Netter Versuch: 2 Sterne, Snacks für zwischendurch

LohmannSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Milena ist am Ende, sie funktioniert nicht mehr: „Mir ging es auch gar nicht schlecht, fand ich. Mir ging es irgendwie überhaupt nicht mehr.“ Als ihre Depression sie so niederdrückt, dass sie nichts mehr kann außer weinen, wird sie in eine Klinik eingewiesen. Und fragt sich erst einmal, was sie dort soll. Kritisch beäugt sie die Magersüchtigen, die Selbstmordgefährdeten und Verzweifelten. Gerade war doch noch alles gut, sie ist jung, hübsch, hat einen gut bezahlten Job und einen lieben Freund – warum nur kann sie nicht glücklich sein? Das soll sie in der Therapie herausfinden. Und innerhalb von acht Wochen bekommt Milena auch die Wurzel allen Übels zu packen, die natürlich in ihrer Kindheit liegt.

Hat’s gemundet?
Nicht wirklich. Acht Wochen verrückt kann man schwupps auslesen – muss man aber nicht. Die Geschichte ist in meinen Augen sehr oberflächlich und unoriginell. Milena landet in der Klapse, macht sich auf hysterische Art über sich selbst und die anderen „Verrückten“ lustig, hat neuzeitliche „Ich setze mich immer so unter Druck“-Probleme und kommt auch als Erwachsene nicht mit der Scheidung der Eltern klar. Das ist Klischee über Klischee, und manchmal habe ich das Gefühl, mir purzelt in diesem Buch kein einziger neuartiger oder kluger Gedanke entgegen. Vielmehr ist das lauwarmer Abklatsch über das, was wir alle längst wissen: dass wir Menschen uns selbst am besten krank machen können. Tablettensucht, Bulimie, Burn-out – ich hätte mir einen schärferen, tiefer gehenden Blick auf diese Krankheiten gewünscht, nicht einen Roman, das klingt wie das Tagebuch einer naiven Fünfzehnjährigen.

Wer soll’s lesen?

Alle, die nichts dagegen haben, wenn es zwischendurch mal sehr seicht und klischeehaft ist.

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

CleenSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht‘s?
Judith ist zehn Jahre alt und hat es nicht gerade leicht. Ihr Vater ist streng religiös und gehört einer missionarischen Gemeinschaft an, jeden Abend lesen die beiden in der Bibel, und an den Wochenenden versuchen sie die Nachbarschaft zu bekehren. Die Mutter ist bei Judiths Geburt gestorben, und da das Mädchen die meiste Zeit allein ist, hat es in seinem Zimmer eine Miniaturwelt aus Müll gebaut, „the land of decoration“. In der Schule ist Judith natürlich eine Außenseiterin, und in ihrer Verzweiflung bleibt ihr nichts anderes übrig, als an Wunder zu glauben: Sie fabriziert Schnee in ihrer eigenen kleinen Welt, und als es am nächsten Tag – mitten im Oktober – wirklich schneit, muss Judith nicht in die Schule. Ihre Probleme fangen damit aber erst an …

Hat’s gemundet?
Teilweise. The land of decoration ist ein sehr merkwürdiges und schräges Buch. Geschichten, in denen ein kindlicher Protagonist auftritt, brauchen ja immer etwas Originelles, und diese hier hat davon reichlich: eine tote Mutter, Probleme in der Schule, ein fanatisch religiöser Vater – das klingt alles schon schlimm genug. Judith aber glaubt wirklich an den Weltuntergang, führt Gespräche mit einem irritierend bösartigen Gott und steigert sich so sehr in ihre Wahnvorstellungen hinein, dass sie beinahe zu weit geht. Dieses Kind, das immer allein ist, besteht aus purem Unglück. Grace McCleen, die selbst in einer religiösen Gemeinschaft aufwuchs, hat eine intensive, schwermütige und teilweise anstrengende Story geschrieben, die mich sehr verstört zurücklässt. Zwar gibt es immer wieder amüsante Zwischentöne, aber das Lachen bleibt mir eher im Hals stecken. Ziemlich gruselig.

Wer soll’s lesen?
Fans von Storys mit kindlichen Ich-Erzählern, die sich gern in eine Fantasiewelt hineindenken.

