hat keine einzige Freundin, und ihre extreme Schüchternheit hat jeden engeren Kontakt zu den Nachbarn verhindert: „Ich war ständig auf der Hut. Wenn mich jemand nach dem Weg fragte, rannte ich, so schnell ich konnte, in die andere Richtung.“ Jetzt, so denkt Mathea, bleibt ihr eigentlich nur noch eins: zu sterben. Also wartet sie auf den Tod, dem sie gleichzeitig aber am liebsten entwischen würde: „Nachts liege ich nicht mehr gern auf dem Rücken, ich fühle mich wie eine Leiche, besonders, wenn ich meine Beine dicht nebeneinanderlege, wie ich es fast immer tue, und die Hände falte. Das Gefühl, in einen Sarg zu passen, ist äußerst unbehaglich, also liege ich jetzt meistens auf dem Bauch, die Knie nach außen gedreht wie ein Frosch, ich habe flexible Hüften.“ Irgendwie geht das mit dem Sterben dann aber doch nicht so leicht, und solange Mathea noch nicht tot ist, erinnert sie sich eben.

Die norwegische Autorin Kjersti A. Skomsvold hat ein schmales Büchlein geschrieben über die Sentimentalität des Abschieds und unser Empfinden, dass das Leben verfliegt wie ein einziger Tag – selbst wenn es 100 Jahre währt. Die Geschichte ist der Erinnerungsmonolog einer alten Frau, aber niemals langweilig oder eintönig, im Gegenteil: Mathea erzählt witzig, erfrischend und mit herrlicher Naivität von kleinen und großen Begebenheiten wie dem Tod des Hundes, der Begegnung mit dem Nachbarsjungen oder dem Kauf von Marmeladegläsern, die sie gar nicht öffnen kann. Nach und nach rekonstruiert Kjersti A. Skomsvold aus all diesen Begebenheiten ein Leben – zumindest in einzelnen Splittern, die ich mit dem Klebstoff der Fantasie zu einem Gesamtbild zusammensetzen kann. Dieses Bild zeugt von Stille und Einsamkeit, einer Einsamkeit, die jedoch selbst auferlegt war und von Mathea nie als unangenehm empfunden wurde. Sie hat nichts, wirklich gar nichts gemacht in ihrem Leben – aber sie war damit zufrieden.

Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich ist eines dieser kleinen, feinen, gemütlichen Bücher, die so unaufgeregt daherkommen, die aber auch nichts Großes bewirken. Sehr rührend ist, wie das Zusammenleben zweier alter Menschen beschrieben wird, die ein bisschen schrullig und sehr eng zusammengewachsen waren. Ich fühle mich gut aufgehoben in dieser wunderbaren, melancholischen und auch hoffnungsfrohen Geschichte mit glitzernden Details, aber ich vermisse einen bedeutungsvollen Aha-Moment, einen Dolchstoß, irgendetwas, das mir besonders in Erinnerung bleiben würde. Dennoch ist der Roman mit seiner liebevoll arrangierten Sammlung aus kleinen Anekdoten, skurrilen Gedanken und schmunzeln machenden Ereignissen durchaus lesenswert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
den Titel finde ich genial, das junge springende Mädchen scheint mir nicht unbedingt so passend.
… fürs Hirn: die Fabelhaftigkeit des Lebens und unsere Pflicht, es auszukosten.
… fürs Herz: das Kind, das es dann nie gab.
… fürs Gedächtnis: die vielen amüsanten Aussagen Matheas, wie zum Beispiel: „Ich gehe in Richtung Kirche hinab und fühle mich dick. Besonders an den Oberschenkeln. Ich habe gehört, dass das eine normale Reaktion ist, wenn man vom anderen Geschlecht abgewiesen wird.“

Bücherwurmloch

IMG_0711So many writers, so little time
Ich habe eine Horrorvorstellung, die geht so: Jedes Jahr im Sommer muss ich an demselben Ort Urlaub machen. Nach 25 Jahren bekomme ich vom Bürgermeister eine Stammgastmedaille. Das würde ich nicht ertragen – ich werde ganz kribbelig beim Gedanken, öfter als einmal an den gleichen Ort reisen zu müssen und all die anderen Städte, Strände und Länder nicht sehen zu können. Genau so geht es mir mit Büchern. Sie sind die Reisen, die ich täglich mache, auch wenn ich keinen Urlaub habe – und sie sollen verschieden sein, jede für sich genommen ein einzigartiges Erlebnis, wie unterschiedliche Länder am besten. Allerdings nur in Hinblick auf den Autor und den Inhalt, nicht auf das Genre, da bin ich unflexibel – Chicklit, Vampire-Stories und Thriller kommen nicht in meinen Koffer.

Früher war ich ein Serienjunkie. Mit 17 habe ich die Krimis von Elizabeth George und Andrea Camilleri geliebt, und ich weiß, wie schön es ist, stets aufs Neue zu einer bekannten Buchfigur zurückzukehren. Dann hatte ich meine erste ernste Beziehung mit einem Schriftsteller: John Irving. Viele lange Jahre war ich ihm treu, doch eines Tages war klar, dass wir uns auseinandergelebt hatten, und wir haben uns im Guten getrennt. Danach wurde ich rastlos. So many writers, so little time – ich ziehe von einem zum anderen und lese seit Jahren nur noch selten mehr als ein Buch vom selben Autor. Allzu oft habe ich es auch ganz einfach bereut. Es ist eine Pattsituation: Gefällt mir ein Roman nicht, lese ich ganz sicher keinen zweiten aus derselben Feder, ich bringe nicht die Geduld für eine zweite Chance auf. Finde ich ein Buch dagegen genial, wird es schwierig: Ein zweites Werk hält eventuell nicht, was das erste versprach. So ging es mir, um nur ein paar Beispiele zu nennen, mit Lloyd Jones (Mr. Pip war hervorragend, Here at the end of the world we learn to dance war ein Flop), Colum McCann (Zoli war ein Meisterwerk, Der Himmel unter der Stadt arg enttäuschend), Gerbrand Bakker (von Oben ist es still war ich begeistert, Tage im Juni hat mich gelangweilt), Jeffrey Eugenides (Middlesex gehört zu meinen Lieblingsbüchern, The marriage plot war unglaublich schlecht) … und vielen anderen. Die einzigen zwei Schriftsteller, die durch mein engmaschiges Netz geschlüpft sind und von denen ich auch die Neuerscheinungen lese, sind Milena Agus und Per Petterson. Das ist aber eher Zufall als Plan.