The land of decoration ist auf Deutsch unter dem Titel Wo Milch und Honig fließen erschienen. Bei Mara findet ihr eine ausführliche Rezension.

Für Gourmets: 5 Sterne, Snacks für zwischendurch

ZiefleSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Sieben Nächte, dann wird Luisa mit ihrer Familie in die Türkei reisen, um ihre Verwandten kennenzulernen, die sie nie gesehen hat. Und in diesen sieben Nächten erzählt sie ihrer Tochter, die nicht schlafen will, die Geschichte ihrer Herkunft, die sie erst aufgrund dieser Schlaflosigkeit erforscht hat. Sie berichtet von zufälligen Begegnungen und den Schwierigkeiten, in der Fremde zu leben, von Adoption und dem Gefühl der Verlorenheit. Viele Menschen haben einen Verlust erlitten in dieser Familiengeschichte, und es braucht erst ein kleines Kind, das keine Wurzeln hat, um endlich alle und alles zusammenzuführen. „Wo kann ich hin, wenn ich nicht weiß, wo ich herkomme?“, ist die zentrale Frage in Pia Ziefles Roman.

Hat’s gemundet?
Ein Buch für Gourmets. Denn es gibt sie, diese Bücher, bei denen einfach alles stimmt. Die Worte fallen an die richtigen Stellen und ergeben lebendige Bilder, die Geschichte ist melancholisch, traurig, lebensnah und schön. Ich fühle mich aufgehoben in diesem Buch, begleitet und geführt – dies ist einer jener Romane, den man einfach mögen muss, wie auch die unzähligen begeisterten Kritikerstimmen bezeugen. Es gibt nichts daran auszusetzen, Pia Ziefle schreibt sehr anschaulich, voller Begeisterung, mit Gefühl für die Verschiedenheit der Menschen und für das, was sie letztlich alle verbindet. Schade, dass es nur sieben Nächte sind – ich wäre auch noch länger mit diesem Buch wach geblieben.

Wer soll’s lesen?
Alle.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

StellySnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Um das 20. Jahrhundert in Deutschland: Jahrzehnte voll bewegter Geschichte. Ausgangspunkt ist die Geburt von Anton Bluhm und Franz Münzer im Jahr 1924. Der eine wächst mit dem Vorhaben auf, allem Wunderglauben abzuschwören, weil sein Vater das Familienvermögen an einen betrügerischen Goldmacher verloren hat, der andere glaubt an die Wunderwaffe, die der überlegenen Rasse der Arier den Weltsieg bringen soll. In der Hitler-Jugend treffen sie aufeinander, dann verlieren sie sich für Jahre aus den Augen, bis der Zufall sie wieder zusammenbringt. Anton und Franz werden Freunde. Die beiden Männer führen ein völlig unterschiedliches Leben – als erfolgreicher Hamburger Zeitungsmacher der eine, als vielfacher Familienvater auf dem Land der andere – und ähneln sich doch darin, dass es ihnen schwerfällt, mit der Entwicklung Deutschlands Schritt zu halten. Als 1968 die jungen Menschen der älteren Generation wütende Vorwürfe machen, sehen sich Anton und Franz auf verlorenen Posten. Zwar kehrt mit dem Alter in den 1990er-Jahren Ruhe ein, aber ihr bewegtes Leben hat sie beide sehr mitgenommen.

Hat’s gemundet?
Es war hervorragend! Die deutsche Autorin Gisela Stelly hat zwei Männer in die Wirren jener Zeit verpflanzt, in der sich in Deutschland viel getan hat: Die Geschichte reicht von 1924 bis 2001. Der erste Teil, in dem Anton und Franz noch jung sind, in dem Krieg ist und jeder auf seine Art versucht zu überleben, hat mich regelrecht mitgerissen und begeistert. Im zweiten Teil, in dem es ein wenig gemächlicher zugeht bzw. die Zahl der Nebenfiguren und Randgeschichten zunimmt, ist mir ein wenig die Puste ausgegangen. Gut zu lesen, spannend, originell und intelligent ist der Roman aber bis zum Schluss. Die Schriftstellerin zeigt an den Porträts zweier unterschiedlicher Charaktere sehr anschaulich die Auswirkungen der jüngeren deutschen Geschichte, und man kann sich richtig hineinleben in ihre Darstellung.

Wer soll’s lesen?

Ohne Einschränkung jeder, der etwas für klassische, weitreichend aufgebaute und ausgezeichnet geschriebene Romane übrighat.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne, Snacks für zwischendurch

JoinsonSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
“Kashgar opens its secrets to an English lady cyclist”: Die Beschäftigung mit dem Land erfolgt nicht unbedingt nur freiwillig. Ich-Erzählerin Evangeline English wird nämlich im Jahr 1923 zusammen mit ihrer Schwester Lizzie und der Missionarin Millicent nach dem Tod einer jungen Mutter bei der Geburt ihres Kindes hier festgehalten. Evangeline ist überhaupt nicht gläubig, aber sehr reiselustig, und sie wollte Lizzie, die der seltsamen missionarischen Kraft Millicents verfallen ist, nicht allein reisen lassen. Hier in diesem fremden Land versuchen die drei Frauen, Zugang zu finden zur andersartigen Kultur und Religion, um sie zu unterminieren und die Seelen dem katholischen Glauben zuzuführen. Damit bringen sie sich freilich in höchste Gefahr. Im London der Gegenwart lernt dagegen Frieda einen Flüchtigen kennen, und auch mit diesen beiden treffen Fremdheit und Andersartigkeit aufeinander. Es entsteht eine verwunderliche Verbindung, die Frieda in ihre eigene Vergangenheit führt – und letztlich auch zu Evangeline.

Hat’s gemundet?
Durchaus! Suzanne Joinson schreibt klug, flüssig, amüsant und einfühlsam. Sie erweckt in Evangelines Reisetagebuch eine Welt, die richtig weit entfernt ist von unserer – sowohl geografisch als auch kulturell. Politische und religiöse Konflikte, die Missionarsarbeit naiver junger Schwestern und sündige, verbotene Gefühle vermischen sich zu einem durchaus lesenswerten Abenteuer. Die Spuren, denen Frieda später in unserer Gegenwart folgt, sind klar zu erkennen, aber nicht so offensichtlich, dass man das Interesse verliert. Ein richtig gut gemachter Unterhaltungsroman.

Wer soll’s lesen?
Reiselustige, Abenteurer, Fans von Geschichten über fremde Kulturen.

Bücherwurmloch

IMG_5045Nächstes großes Projekt: Baby Nummer zwei
Der Sohnemann ist bereits ein Bücherwurm und will mit zwei Jahren schon Pippi Langstrumpf vorgelesen bekommen, obwohl da kaum Bilder drin sind – und ich bin gespannt, ob die kleine Schwester es ihm nachmachen wird. Sie kommt in Kürze und wird mich mit Sicherheit ordentlich beschäftigt halten, sodass das Bücherwurmloch erst einmal ein wenig pausieren muss. Lesen werde ich natürlich weiterhin in jeder freien Minute, aber mit dem Rezensieren wird es vermutlich ein wenig schwierig. Vielleicht schaffe ich es dann im Herbst, euch wenigstens in Kurzbesprechungen mitzuteilen, was ich mir so an Lektüre einverleibt habe. Auf meiner Facebook-Fanpage werde ich je nach Gelegenheit auch aktiv sein. Ich hoffe, dass ihr mir die Treue haltet und wir uns bald “wiederlesen”! Alles Liebe einstweilen von Mamamariki