Inzwischen habe ich eine echte Marotte entwickelt. Ich bewundere Leser, die große Fans eines Autors sind, seinem neuen Werk entgegenfiebern und seine Entwicklung verfolgen. Vielleicht beneide ich sie auch ein bisschen, denn ich schränke mich selbst stark ein mit meiner merkwürdigen Abneigung. Ich lese ein Buch, danke dem Autor mit einem Lächeln, grüße freundlich und reise weiter – manchmal würde ich aber möglicherweise gern ein Weilchen bleiben. Ich habe jedoch zu viel Angst, etwas zu verpassen. Wie geht es euch damit? Führt ihr enge Beziehungen mit manchen Schreibern oder habt ihr auch lieber One-Book-Stands? Seid ihr der Meinung, dass ich umgekehrt viel verpasse, weil ich so engstirnig bin? Gibt es eine Serie, die ihr liebt – und warum? Ich bin auf eure Antworten gespannt. Und fahre derweil auf Urlaub.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Agus„Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“
„Johnson junior meint, wenn man Kinder in die Welt setzt, darf man nicht einmal im Traum daran denken, verrückt zu werden oder sich umzubringen.“ Daran haben sich die Eltern der jungen Ich-Erzählerin leider nicht gehalten, ihr Vater hat sich das Leben genommen, ihre Mutter ist verrückt geworden. Die Literaturstudentin, die bei ihrer Tante aufwuchs, ist inzwischen halbwegs darüber hinweg und genießt das Leben in einer Wohnung in einem alten Palazzo in Cagliari. Und zwar vor allem das Leben der anderen. Denn das ist viel interessanter. Der Signore von oben, Mr. Johnson aus Amerika, wurde von seiner reichen Frau verlassen, weshalb die Studentin es organisiert, dass die Signora von unten, Anna, ihm den Haushalt macht – und sie will die beiden natürlich nicht nur arbeitstechnisch verkuppeln. Annas Tochter Natascha, die absurd eifersüchtig ist, macht sich Sorgen um die herzkranke Mutter, die bisher von Männern nur ausgebeutet wurde. Dann tauchen Mr. Johnsons Sohn – der der Studentin gefallen würde, sich aber leider zum falschen Geschlecht hingezogen fühlt – und Enkel auf, ein altkluger kleiner Junge, den alle lieben. So könnte alles gut werden in dem alten Palazzo in Cagliari – käme nicht plötzlich Mr. Johnsons Frau zurück, um ihren alten Platz einzunehmen und damit das neue Glück zu zerstören …

Ich mag Milena Agus. Sehr. Sie gehört zu den wenigen bis sehr wenigen Autoren, von denen ich alle bisher erschienenen Bücher gelesen habe. Ich bin ein großer Fan ihres klaren, verschmitzten und schnörkellosen Stils. Ihre Geschichten sind wie Seifenblasen, banal eigentlich, aber gleichzeitig schillernd und faszinierend. Immer gibt sich die Autorin ein wenig hinterlistig und springt nicht gerade zimperlich mit ihren Figuren um – auch wenn sie diese stets liebevoll zeichnet. Ein wenig angeschlagen sind sie, die Charaktere, sie haben einen Knacks in der Seele und einen Sprung in der Schüssel. Auch im neuesten Roman Die Welt auf dem Kopf würfelt Milena Agus ein paar Menschen zusammen, steckt sie in ein Haus, streut eine Prise Liebe durch den Kamin und wartet ab, was geschieht. Nämlich – wie immer in ihren Büchern – eigentlich nichts, aber irgendwie doch viel. Es wird verkuppelt und sich verliebt, Herzen werden gebrochen und Liebhaber herbeigesehnt. Das alles geschieht in einem abgeschotteten Mikrokosmos, Beziehungen zur Außenwelt sind nicht von Bedeutung. Da ich in diesem Fall ausnahmsweise vergleichen kann, muss ich sagen, dass das neue Buch nicht an meinen Liebling Die Frau im Mond heranreicht, aber dennoch mehr als lesenswert ist. Es hat jenen einzigartigen Zauber, der allen Werken von Milena Agus eigen ist und dem ich verfallen bin. Es ist eine große Kunst, das Kleine zu erzählen, jene Winzigkeiten, die den Alltag ausmachen, zu einer fabelhaften, spannenden, melancholischen Geschichte zu verweben. Und diese Kunst beherrscht Milena Agus hervorragend.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr schön.
… fürs Hirn: Leichtigkeit und melancholische Schwere zugleich.
… fürs Herz: alles, alles!
… fürs Gedächtnis: auch den nächsten Roman von Milena Agus lesen!

Die Welt auf dem Kopf von Milena Agus ist erschienen im dtv (ISBN 978-3423280136, 200 Seiten, 18,90 Euro).