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Zeiner„Dann wirst du mich an alles erinnern, denn dafür sind Freunde da. Alles, was wir vergessen, ist weg, aber wenn wir zu zweit sind, erinnern wir uns an doppelt so viel, wir haben doppelt so viel Leben“
Tom und Marc sind beste Freunde. Sie studieren und wohnen zusammen, Marc ist ein hochgelobter Jungkomponist, Tom ist auf dem Weg, ein richtig guter Pianist zu werden. Aber nicht nur die Musik verbindet die beiden, sondern auch eine Frau: Betty. Tom lernte Betty bei seiner Geliebten kennen, einer verheirateten Frau, der er Klavierunterricht gibt, und Marc machte Betty zu seiner Freundin. Freilich weiß man längst, dass Dreieckskonstellationen schwierig sind, dass Freundschaft und Liebe sich manchmal zu nahe kommen: „Später hört er, wie Betty den Reißverschluss ihres Zeltes öffnet, ungefähr fünf Meter von ihm entfernt, und während er wach liegt und in die Finsternis starrt, sagt er sich wieder, dass Liebe nicht sein muss. Liebe ist eine Möglichkeit unter vielen und absolut nicht zwingend.“ Diese Liebe ist dann aber doch zwingend, und als die drei Freunde gerade am Como See weilen, eskaliert die Situation. Und Marc kehrt nicht lebend nachhause. Tom und Betty liegen begraben unter den Trümmern, die sein Tod auslöst, Betty flüchtet nach Italien, Tom spielt weiterhin Klavier, aber nur noch mechanisch und ohne seine Seele: „Wenn er Klavier spielte, war es so, als streichelte man einem Querschnittsgelähmten die Beine.“ Viele Jahre später – Tom ist frisch von Hedda geschieden, Betty betrügt ihren italienischen Mann Alfredo mit einem Kollegen – erfährt Betty, dass Tom auf einer Konzerttournee in Italien spielen wird und kontaktiert ihn, um sich mit ihm zu treffen. Es ist Zeit geworden, dass die beiden sich dem stellen, was damals geschehen ist.

Die deutsche Autorin Monika Zeiner hat ihr Debüt Die Ordnung der Sterne über Como randvoll gefüllt mit großen und kleinen Themen: Die Wichtigkeit von Freundschaft, die Sprengkraft der Liebe und der Zauber der Musik spielen ebenso eine Rolle wie das Scheitern von Träumen an der Realität, Untreue und bitterer Verlust. So angefüllt ist das 600 Seiten starke Buch, dass ich bei mancher ausufernden Länge ein wenig den Faden verliere und ins Stolpern komme. Die meiste Zeit über führt Monika Zeiner mich aber auf elegante Weise auf den Spuren von Tom, Marc und Betty durch den Roman, entwirrt die verschlungenen Pfade der gemeinsamen Vergangenheit dieser drei Protagonisten und zeigt mir, weshalb sie schließlich in der Gegenwart dort gelandet sind, wo sie sich befinden. Prägend für das Buch und für die Geschichte ist eine enge Männerfreundschaft, die zu Beginn so unbedarft ist, wie sie es wohl nur sein kann, wenn beide Männer jung und voller Zukunftsträume sind. Dann kommt eine Frau, und als die Tragödie ihren Lauf nimmt, kommt die Schuld – die Marc und Betty fortan so fest umklammert hält, dass sie nie wieder frei atmen können.

„Immer ist alles anders gekommen mit Marc. Jeder Tag eine unvorhergesehene Wendung. Ein Knick um neunzig Grad hinter dem Horizont. Man will in den Wedding und kommt ans Meer. Man will Klavierschüler und kriegt eine Geliebte. Man will, dass alles so bleibt, und alles ändert sich.“ Dass das Leben voll unvorhersehbaren Wendungen steckt, hat Monika Zeiner in diesem Buch sehr eindrucksvoll herausgearbeitet. Ihre Figuren sind lebendig, ihre Einsichten klug, die Geschichte ist stimmig, und das Ende klingt auf perfekt passende Art aus. Sie legt einen Roman vor, der staunen lässt angesichts seiner Wucht und Traurigkeit, die aber nie so schwer wiegen, dass man das Gefühl verliert, alles hätte tatsächlich ganz genau so geschehen können. Und das ist die besondere Kunst: so gut vom fiktiven Leben anderer zu erzählen, dass der Leser gern ein wenig eigene Lebenszeit für die Lektüre gibt.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Bild erscheint mir nicht unbedingt passend für den Inhalt, das Cover an sich ist jedoch sehr gelungen.
… fürs Hirn: die Frage nach der Schuld, nach jenem Moment, der all das ins Rollen gebracht hat, was danach niemand mehr aufhalten konnte.
… fürs Herz: das Karussell von Freundschaft und Liebe.
… fürs Gedächtnis: ein Lieblingszitat: „Wenn man jung ist, dann ist das Leben ein Gewirr von tausend Möglichkeiten, ein Gewimmel von tausend Wegen, einer vielversprechender als der andere, und du denkst, dass du sie alle gehen kannst. Wenn dir einer nicht gefällt, kehrst du um und suchst dir einen anderen, alles ist hell und freundlich. Alle Türen sind offen, dahinter ist Licht. Je älter du wirst, desto mehr Türen fallen zu, Wege verschwinden, sind einfach nicht mehr da, oder du findest sie nicht wieder, wie im Märchen, wo plötzlich meterhohe Dornenbüsche wachsen.“

Die Ordnung der Sterne über Como von Monika Zeiner ist erschienen im Blumenbar Verlag (ISBN 978-3-351-05000-9, 607 Seiten, 19,99 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Seydlitz„Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, dass sich etwas mit hoher Geschwindigkeit auf mich zubewegt“
Juno hatte eine Kindheit, die ein bisschen gut und dann ziemlich schlecht war. Der Vater kämpfte gegen eine schwere Depression, und als er diesen Kampf verlor, ließ er Juno und ihre Mutter allein zurück. Während die Mutter dank neuem Mann und neuem Kind nicht allein blieb, fühlt Juno sich auch später noch ziemlich verloren in der Welt. Als sie einen Brief bekommt, dem ein Polaroid-Bild von einem Haus am Meer beiliegt, reist sie spontan nach Frankreich, um herauszufinden, was es mit diesem Haus auf sich hat. Es gehörte dem Vater, und einmal, so erinnert Juno sich, war sie als Kind sogar dort, nur für Minuten jedoch, bevor die Familie sich im einzigen gemeinsamen Urlaub, den es je gab, in einem komfortableren Hotel einmietet. Juno findet das Haus bewohnt vor, die junge Julie hat sich dort eingerichtet, und Jan, ein Architekt aus Deutschland, geht ebenfalls ein und aus. Was weiß Julie über Junos Vater? Und wer ist sie überhaupt? Die Reise in die Bretagne wird für Juno zur Reise in das ungekannte Leben ihres Vaters – und in ihre eigene Vergangenheit.

Es gibt viele, sehr viele Bücher, deren Geschichte geht so: Ein junger Mann/eine junge Frau erbt überraschend ein Haus, das dem Vater/der Mutter gehörte. Irgendwo in der Familie liegt ein altes Geheimnis begraben, und die junge Frau/der junge Mann reist – immer mit einer ordentlichen Portion Melancholie im Gepäck – in das Haus, um dieses Geheimnis zu ergründen. Dort rollt sich dann, meist mithilfe diverser Nebenfiguren, die ganze Kindheit auf, und die Puzzlestücke fügen sich zur Zufriedenheit aller zusammen. Dieses Schema ist nicht neu und absolut nicht originell, aber da ein Buch nicht nur aus der Handlung allein besteht, hat die junge deutsche Autorin Lisa-Marie Seydlitz noch einen Trumpf in der Hand, den sie zu nutzen weiß: die Sprache. Sie kann schreiben, sehr gut sogar. Ihre melodisch-poetische Erzählweise füllt das bekannte 08/15-Schema mit Worten, Sätzen und Metaphern, die alles andere als 08/15 sind. Und das macht dieses Buch so schön.

Es ist viel, sehr viel geschrieben worden über Sommertöchter – und, soweit mir bekannt, nur Gutes. Zu Recht. Lisa-Marie Seydlitz beschwört eine Kindheit herauf, die verdunkelt wurde von einem Schatten, dem Schatten des Vaters bzw. seiner Krankheit. Als Erwachsene muss Juno lernen, dass man solche Schatten nicht abschütteln kann, sondern Frieden mit ihnen schließen muss. Das gelingt ihr in einem langen, seltsam ereignislosen Sommer, in dem sie sich hineinziehen lässt in die Geschichte ihres Vaters, in die Geschichte seines Hauses und in die Geschichte von Jan und Julie. Juno ist wie Treibholz, das angespült wird an der französischen Küste – und dort seine Wurzeln entdeckt. Sommertöchter ist ein kluger, sanfter, trauriger und zugleich sehr hoffnungsfroher Roman über die Schwierigkeit, erwachsen zu werden, wenn man nie ein Kind sein durfte.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein sehr stilvolles, gelungenes Cover.
… fürs Hirn: die Frage, was für Menschen unsere Eltern eigentlich wirklich sind oder waren.
… fürs Herz: viele Facetten der Liebe, manche sichtbar, andere nicht.
… fürs Gedächtnis: das beachtliche Talent dieser Autorin.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Bünger„Es ist wie immer, wenn man fällt: Der Boden ist da, bevor man merkt, dass man ihn unter den Füßen verloren hat“
Rosalie ist als Staatsanwältin eine eher vernunftgesteuerte junge Frau, die nur sporadische Beziehungen zu Männern pflegt. Eher halbherzig ist auch der Kontakt zu ihrem Vater, mit dem sie regelmäßig telefoniert oder Schweinsbraten isst, wobei sie seinen anstrengenden Monologen über seine paranoiden Weltansichten nicht immer zu hundert Prozent folgt. Als der Vater nach einem solchen Schweinsbratenessen plötzlich verschwunden ist, wünscht Rosalie sich, sie hätte besser zugehört: Welche Spur verfolgt er, wo könnte er sein? Hat er sich in irgendein Verschwörungsszenario hineingesteigert oder hat er dieses Mal tatsächlich etwas Verbrecherisches aufgedeckt und befindet sich in Gefahr? Rosalie bleibt nichts anderes übrig, als sich durch die vielen wirren Aufzeichnungen des Vaters zu wühlen, um Aufschluss über seinen Aufenthaltsort zu bekommen. Zur Seite steht ihr – oder eher sitzt, denn er ist gefesselt an einen Rollstuhl – Tobias, ein Freund aus Kindheitstagen, der Rosalies Vater gut kennt. An dem Unfall, der ihn lähmte, fühlt sie sich nicht unschuldig. So wird Rosalies Suche nach dem Vater auch zu einem Ausflug in ihre Kindheit, als sie noch glauben wollte, dass er nicht einfach nur verrückt war, sondern vielleicht doch ein Held.

In Lieblingskinder erzählt die deutsche Autorin Traudl Bünger von Wahnvorstellungen, vom Scheitern einer Familie und den schwindenden Illusionen eines Kindes, das sich später als Erwachsene den Schatten der Vergangenheit stellen muss. Sie tut dies, indem sie zwischen Gegenwart – die Suche von Rosalie und Tobias nach dem verschwundenen Vater – und Vergangenheit – Rosalies Kindheit, beginnend mit 1978 – wechselt und nach und nach alle Schichten der Story freilegt. Zu Tage kommt dabei ein Familienverband aus Vater, Mutter und zwei Töchtern, der mit der Zeit von der zunehmenden Verrücktheit des Vaters zermürbt wurde. Nachbarschaftsstreitereien, das Aussterben von Kleintieren, eine große Verschwörung zum einträglichen Verkauf von Glühbirnen – alles kann für den Vater zur Obsession werden. Und während Rosalie als kleines Mädchen noch seine diensteifrige Assistentin spielt, wird ihr später immer mehr klar, dass sie auf Abstand zum Vater gehen muss, um nicht selbst so zu werden wie er.

Sehr flott, nüchtern und frech ist der Stil von Traudl Bünger, ihre Ich-Erzählerin ist eine sympathische junge Frau, die gelernt hat, dass niemand auf sie achtet, wenn sie es nicht selbst tut – und dabei übersieht, dass man auch Schwächen zulassen und eingestehen muss, um zu einer stabilen Persönlichkeit zu werden. Das Verschwinden des Vaters und das Wiedersehen mit Tobias, der ihr bald wichtiger wird, als ihr anfangs lieb ist, werden für Rosalie zum Startpunkt für einen Ausflug zu jenen Geschehnissen, die sie gern verdrängen und vergessen würde. Die Autorin schreibt griffig und witzig, sie trifft perfekt den Ton zwischen Ernst und Unernst. Das Ende des Romans ist für mich persönlich unglücklich gewählt, denn auch wenn ich weiß, dass viele Schriftsteller gern auf diesen Knalleffekt-Kniff setzen, halte ich ihn für sehr mau und unbefriedigend. Überhaupt verliert das Buch gegen Ende hin für mich an Zugkraft, aber als angenehmes Leseerlebnis möchte ich es dennoch weiterempfehlen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr schlichtes Cover, kein Hingucker.
… fürs Hirn: jede Menge Trockenes – was der Vater zusammengetragen und sich zusammengereimt hat, führt im Buch zu manchen Längen.
… fürs Herz: ja! Eine Lovestory gibt es auch.
… fürs Gedächtnis: für mich das Ende. Allerdings in eher negativer Hinsicht. Muss das immer sein? Ist das die Angst vor zu viel Kitsch?

Entdeckt habe ich das Buch bei Mara von buzzaldrins Bücher, die es jedoch um einiges euphorischer besprochen hat als ich.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Flynn„Marriage can be a real killer“
Es ist ihr fünfter Hochzeitstag – und es könnte aufgrund der Probleme, die es in ihrer Ehe gibt, der letzte sein. Oder auch aufgrund der Tatsache, dass Nicks junge Frau Amy spurlos verschwunden ist. Am Morgen war sie noch da, wenige Stunden später ist das Haus teilweise verwüstet und die Polizei findet weggewaschene Blutspuren. Wurde Amy entführt? Ist sie einem der herumlungernden Landstreicher zum Opfer gefallen? Oder hat gar Nick sie ermordet, weil er ihrer überdrüssig war? Der Verdacht fällt wie meistens auf den Ehemann, der sich nicht gerade geschickt dabei anstellt, sich von ebendiesem Verdacht reinzuwaschen – im Gegenteil. Nick hat offenbar Dreck am Stecken, und Amys Tagebuch weist ihn als einen Mann aus, vor dem sie sich zunehmend gefürchtet hat. Die Frage ist nur: Wer sagt überhaupt die Wahrheit? Bekommt Nick seinen Kopf wieder aus der Schlinge – oder gehört dieser genau da hin?

Gone Girl von Gillian Flynn war ein Überraschungserfolg und ein New-York-Times-Number-One-Bestseller, mit dem ich einen Ausflug ins sonst von mir eher missachtete Thriller-Genre gemacht habe. Die Kritiken sind sehr gut, und das Buch versprach ein wenig Ablenkung von der schweren Kost, die ich mir sonst oft zu Gemüte führe. Dieses Versprechen hat es auch gehalten: Gillian Flynn hat eine rasante, spannende Geschichte geschrieben, die schnell jene berühmte Sogwirkung entwickelt, die man sich von einem Thriller wünscht. Besonders während der ersten Hälfte kann ich den Roman kaum aus der Hand legen. Nick erzählt in der Ich-Form von seiner Sicht der Dinge, gibt dabei aber mehr als einmal zu, gerade gelogen zu haben, und Amys Stimme erklingt aus einem Tagebuch, das weiter in die Vergangenheit geht und auch das erste Kennenlernen der beiden dokumentiert. Schnell ist klar, dass beide ihr perfides Spiel mit mir treiben, dass sie nicht ehrlich sind und versuchen, jeweils selbst besser dazustehen, als sie es sind.

Die große Wendung des Buchs hat für mich nicht jenen überraschenden Knalleffekt, den sie mit Sicherheit bringen soll, denn ich habe damit gerechnet – sie schien mir das einzig Logische. Dennoch wird es im zweiten Teil des Thrillers noch einmal interessant, die Karten werden neu gemischt und die Suche nach Amy oder ihrer Leiche erhält einen ganz anderen Charakter. Nick und Amy sind – jeder auf seine Weise – unliebsame Zeitgenossen, ich weiß gar nicht, mit wem ich sympathisieren soll, und ob ich überhaupt einen von ihnen mag. Das gefällt mir, genauso wie die fein ausgeklügelte Hintergrundgeschichte rund um eine vermeintlich romantische Schnitzeljagd, Verrat, Lügengeschichten und die Frage, mit wem man sich eigentlich einlässt, wenn man jemanden heiratet. Zwar ist mir das Buch inhaltlich gegen Ende hin ein wenig zu vertrackt und ich vermisse die Glaubwürdigkeit immer mehr, aber trotz mancher Schwachstellen ist Gone Girl ein gut zu lesender, origineller Thriller, der Genre-Fans bestimmt begeistert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
hm, ja, wieso nicht.
… fürs Hirn: suspense, of course. Mitdenken ist gefragt und das Rätselraten rund um Amys Verschwinden macht natürlich Spaß.
… fürs Herz: uh. Rabenschwarz ist die Liebe der beiden.
… fürs Gedächtnis: wie schön befreiend es ist, zwischendurch ein bisschen halbseidene Spannungsliteratur zu lesen.